warnt sie den anscheinend ahnungslosen Fremden, er solle schnell davonreiten. Sie habe «gehört und gesehen», wie viele hier schon Leib und Leben verloren. Als der Fremde dann die geheimnisvolle Burg erwähnt, von der er gerade aufgebrochen sei, will sie ihm zunächst nicht glauben. Denn diese Burg sei kein gewöhnliches Bauwerk und stehe inmitten eines dreißig Meilen umfassenden Niemandslandes. Wer sie mit Absicht («flîzeclîche») suche, habe keine Chance, sie zu finden. «‹Wer immer diese Burg sehen soll, es muss unwissentlich geschehen (ez muoz unwizzende geschehen, swer immer sol die burc gesehen).›» Ohne zunächst den Worten des Fremden Vertrauen zu schenken, erzählt sie dann von Munsalvaesche, und Parzival hört zum ersten Mal die Namen Frimutel, Anfortas und Trevrizent.
Erst als er wiederholt beteuert, diese «großartigen Wunder» gesehen zu haben («‹grœzlîch wunder ich dâ sach›»), erkennt sie ihn an seiner Stimme – und in diesem Augenblick glaubt sie ihm auch: «‹Du bist Parzival! Nun sage, sahst du den Gral und den freudelosen Herrn (unt den wirt freuden lære)?›» Als Parzival erstaunt fragt, woran sie ihn erkannt habe, offenbart auch sie sich. «‹Ich bin doch das Mädchen, das dir einst sein Leid geklagt hat …›» Sie erinnert ihn an ihre verwandtschaftliche Beziehung und erzählt von ihrem Leben mit dem Toten. Daran nun erkennt auch er sie wieder: «‹O weh, wo ist dein roter Mund geblieben? Bist du es, Sigune, die mir damals so ehrlich kundtat, wer ich bin? Bloß ist dein Haupt geworden von deinem lockigen, langen braunen Haar. Damals sah ich dich im Forst von Brizljân noch so minniglich, obwohl du voll Kummer warst. Farbe und Kraft hast du verloren.›»
Nicht mehr vor einem Felsen sitzt Sigune, sondern auf einer Linde («ûf einer linden»), immer noch den Leichnam ihres Geliebten im Arm. Wenn wir dieses seltsame Bild äußerlich realistisch auffassen, ergibt sich eine geradezu abstruse Vorstellung. Wie kommt die Dame mit dem einbalsamierten Ritter auf die Linde? Dieser anscheinend schwerelose Zustand muss zudem mit einer erstaunlichen Balsamierungskunst einhergehen und der Körper praktisch unverweslich sein, während Sigune sich seit ihrer letzten Begegnung derart verändert hat, dass Parzival sie nicht wiedererkennt. An solchen Stellen kann deutlich werden, in welchem Unsinn man sich verfängt, wenn man die Bilder, die Wolfram vor uns hinstellt, an gegenständlichen Tatsachen festmachen will.
Die Linde galt früher als heiliger Baum. Bei den Germanen war sie der Baum des sozialen Friedens, als Gegenstück zur männlichen Eiche war sie weiblich und der Göttin Freya gewidmet, der mütterlichen Beschützerin des Lebens und der Liebe. Unter ihrem Schutz fand auch die Thing-Versammlung, die Gerichtssitzung statt, die so vor Ungerechtigkeit bewahrt sein sollte und deren Urteile «gelinde» ausfallen sollten. Nach der Christianisierung wurde die Linde zum «Baum Marias» und war weiterhin als Dorflinde Ort der Begegnung und der sozialen Gemeinschaft. Im Bild der Jungfrau mit dem Leichnam in der Lindenkrone erscheint uns Sigune hervorgehoben und erhöht in ihrer Liebe und ihrer Treue zu dem Toten, als Kraft der geistigen Verbindlichkeit der Seele schlechthin. Die Begegnung findet zudem in einem Gebiet statt, das immer noch zum Wirkensbereich von Munsalvaesche gehört, in Terre de Salvaesche, noch im Waldschatten «nass von Tau». Alles dies deutet darauf hin, dass Wolfram hier keine gewöhnliche Sinneswahrnehmung beschreibt, als welche man die erste Begegnung – vor dem Felsen – noch deuten konnte, sondern eine solche imaginativ-sinnbildhafter Art, die von der Seele erlebt werden kann, wenn sie in die äußere Sinneswelt eintaucht und ihre nächtlichen Erfahrungen sich im Bereich lebendiger Bildekräfte widerspiegeln.
In der Annahme, Parzival habe dem Gralskönig die erlösende Frage gestellt, erzählt Sigune ihm von dem Geheimnis des Gralsschwertes, das er in Munsalvaesche als Geschenk erhalten hat.11 Als er aber gesteht, nicht gefragt zu haben, geht eine furchtbare Verwandlung in ihr vor. Schlagartig distanziert sie sich von ihm und beginnt ihn wieder zu siezen. «‹O weh, was wollt Ihr denn nun bei mir? Verunehrtes Leben, verfluchter Mann! Ihr truget des Giftwolfes Zahn, da die Galle in Eurer Treue so jung schon Wurzel fasste (ir truogt den eiterwolves zan, dâ diu galle in der triuwe an iu bekleip sô niuwe)! Ihr hättet Erbarmen mit Eurem Wirt haben sollen, an dem Gott ein Wunder getan hat, und hättet nach seiner Not fragen sollen! Ihr lebt und seid an Glücke tot (ir lebt, und sît an sælden tôt)!›» Ihr Entsetzen wird umso verständlicher, wenn man bedenkt, dass sie ja weiß: sie beide sind die einzigen Nachfolger der Gralsfamilie. Und jetzt hat Parzival dieses Erbe vertan. Da sprach er: «‹Meine liebe Verwandte, zeige mir doch mehr Wohlwollen (bezzeren willen)! Ich büße (ich wandel), wenn ich etwas getan habe.› ‹Ihr braucht nicht zu büßen!› sagte die Magd. ‹Ich weiß sehr wohl, zu Munsalvaesche verschwand Eure Ehre und Euer ritterliches Ansehen (prîs)! Fortan werdet Ihr auf keine Weise mehr irgend eine Antwort von mir erhalten.›» Parzival hat sich des Grales für unwürdig erwiesen, auch seine Berufung auf die Familienbande nützt ihm nichts mehr. Sigune kündigt ihm ihre familiäre Bindung auf, entzieht sich ihm, verstummt.
