Melita H. Šunjić

Die von Europa träumen


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      Es gab antisyrische Demonstrationen, Syrer wurden auf offener Straße beleidigt und bespuckt. Dabei war kein Syrer freiwillig weggegangen, sie waren vor dem Krieg geflüchtet. Eigentlich sollten gerade die Libanesen das nachvollziehen können, dachte Becca. Von den arabischen Brudervölkern hatte sie sich mehr Solidarität erwartet.

      Ganz anders erging es Djamals jüngerem Bruder, der in den Niederlanden Asyl bekommen hatte. »Kommt her, hier wird es euch gut gehen und wir freuen uns, wenn wir euch wieder in der Nähe haben«, sagte er jedes Mal, wenn sie miteinander sprachen. »Hier bekommt man jeden Monat Gehalt, egal ob man arbeitet oder nicht. Auch für die Kinder zahlen sie einem was«, erzählte er. Man konnte angeblich jederzeit zum Arzt, ohne zu zahlen, die Schule war auch gratis. Becca konnte es kaum glauben, wie gut das Leben in den Niederlanden sein musste.

      Als Beccas Mutter schließlich starb, war die Entscheidung schon gefallen. Sie würden dem Schwager in die Niederlande folgen. Sie verkauften Haus und Grund zu einem lächerlich niedrigen Preis und machten sich auf den Weg. Per Bus gelangten sie zur Grenze und durch die Türkei, das war nicht billig, aber es war auch nicht weiter schwierig. Sie mussten nach Behram und dort ein Boot nach Lesbos nehmen. Das hatte Djamal alles auf Facebook herausgefunden und geplant. Damit waren sie auch schon in der EU und konnten um Familienzusammenführung mit dem Bruder ansuchen. Dann würde man sie per Flugzeug nach Amsterdam bringen und die Niederlande würden für alle Kosten aufkommen. Es war ganz leicht.

      Unter diesen drängenden Umständen war die Trauer um die Großmutter kurz. Die Kinder waren sehr aufgeregt und freuten sich auf ihre Cousins und Cousinen, die sie hauptsächlich vom Chatten auf dem Handy kannten. Besonders aufregend fanden sie, dass die Kinder ihres Onkels jeden Tag mit einer richtigen Straßenbahn zur Schule fuhren, und sie sahen sich auf Google Street View alles ganz genau an, um sich auf dem Schulweg nicht zu verlaufen, wenn sie dann dort waren.

      Bis Lesbos ging alles plangemäß. Die Bootsfahrt hatte Becca Angst gemacht, denn an dem Abend war der Wellengang hoch und keiner von ihnen konnte schwimmen, aber schließlich erreichten sie die Insel und gingen überglücklich an Land.

      Als man sie ins Lager Moria brachte, wurde ihnen bewusst, dass sie das Paradies noch nicht erreicht hatten. Das Erste, was sie in der Nacht mitbekamen, war der Gestank nach Urin und Fäkalien. Dann erblickten sie das Lager. Es war heillos überfüllt. Ausgelegt für rund dreitausend Menschen beherbergte es über zehntausend Personen mehr schlecht als recht. Manche wohnten in Containern, manche in Zelten, die auf Paletten aufgesetzt waren, damit sie bei Regen nicht im Schlamm versanken. Einige aber hatten nicht einmal das, sondern lebten unter aufgespannten Planen. Becca und ihre Familie bekamen ein Zelt zugewiesen, das eng zwischen anderen Zelten eingezwängt war.

      Die ersten Tage trösteten sich Djamal und Becca noch damit, dass sie es ja nur für eine Übergangsperiode hier aushalten mussten. Sie stellten sich stundenlang an, um Essen zu bekommen. Zum Klo musste man eine lange Strecke zurücklegen, und wenn sie oder die Kinder in der Nacht hinausmussten, ging Djamal immer mit, denn ihre Zeltnachbarn hatten ihnen erzählt, dass Frauen, aber auch Kinder im Dunklen oft überfallen wurden.

      Sie wollten den Behörden ihre Situation erklären und ihnen sagen, dass der Schwager schon auf sie wartete und sie aufnehmen wollte, doch so weit kam es nie. Sie mussten auf einen Termin warten, hieß es. Andere Syrer erzählten ihnen, dass sie sich schon seit fast einem Jahr vergeblich um einen Termin bemühten.

      Im Lager gab es manchmal Strom, dann wieder nicht. Man wusch sich aus einem Schlauch auf dem Boden mit kaltem Wasser und so musste Becca auch die Wäsche waschen. Zum Trocknen spannte sie sie über Büsche oder über das Zelt und dachte in solchen Momenten mit Wehmut an ihre Waschmaschine zurück.

      Im Lager herrschten große Spannungen. Die Bewohner waren frustriert und aggressiv, immer wieder gerieten einzelne Menschen oder ganze Gruppen aneinander. Afghanen gegen Iraker, Afrikaner gegen Syrer. Einmal wurde ein junger Mann direkt vor ihrem Zelt niedergestochen. Becca war froh, dass das in der Nacht geschehen war und ihre Söhne es nicht mitbekommen hatten.

