ein Thema anzusprechen, zu dem man sonst nur schwer einen Zugang finden wird. Denn die Scham erfreut sich gewöhnlich keiner großen Beliebtheit, scheint sie doch im täglichen Leben ebenso lästig wie unangenehm zu sein, eher sogar ein Zeichen von Unsicherheit und Schwäche. Wer sich schämt, wer errötet oder sonstwie verlegen wirkt, wird belächelt. Das Schamgefühl wird zunehmend als seelische Behinderung angesehen, die den Menschen in seiner freien Entfaltung einzuengen scheint. In der Tat lässt es ihn zutiefst sein eigenes Ungenügen spüren – dadurch wird es aber zugleich auch zum Motor der Veränderung, Wandlung und Entwicklung. Das Schamgefühl rührt sich nämlich stets dann, wenn der gegenwärtige Zustand mit dem idealen Bild kontrastiert, das der Mensch von sich entwirft. Das kann auch im übertragenen Sinne geschehen, indem man das Verhalten einer ganzen Gesellschaft als beschämend empfindet, wenn entwürdigende Verhältnisse herrschen, eine menschenverachtende Weltanschauung propagiert wird oder der öffentliche Diskurs verwahrlost. Jugendliche haben oft ein sehr differenziertes Empfinden von solchen Seelenstimmungen, können sie aber meist nicht artikulieren. Sie fühlen sich bestätigt und seelisch gestärkt, wenn sie aus gegebenem Anlass frei darüber sprechen können.
Die Fähigkeit, sich schämen zu können, kündet von unserem Menschsein. Deshalb sagt Gurnemanz: «‹Ein Leib, der sich nicht schämt, was taugt der noch? … Er verliert seine Würde (werdekeit) und wird zur Hölle gewiesen.›» Die Erfahrung des eigenen Ungenügens macht aber auch bescheiden und bewirkt Verständnis für das Unglück anderer Menschen, für die Erniedrigten und Beleidigten, die in beschämenden Verhältnissen leben. So lässt Gurnemanz die Hilfsbereitschaft daraus folgen. «‹Wehrt dem Kummer mit Milde und mit Güte: bemüht Euch dem Menschen zu dienen (vlîzet iuch diemüete). Denn ein edler Mann in Not ringt mit seiner Scham (der kumberhafte werde man wol mit schame ringen kann).›» Das wiederum erfordert das rechte Maß im Handeln («‹gebt rechter mâze ir orden›»): Weder solle man seine Habe verschleudern noch geizig Schätze anhäufen.
Das rechte Maß gelte es aber auch in der Rede zu halten: «‹Ihr sollt nicht viel fragen (irn sult niht vil gevrâgen)›», was vielleicht in dem Sinne gemeint ist wie «Ihr sollt die viele neugierige Fragerei lassen». Es bedarf der Geduld, um zu erfahren, was der andere mitteilen will. Aber mit der wohlbedachten Antwort, die auf die Frage des anderen eingeht, solle man nicht zögerlich sein. Dies wiederum setzt voraus, dass man aufmerksam ist, Augen und Ohren öffnet und die betreffende Situation genau beobachtet. «‹Ihr könnt hören und sehen, schmecken und riechen – das sollte Euch zu Verstand bringen (daz solt iuch witzen næhen).›»
Umsicht, Verstand und Augenmaß sind schließlich auch im Kampf angesagt: «‹Lasst bei aller Kühnheit auch das Mitleid zu (lât derbärme bî der vrävel sîn).›» Wenn einer im Kampf Sicherheit biete, so solle man das Angebot annehmen und ihn heil davonkommen lassen – es sei denn, er habe einem solches Leid zugefügt, dass das Herz zutiefst verwundet ist («‹ern hab iu sölhiu leit getân diu herzen kumber wesn›»).
Schließlich muss auch der Kampf selbst einen richtigen Stellenwert im Leben des Ritters einnehmen. Die Rüstung repräsentiert nur einen Teil des ritterlichen Lebens, ja sogar einen untergeordneten, der dem Leben am Hofe dienstbar ist. Deshalb müsse man sich den Eisenrost sorgfältig abwaschen, rät der Burgherr. «‹Dann nämlich seht ihr wieder liebenswürdig (minneclîch) aus. Das nehmen die Augen der Frauen wahr.›» «‹Seid männlich und habt guten Mut›» – das ist die eine Seite. «‹Und lasst Euch die Frauen lieb sein›» – das ist die andere Seite des Ritters. Hieran schließt Gurnemanz eine Lobpreisung von Aufrichtigkeit und Treue zwischen Liebenden. Die edle Minne sei achtsam gegen Lüge und Hinterlist. Wer ihre Missgunst erwirke, der werde entehrt «‹und immer die Qualen der Schande leiden (und immer dulten schemeden pîn)›».
