Wenn wir uns bei der Berechnung der Termine dieser Feste streng nach den astronomischen Ereignissen richten, ändert sich das Datum jedes Jahr. Die Sonnenfeste bewegen sich um die oben genannten Daten herum, die anderen Feste werden oft als Mondfeste bezeichnet, und dementsprechend kann man sich für die Terminbestimmung nach den Mondphasen richten: Samhain wird dann Ende Oktober/Anfang November zum Schwarzmond gefeiert, Imbolc bei zunehmendem Mond Ende Januar/Anfang Februar, Beltane zum Vollmond Ende April/Anfang Mai und Lammas bei abnehmendem Mond Ende Juli/Anfang August. Mir persönlich kommt das etwas arg konstruiert vor, und ich kenne keine historischen Belege dafür, dass vorchristliche Gesellschaften sich für die Terminierung tatsächlich so streng an die Mondphase gehalten haben. Das heißt aber nicht, dass wir heute nicht die Freiheit haben, die Termine so zu legen. Viele befreundete Heiden berichten mir, dass sie die Energien des spezifischen Archetyps zu der jeweiligen Mondphase am stärksten erleben. Es gibt allerdings gute Gründe dafür, die Feste an den fixen Kalenderdaten zu feiern: zum Beispiel Vereinfachung und Wiederholung sowie bessere Planbarkeit, wenn die Feste jedes Jahr auf dasselbe Datum fallen, oder auch die Tatsache, dass man sich die gesetzlichen Feiertage am 1. Mai und je nach Region 31.10. (protestantische Bundesländer) oder 1. November (katholische Bundesländer) zunutze machen kann. Der Einfachheit halber verwende ich in diesem Buch die fixen Kalenderdaten eines Festes. In der Praxis muss aber jeder für sich selbst herausfinden, welche Termine sich persönlich richtig anfühlen.
Da sich die Göttin im Jahresrad unablässig wandelt, ist die Energie einer archetypischen Göttin nicht nur an ihrem Festtag spürbar, sondern über ihre gesamte Zeit. Jede Göttin hat im Jahresrad ihre eigene Phase, die – grob gesagt – um die sechs Wochen dauert. Einige Wochen vor und nach Samhain spüren wir die Greisin; dann dreht sich das Rad weiter, und die Energie wandelt sich. Einige Tage oder Wochen vor der Wintersonnenwende fühlt es sich nicht mehr nach der Greisin an, und wir wissen: Die Mutter der Luft ist da.
Im Zentrum, in der Nabe des Rades, befindet sich die Große Göttin, die alle Archetypen umfasst und enthält; sie ist alle zugleich und noch viel mehr.
Jeder Radspeiche sind verschiedene Göttinnen zugeordnet, die auf diesem deutschen Göttinnenrad die entsprechende archetypische Energie halten. Über manche dieser Göttinnen ist recht wenig bekannt, von anderen sehr viel überliefert. Bei einigen zeigt sich, dass sie in einem anderen geographischen Raum im Zentrum stehen würden. So wäre z.B. Freya auf einem skandinavischen Göttinnenrad in der Mitte zu finden; auf dem deutschen Göttinnenrad hält sie, gemeinsam mit anderen Göttinnen, die Energie der Liebenden. Jeder archetypischen Göttin ist in diesem Buch ein Kapitel gewidmet. Dabei beginne ich, dem keltischen Weltbild gemäß – dass alles mit der Dunkelheit beginnt – mit der Greisin zu Samhain.