      Moria war die Hölle. Becca hatte ständig Angst um sich und ihre Familie. Besonders schlimm war es, als mehrere Kinder im Lager an Gehirnhautentzündung starben. Da wollte Djamal seine Söhne wegen der Ansteckungsgefahr überhaupt nicht mehr aus dem Zelt lassen. Doch die waren nun einmal Kinder und wollten nicht eingesperrt sein. Djamal hatte in seiner Verzweiflung auf die Kinder eingeschlagen und auch Becca erstmals eine Ohrfeige verpasst, als sie die Lage beruhigen wollte. Dabei war er doch sonst ein friedlicher Mann. Was hatte Moria nur aus ihm gemacht!

      Als die Nächte im Herbst kühler wurden, froren sie in ihrem dünnen Zelt. In einem Bereich des Lagers hatten Flüchtlinge ein Feuer gemacht, um ihre Kinder zu wärmen, und damit einen Brand ausgelöst, der in dem engen Lager viele weitere Zelte erfasste. Die meisten kamen mit leichten Verbrennungen und Rauchgasvergiftungen davon, aber es gab auch Todesopfer.

      Als beide Kinder einmal Fieber bekamen, war es gar nicht leicht, in der überrannten Lagerklinik zu einem Arzt durchzudringen. Glücklicherweise war es nur eine leichte Bronchitis und bald vorbei. Schlimmer erging es ihrer Nachbarin, die eine Fehlgeburt erlitten hatte und fast verblutete, während vier Männer sie auf einer Decke im Laufschritt zur Klinik trugen. Becca schauderte, wenn sie an die Lage auf Lesbos zurückdachte.

      Eines Tages hieß es, ein Teil der Bewohner würde bald aufs Festland gebracht, in ein anderes Lager. Beccas Familie stand auch auf der Liste. Alhamdulillah!

      Wieder diente das Handy als Informationsquelle. Djamal fand heraus, dass man von Griechenland entweder über den Kosovo oder über Albanien weiterreisen konnte. Albanien war die familienfreundlichere Route, entnahm er den Erfahrungsberichten derer, die schon vor ihnen diese Reise gemacht hatten. In Griechenland würden sie auf keinen Fall bleiben, noch ein paar Monate in so einem Lager würde er nicht aushalten, sagte Djamal, und Becca stimmte ihm zu.

      Als sie in Athen ankamen, setzten sie sich von der Gruppe ab und fuhren mit Bussen Richtung Nordwesten. Für das letzte Stück nahmen sie eines der Taxis, die in Ioannina schon auf die Flüchtlinge warteten. Die Fahrer wussten, wo man am besten über die grüne Grenze gehen konnte, und so fuhr ein ganzer Konvoi abends in diese Richtung. In Gruppen von zehn bis fünfzehn Leuten machten sie sich auf den Weg. Auf Facebook hatten sie gelesen, dass die albanische Polizei korrekt mit Flüchtlingen umging.

      So war es dann auch. Sie wurden entdeckt und kamen nach Gjirokastra in ein Zimmer in einer Transitunterkunft. Dort konnten sie erstmals seit Langem warm duschen und in richtigen Betten schlafen, welch ein Luxus!

      Dann ging es weiter nach Tirana, von dort ins Nachbarland Montenegro. Überall wies man ihnen akzeptable Unterkünfte zu, manchmal in Gebäuden, manchmal in Containern. Sie bekamen warme Mahlzeiten, schliefen in Betten und zogen weiter, sobald sie sich erholt hatten. Sie gingen viel zu Fuß, doch für die ganz langen Strecken fanden sich immer Fahrer, die gegen Bezahlung Taxi spielten und so ein willkommenes Zubrot verdienten. Es war ein gut funktionierendes System, von dem alle profitierten. Die Menschen waren freundlich und hilfsbereit.

      Hier gab es in allen Aufnahmezentren WLAN, und so konnten sie wieder regelmäßiger mit ihren Verwandten in Kontakt sein. Djamals Bruder in den Niederlanden erzählte ihnen, dass er versucht hatte, die Familienzusammenführung einzuleiten, aber die Behörden hatten das abgelehnt. Die Regelung gelte nicht für erwachsene Brüder, nur für minderjährige Söhne und Töchter. Sie sollten auf eigene Faust in die Niederlande kommen, dann werde man schon weitersehen.

      Nun warteten sie also eine Regenperiode in Sarajevo ab und wollten danach weiter durch Kroatien und Slowenien bis nach Italien. Ab dort gab es keine Passkontrollen mehr, hatte Djamal im Internet gelesen, dann würde endlich alles gut.

      Nach zwei Wochen Regen klarte es auf und Becca legte ihre grüblerische Stimmung ab. Sie wollte nicht mehr zurückschauen, nur nach vorne, in eine bessere Zukunft.

      Per Bus fuhr die Familie nach Bihać, eine Grenzstadt zu Kroatien, und fand auch dort bald ein Aufnahmelager. Für die allein reisenden Männer war es schwierig unterzukommen, doch für Familien mit Kindern gab es fast immer Betten, auch wenn es manchmal sehr eng wurde.

      Wieder hatte Djamal sich schlaugemacht. Man musste einen Schlepper