Mit Schimpf und Schande wird Parzival aus dem Gralsgebiet gejagt und jetzt sogar aus der Familie verstoßen. Zum ersten Mal hören wir, dass ihm der Schweiß ausbricht – nicht nur wegen der Hitze. «Dass er im Fragen so lässig war damals, als er bei dem traurigen Wirte saß, das reute gewaltig den kampfstarken Helden. Wegen der Klage und weil der Tag so heiß war, begann der Schweiß ihn zu netzen. Um Luft zu schöpfen löste er den Helm und trug ihn in der Hand.» Wir kennen das Gefühl, wenn die Stimme des Gewissens so laut und heftig wird, dass uns heiß wird und wir zu schwitzen beginnen. Schon bei der ersten Begegnung wurde Parzival durch diese Stimme auf sich selbst verwiesen, wurde er ein Stück weit mit sich selbst bekannt, indem er seinen wahren Namen erfuhr und einen Teil seines eigenen Schicksals, das mit Schuld beladen ist. Inzwischen hat sich sein Schuldenkonto noch erheblich vergrößert. Er hat einen Menschen – den Roten Ritter – ermordet, und bei seinem Besuch auf der Gralsburg hat er alle Hoffnungen enttäuscht, die auf ihn gesetzt waren. Er hat aber auch eine ritterliche Seelenbildung erfahren, die ihn instand setzt, sein eigenes Tun selbstkritisch in den Blick zu nehmen. So sieht er jetzt im Bilde von Sigune und Schionatulander nicht mehr nur ein fremdes Schicksal, mit dem er eine entfernte Verwandtschaft ahnt, sondern er vernimmt darin auch die Stimme des Gewissens, die ihm aus einer größeren Tiefe heraufsteigt, als er es bisher gekannt hat. Als er im Folgenden dann Jeschute wiederbegegnet, bietet sich ihm zum ersten Mal die Möglichkeit, seine Schuld wiedergutzumachen.12
Das Gewissen hält uns zur stetigen Überprüfung unseres Lebensweges an, fordert uns zur Korrektur auf, verfolgt als «Hüter der Fährte» treu die Spur unseres Lebens und Denkens. «Gewissenhaft» nennen wir deshalb einen Menschen, der in jedem Augenblick das eigene Tun beobachtet und prüft, gegebenenfalls auch zur Korrektur bereit ist, aber auch dem als richtig und wahr Erkannten treu bleibt. Ohne diese Gewissenhaftigkeit im Denken und die Treue zur Wahrheit ist auch eine fortschreitende Entwicklung zu tieferen Einsichten nicht möglich.
Wir erkennen im Bilde Sigunes und Schionatulanders gerade jene Verbindlichkeit, die das Gewissen ausmacht, mehr noch: In diesem Bild tritt uns die Wesenheit des Gewissens selbst entgegen. Indem Sigune zu ihrer Schuld steht und als Konsequenz daraus die Treue zum Geliebten über den Tod hinaus aufrechterhält, baut sie eine Brücke zur geistigen Wirklichkeit des Grals. In tiefer Frömmigkeit kann die Seele im Innern seine Wirkung erfahren.
Das zeigt sich besonders in der dritten Begegnung mit Parzival.13 Es ist Karfreitag. Sigune hat sich nun ganz aus der äußeren Welt in die tiefe Waldeinsamkeit zurückgezogen. Den Leib ihres Geliebten hat sie in der Klause bestattet, und alles deutet darauf hin, dass auch sie sich aus der Welt verabschiedet: Sie hat allem Wünschen und Begehren, allem auf die äußere Welt bezogenen Lebenswillen entsagt. Der Rückzug aus der Sinneswelt ist aber gleichbedeutend mit einem Zugewinn an geistigem Leben: Die Hütte, die sie von der Welt abschließt, ist auf eine lebendige Quelle gebaut – wir befinden uns im Gebiet der Fontane la Salvatsche, der wilden Quelle des Heils.14 Gralsnähe ist spürbar. Die Gralsbotin Kundrie bringt Sigune immer in der Nacht zum Sonntag die Gralsspeise, die sie am Leben hält. Wir werden hier an jenen wundersamen Vorgang erinnert, den Robert de Boron als den Ursprung der Gralsströmung in seiner Gralserzählung beschreibt: wie Joseph von Arimathia in seinem Verlies allein durch die geistige Kraft des Grals – der Abendmahlsschale mit dem Blut Christi – am Leben erhalten wird.15
Sigune ist zwar somit auch «Gralsträgerin», aber die Kräfte des Grals fließen ihr nicht im Licht bewusster Erkenntnis zu, sondern in der Nacht,