Die acht archetypischen Göttinnen sind:
Matrona – Greisin
Perchta – Mutter der Luft
Idun – Mädchengöttin
Ostara – Mutter des Feuers
Loreley – Liebende
Ran – Mutter des Wassers
Caiva – Muttergöttin
Gefionn – Mutter der Erde
Die Große Göttin im Zentrum hier in Deutschland ist Holle, der ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Jedem Archetypus ist eine Himmelsrichtung zugeordnet sowie verschiedene Farben, Tiere, Symbole und andere Entsprechungen, die ich in den einzelnen Kapiteln ausführlich erläutere. Einen ersten Eindruck verschafft die folgende Graphik:
Das Rad der Göttin
Bei der Zuordnung der Himmelsrichtungen zu den Elementen weist das Göttinnenrad Gemeinsamkeiten unter anderem mit dem Medizinrad der nordamerikanischen Indianer auf, unterscheidet sich aber von anderen Jahresrädern, die etwa aus dem Wicca oder Reclaiming bekannt sind. Die Luft befindet sich im Norden, das Feuer im Osten, das Wasser im Süden und die Erde im Westen. Dies ist kein Zufall. In den zahlreichen überlieferten Geschichten über Holle findet sich immer wieder, dass der Übergang von der »Liebenden« zur »Mutter« durch Wasser stattfindet: Holle hütet die ungeborenen Seelen am Grunde ihres Sees, Frauen, die schwanger werden wollen, tauchen zu bestimmten Zeiten in ihre Gewässer ein und so weiter. Das Wasser befindet sich also zwischen Beltane und Lammas. Dadurch sind auch die Positionen der anderen Elemente klar, denn in Übereinstimmung mit der Energie, die im Göttinnenrad im Uhrzeigersinn fließt, sind die Elemente so angeordnet, dass sie an Dichte zunehmen. Auf diese Weise können wir die Göttinnenenergie schöpferisch nutzen. Wir öffnen das Rad, das heißt, wir laden die Göttinnen des Jahresrades mit dem Uhrzeigersinn ein, wenn wir etwas erschaffen, aufbauen, manifestieren wollen. Auch wenn wir das Rad schließen, verabschieden wir uns in dieser Richtung von den Göttinnen, um weiterhin im Einklang mit der Energie in der Welt zu schwingen. Allerdings können wir gegen den Uhrzeigersinn mit den Göttinnen arbeiten, wenn wir etwas auflösen oder bannen wollen.
Es lohnt sich auch, einen Blick auf die Beziehungen der Göttinnen zu richten, die sich auf dem Jahresrad gegenüberliegen: Mädchen und Mutter, Liebende und Greisin. Diese ergänzen sich oft, beeinflussen sich gegenseitig oder können auch als Aspekte voneinander erfahren werden, die man gar nicht von einander trennen kann.
Viel Spaß beim Einlassen und Erfahren!
DIE GREISIN
Wenn die Tage kürzer und dunkler werden und die Natur sich zurückzieht, nimmt die Göttin ihre Gestalt als Greisin an. Ihr Fest ist Samhain, der Winteranfang im Jahreskreis. Bei den Kelten nehmen die Dinge in der Dunkelheit ihren Anfang: der Tag beginnt mit dem Abend, das Jahr mit dem Winter und das Leben mit dem Tod. Daher beginnt die Priesterinnenausbildung jährlich in der Zeit von Samhain, und entsprechend beginne ich auch die Beschreibung des Göttinnenrades mit der Göttin in ihrem Greisin-Aspekt zu Samhain.
Die Göttin in der Gestalt der Greisin hat auf dem Jahresrad mehrere Namen: sie ist Matrona, die Verwandlerin, im Nordwesten. Sie wandelt sich von der Greisin zum Mädchen zur Mutter zur Greisin – ohne Unterlass. Sie verkörpert die Spirale des Lebens, das zyklische Weltbild der Göttin: Alles was stirbt, wird aus ihrem Schoß wiedergeboren. Sie ist Hel, die Göttin der Unterwelt, Todesgöttin und Königin des Schattenreiches unserer Seelen. Sie ist Baba Yaga, die Initiatorin, Aufgabenstellerin und Schenkerin von Gaben, deren Herausforderungen uns zu unserer wahren Kraft führen.
Da der Tag mit der Nacht beginnt,5 beginnt das Fest Samhain mit der Abenddämmerung des 31. Oktobers und endet am Abend des 1. November.