«Schande» und «Scham» haben auch im Neuhochdeutschen denselben Wortstamm. Gurnemanz hat seinen Schüler damit, ausgehend von der Scham, durch den ganzen Kreis der ritterlichen Tugenden bis in die Gefilde der hohen Minne geführt, ohne in öde Aufzählung und starre Systematik zu verfallen – und mit der Schande einer unaufrichtigen Liebe kehrt er zur Scham zurück. Als Krönung seiner Rede stellt er schließlich die Beziehung von Mann und Frau in eine umfassende kosmische Ordnung: Beide gehören zusammen, ja sie bilden ein Ganzes, wie die Sonne und der Tag. «‹Das eine kann sich vom anderen nicht scheiden, sie blühen aus demselben Kern (si blüent ûz eime kerne gar).›»
Zeitbildung und Individualität
Will man sich hier in Parzivals innere Verfassung versetzen, so muss man sich auf sein besonderes Schicksal besinnen. Es war ihm verwehrt, als Kind in die Bildung seiner Zeit, in die Gesellschaft und das Rittertum hineinzuwachsen, weil ihm die väterliche Seite der Erziehung fehlte. So muss er sich die Begriffe und Regeln der ritterlichen Welt jetzt auf einer späteren, schon bewussteren Entwicklungsstufe aneignen. Gurnemanz übernimmt dabei die Vaterrolle. Aber wenn auch dessen Fürsorge so ist, «wie sie ein getreuer Vater an seinen Kindern nicht besser hätte erweisen können»,5 so fehlt doch die persönliche innere Beziehung zu diesem «Ersatzvater».
Während der gesamten Darstellung des Lehrers hat Parzival schweigend zugehört. Nicht nur hat er, wie von ihm verlangt, von seiner Mutter geschwiegen und das Fragen unterlassen, er hat überhaupt kein Wort gesagt, sondern alles völlig kommentarlos über sich ergehen lassen. Am Schluss verbeugt er sich artig vor seinem Wirt als Dank für die Belehrung – man möchte sich fast wundern, dass der Schüler bei diesem Verfahren nicht eingeschlafen ist. Zu keiner Zeit bekommt die Unterweisung den Charakter eines Gesprächs. Hinzu kommt, dass der Lehrer den Schüler niemals beim Namen nennt, ja er interessiert sich anscheinend überhaupt nicht für die eigentlichen individuellen Merkmale seines Zuhörers. Er richtet seine Rede nicht an einen konkreten Menschen namens Parzival, sondern an die «hohe Art» und den «großen Herrn», dessen Herrschergeblüt er ahnt: «‹Ihr mögt wohl ein hoher Gefolgsherr sein. Da Ihr eine hohe Art habt und sie sich erhöhen soll, so bewahrt dies in Eurem Willen (ir mugt wol volkes hêrre sîn. ist hôch und hœht sich iwer art, lât iweren willen des bewart).›» –
Aber nicht nur, dass Gurnemanz an der Individualität seines Zuhörers vorbeiredet, er verweist auch nirgendwo auf den Grund der Dinge. An keiner Stelle seiner kunstvoll entwickelten Darstellung bietet er Parzival einen tieferen geistigen oder religiösen Begründungszusammenhang an. Entweder er bleibt bei bloßen Forderungen («Ihr sollt nicht viel fragen») oder er erklärt das tugendhafte Verhalten aus bloßen Nützlichkeits- oder Höflichkeitserwägungen heraus («So naht Euch Gottes Gruß» oder «Das nehmen die Augen der Frauen wahr»). Natürlich muss man das geringe Alter des Schülers berücksichtigen, denn Parzival ist noch «ohne Bart».6 Aber die Unterweisungen sind ja auch größtenteils keine Bilder, wie sie die Mutter gab, sondern an den Verstand gerichtete Gebote und Regeln, und die zu hinterfragen wäre er altersgemäß durchaus in der Lage. Zudem fällt auf, dass Gurnemanz nicht nur von «zu viel Fragen» abrät, er rechnet während seines ganzen «Vortrags» überhaupt nicht mit Äußerungen seines Zuhörers. So ist es fraglich, ob und inwieweit Parzival durch diese Art der «Bildung» überhaupt in seinem inneren Wesen gefördert wird – oder ob er sich diese ganze Tugendordnung nicht lediglich äußerlich überstreift, vergleichbar der Rüstung des Roten Ritters, die er sich überstülpte, ohne sie innerlich erfüllen zu können. Auf einer nunmehr intellektuellen Stufe ist Parzival im Grunde in einer ähnlichen Verfassung wie zuvor, als er die bildhaften Ratschläge seiner Mutter nur wortwörtlich aufnahm und beherzigte. Kein Wunder, dass er den Rat, nicht viel zu fragen, als absolut gültige Verhaltensregel und Handlungsanweisung auffasst, die ihm später die konkrete Situation auf der Gralsburg verstellt.
Auf die starken Gemütskräfte, die der Knabe aus der Soltane in die Welt getragen hat, setzen jetzt die Verstandeskräfte auf, aber die beiden wirken nicht so selbstverständlich zusammen, wie wenn sie sich gemeinsam entwickelt hätten. Es versteht sich, dass Parzival aufgrund seines besonderen Schicksals nicht wie seine Zeitgenossen die beiden Seelenkräfte instinktiv und gewohnheitsmäßig verbinden wird. Seine Erziehung begünstigt, ja fordert geradezu eine innere Auseinandersetzung mit dieser ungewöhnlichen Seelenkonfiguration, wobei das Zusammenwirken der Seelenkräfte bewusst bewerkstelligt werden muss.