mit zwanzig anderen, doch das war Luxus verglichen mit allem, was er seit seiner Flucht von daheim erlebt hatte. Es gab immerhin drei Mahlzeiten am Tag und man konnte zum Arzt, wenn man krank war. Er musste weder Folter noch Tod fürchten.
Nach einigen Tagen wurde Berhane zur Polizei beordert, um seine Fingerabdrücke abzugeben und offiziell auszusagen, dass er in Italien Asyl beantragen wollte. Der Dolmetscher erklärte ihm, dass er nun auf einen offiziellen Interviewtermin warten musste. Er bekam eine Bestätigung über eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung in Italien, die ihn vor Polizeikontrollen schützte. Arbeiten dürfe er aber nicht, sagte man ihm.
Dann begann das lange Warten. Schlafen, essen, spazieren gehen, warten, schlafen, ein paar Stunden Schwarzarbeit, warten. Berhane sparte so lange, bis er sich ein gebrauchtes Smartphone kaufen konnte. Über Facebook und WhatsApp war er wenigstens in Kontakt mit Freunden auf der ganzen Welt und vertrieb sich so viele Stunden.
Er versuchte auch, Italienisch zu lernen, aber das ging schleppend voran. Im Heim gab es keine Sprachkurse. Anders als viele seiner Landsleute hatte er in der Schule ein wenig Englisch gelernt und konnte die lateinische Schrift zumindest lesen. Nach und nach schnappte er ein paar Redewendungen auf und nutzte sie, um sich stundenweise Hilfsarbeiten auf Baustellen oder Märkten zu besorgen. Illegal arbeitende Afrikaner wurden ganz schlecht bezahlt und manchmal auch um den ganzen Lohn betrogen. Aber was konnten sie schon dagegen tun? Etwa zur Polizei laufen und dann selbst bestraft werden?
Als der Winter kam, mussten viele junge Männer das Heim räumen, um Familien mit Kindern Platz zu machen. Berhane kam mit einer Gruppe alleinstehender Männer in einem Dorfpfarrhof weit außerhalb der Stadt unter. Sie waren dankbar dafür, denn viele andere waren auf der Straße. Doch in dem Dorf gab es keine Möglichkeit zur Schwarzarbeit, keine Abwechslung, kein WLAN im Pfarrhof. Zäh floss ein Tag in den anderen. Wenn Berhane vor Aussichtslosigkeit und Langeweile verzweifeln wollte, dachte er an Libyen. Hier ging es ihm immerhin besser.
Nach fast einem Jahr hatte er das erste Asylinterview. Er schilderte seinen Aufbruch, die Lage in Eritrea und alles, was er in Libyen durchgemacht hatte. Doch der Beamte gab sich nicht zufrieden. Immer wieder bohrte er nach, fragte nach kleinsten Details, um Berhane Widersprüche und Lügen nachzuweisen.
Es war ein Fragenbombardement, von dem Berhane der Kopf schwirrte: »Wie viele Menschen waren auf dem Lastwagen?« »Wie lange genau mussten sie auf die Schlepper warten?« »Vorhin haben Sie gesagt eine Woche, jetzt sagen Sie zehn Tage. Was stimmt jetzt?« – »Was war die genaue Adresse der Fischhalle, in der Sie gefangen gehalten wurden? Wieso kennen Sie die nicht?« – »Mit wie vielen Menschen waren Sie in Omdurman untergebracht? Was war das genaue Datum Ihres Aufenthalts dort?« – »Sie behaupten, geschlagen worden zu sein? Welche Verletzungen haben Sie davongetragen?«
Stundenlang wurden ihm immer wieder dieselben Fragen gestellt. Er war am Weinen, als der Beamte endlich von ihm abließ. Berhane hatte physische Folter zu Genüge erfahren. Das hier war auch eine Folter, aber eine, die seine Seele aufwühlte.
Wieder verstrich fast ein Jahr, bis Berhane seinen Asylbescheid erhielt: Antrag abgelehnt! Es war, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Abgelehnt? Seine Rechtsanwältin hatte ihn gewarnt, wollte ihn vorbereiten, aber er hatte gar nicht hingehört. So sicher war er sich seiner Sache gewesen. Er hatte doch gute Gründe gehabt, Eritrea zu verlassen. Jeder wusste, was für eine Militärdiktatur seine Heimat war.
Nach Erhalt des Briefes fiel Berhane in eine tiefe Depression. Wie viele seiner Landsleute begann er Alkohol zu trinken. Seine Rechtsberaterin riet ihm, Berufung einzulegen, und das tat er auch. Wieder hieß es auf den nächsten Interviewtermin warten.
Da saß er nun in diesem herbeigesehnten Europa und fühlte sich nutzlos und verzweifelt. Was hatte er aus seinem Leben gemacht? Wo war dieses Paradies, für das er so viel Leid auf sich genommen hatte. Warum hatte ihn keiner gewarnt? Selbst wenn man ihm von Europa abgeraten hätte, hätte er den Ratschlägen denn Glauben geschenkt? Wohl kaum, er sah die schönen Bilder auf Facebook und dachte, Bilder können nicht lügen. Wer in so einer schönen Umgebung lebt, muss reich und glücklich sein.
Wäre er in Eritrea glücklicher gewesen? Unter seinen eigenen Leuten, mit seiner Familie, in einer Gesellschaft, die er verstand und wo er seinen Platz hatte? Hätte das die Leiden eines jahrelangen Militärdienstes aufgewogen? Wohl auch nicht. Hätte es eine Möglichkeit gegeben, woanders neu anzufangen? Im Sudan oder in Äthiopien zum Beispiel? Auch diese Frage verneinte Berhane in seinem Kopf. Viele seiner Landsleute lebten dort in Armut und Angst vor der Polizei. Und auch dort hätten ihn die schönen Bilder immer verlockt. Was gab es für einen Ausweg? Waren die Eritreer auf ewig verdammt?
Als sein Berufungsverfahren nach vielen, vielen Monaten des Wartens endlich begann, stellte ihm der Beamte gleich zu Beginn des Interviews genau jene Fragen, an denen er seit Monaten langsam zerbrach. Warum hatte er seine Heimat verlassen? Dort hatte er Angst vor der Zukunft in Eritrea gehabt. Jetzt hatte er Angst vor der Zukunft in Europa.
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