nach gewöhnte sich Asif an das Leben im Heim. Er bekam eine gesetzliche Vertreterin, eine nette junge Frau, die ihn regelmäßig besuchte und versuchte herauszufinden, warum er da war und was das Beste für ihn wäre. Anfangs war es irgendwie peinlich für ihn, einer unbekannten und unbedeckten Frau ins Gesicht zu sehen, weil man so etwas eigentlich nicht darf. Doch mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt, Frauen und Mädchen zu sehen, doch er sprach nie mit seinen Klassenkameradinnen, wenn es sich vermeiden ließ. Wenn sie in der Stadt spazieren gingen, sprachen einige seiner Freunde sogar fremde Mädchen an, aber das kam Asif doch sehr unschicklich vor. Oft saßen sie im Park, tranken Red Bull und besprachen, was die Zukunft ihnen wohl bringen würde.
Asif begriff, dass er mehrere Monate auf ein eigenes Telefon sparen musste, doch vorläufig hatte er seiner Familie die Telefonnummer von Rasul mitgeteilt und einmal im Monat rief sein Vater an. Das war jedes Mal ein großer Stress für Asif, denn es gehörte sich nicht, dem Vater zu widersprechen. Doch der verlangte Unmögliches: Warum Asif denn nicht weiter nach London reise, wie geplant? Warum er Zeit mit Schule vertrödle. Er sei ein gesunder junger Mann und solle doch lieber arbeiten und Geld nach Hause schicken. Schließlich habe er, der Vater, große Opfer für seinen Sohn gebracht. Asif wusste nicht, wie er seinem Vater verständlich machen konnte, dass das hier in Belgien ganz anders lief.
Als er eines Tages über einen WhatsApp-Videoanruf mit dem Vater telefonierte, kam es zu einem großen Streit, denn der Vater sah, dass sein Sohn sich eine dieser modischen Undercut-Frisuren zugelegt hatte und westliche Kleidung trug. Asif bringe Schande über die ganze Familie, das sei unislamisch, schrie der Vater ihn an.
Asif war so eingeschüchtert, dass er beschloss, sein gesamtes angespartes Taschengeld nach Afghanistan zu schicken, um den Vater zu versöhnen. Er schwänzte einige Tage lang die Schule und versuchte, Arbeit zu finden. Dafür wurde er von seiner Rechtsvertreterin zurechtgewiesen und drehte vollends durch. An diesem Abend trank er zum ersten Mal in seinem Leben Alkohol, den einige seiner Freunde regelmäßig konsumierten. Am nächsten Tag war ihm elend und er fühlte sich noch schuldiger. Wem sollte er es recht machen und wie?
Auch Rasul war in diesen Tagen am Boden zerstört. Einer seiner Weggefährten hatte sich in Dänemark umgebracht, weil er depressiv war. Es war schon der zweite Selbstmord eines Freundes. Der andere war vor einen Zug gesprungen, als er abgeschoben werden sollte.
Nach einigen Monaten erhielt Asif einen negativen Asylbescheid und verfiel gänzlich. Eine Woche lang wollte er sein Bett nicht verlassen. Doch letztlich überzeugte ihn seine Rechtsvertreterin, dass sich vorläufig nichts an seiner Lage ändern würde. Sie berief in seinem Namen gegen die Entscheidung und Asif begann wieder die Schule zu besuchen und bemühte sich, besser Französisch zu lernen. Lateinische Schrift lesen und schreiben konnte er mittlerweile schon ganz gut.
An den Wochenenden traf er sich mit afghanischen Freunden im Park, aber von den Mädchen hielt er sich noch immer fern. So gingen zwei Jahre ins Land. Er hatte sich gut integriert und fühlte sich durchaus wohl im Heim. Stress bereiteten ihm nach wie vor die Telefonate mit seinem Vater, deswegen rief er ihn immer seltener an. Nun aber war er auf Facebook aktiv und korrespondierte mit seinen afghanischen Freunden in Istanbul und Europa auf Paschto, aber in lateinischer Schrift. Das fiel ihnen allen schon leichter als das ordnungsgemäße arabische Alphabet.
Woran sich Asif nicht gewöhnen konnte, war das Alleinsein. Aufgewachsen in einer Großfamilie mit mehreren Dutzend Mitgliedern empfand er sein neues Einzelzimmer nicht als Vergünstigung, sondern als Belastung. Und weil es vielen anderen jungen Afghanen in Europa ebenso erging, hatten sie sich etwas ausgedacht, das die Einsamkeit abmilderte. Im WLAN des Asylheims hatte Asif permanent die WhatsApp-Videofunktion seines Handys aktiviert und war so ständig mit mehreren Freunden verbunden. Egal ob einer schlief, seine Schulaufgaben machte oder aß, sie konnten einander immer sehen. Auf diese Weise fühlte es sich fast ein wenig an wie das Zusammenleben mit den vielen Geschwistern zu Hause.
In der Schule hatte Asif noch viel nachzuholen, aber er strengte sich jetzt wirklich an. Er wollte nämlich gerne Automechaniker werden. Autos hatten ihn immer schon fasziniert. Er dachte nicht darüber nach, dass er vielleicht gar nicht in Europa bleiben würde können, denn beim Gedanken an Rückkehr bekam er Magenschmerzen. Erstens fürchtete er sich vor der Reaktion des Vaters, zweitens würde er sich in Afghanistan gar nicht mehr wohlfühlen. Europa war so anders, so frei und sicher, und es gefiel ihm viel besser. Bald würde er volljährig sein. Sollte sein Asylantrag endgültig abgelehnt werden, würde er es machen wie einige Bekannte. Er würde untertauchen und versuchen, sich doch noch nach London durchzuschlagen. Dort würde sein Cousin ihm schon weiterhelfen.
DJAMAL UND BECCA AUS SYRIEN
AUF DER BALKANROUTE IN DIE EHEKRISE
»Das WLAN funktioniert wieder einmal nicht, was für eine Katastrophe«, stöhnte der Leiter des Flüchtlingsaufnahmezentrums in Sarajevo und Becca konnte es ihm nachempfinden. Ihr Mann Djamal und ihre beiden Söhne hingen ständig an ihren Handys, sprachen mit Verwandten in aller Welt und sahen sich Bilder und Filme auf Facebook an. Djamal studierte die Angebote von Schleppern und ihre Preise. Und er lud sich Landkarten und Videos herunter, die genaue Anweisungen enthielten, wie man von Bosnien nach Kroatien und weiter nach Italien gelangen konnte.
Und weil das nicht nur Djamal und ihre Kinder so machten, sondern praktisch jeder Bewohner des Hauses, brach das Netz immer wieder zusammen. Dann beschwerten sich alle beim Heimleiter und es herrschte schlechte Stimmung im Haus. Dennoch war Becca froh, dass die Familie hier bei dieser privaten Hilfsorganisation untergekommen war und nicht auf der Straße schlafen musste wie manche ihrer syrischen Landsleute.
Aber das war kein menschenwürdiges Leben. Ihre Kinder waren noch ganz klein gewesen, als der Krieg in Syrien ausbrach. Jetzt waren sie zwölf und dreizehn Jahre alt und hatten nie bewusst eine Zeit der Normalität erlebt. Vor dem Krieg, also vor einer gefühlten Ewigkeit, hatte Djamal als Krankenpfleger in Aleppo gearbeitet. Sie hatten in einem großen Haus außerhalb der Stadt mit seinen beiden Brüdern und deren Familien gewohnt und Becca war damals überzeugt gewesen, dass sie alle in dem Haus zusammen alt werden würden.
Doch der Krieg änderte alles. Ein Bruder verließ Syrien sofort und fuhr mit Frau und Kindern in den Libanon. Dort wollte er ein, zwei Jahre ausharren, bis sich die Lage beruhigte, und dann wieder zurückkommen. Er war immer noch in Tripoli im Norden des Libanon.
Der zweite Bruder verließ Syrien 2015 und lebte nun mit seiner Familie in den Niederlanden. Djamal und Becca blieben, weil Becca ihre krebskranke Mutter nicht im Stich lassen konnte. Sie trotzten den Kämpfen und Bombardements und waren froh, dass ihr kleines Städtchen ein wenig abseits lag und selten Schauplatz direkter Kampfhandlungen wurde.
Die Arbeit in Aleppo musste Djamal aber aufgeben, denn es wurde immer umständlicher und gefährlicher, jeden Tag hin und her zu fahren. Er hielt sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Becca hielt Hühner und baute im Hof Gemüse an, das half ein wenig. Die Kinder kannten keine regelmäßige Schule und wussten nicht, was eine sorgenfreie Kindheit ist. Sie lebten täglich in Angst vor Angriffen aus der Luft oder von Bodentruppen. Hilfspakete kamen selten durch.
Medikamente für die Mutter waren auch nicht mehr zu bekommen. Als klar wurde, dass sie nicht mehr lange leben würde, begann Djamal die Flucht zu planen. Geld legte er in Goldschmuck an, den konnte man mitnehmen. Er schaffte sich ein neues Smartphone an, fotografierte alle ihre Dokumente ab und machte Bilder vom Haus und von den alten Familienfotos.
Wohin sollten sie gehen? Der Libanon war keine Option. Zwar sprach man dort Arabisch, aber die Lage der syrischen Flüchtlinge war sehr schwer. Ihr Schwager berichtete auf WhatsApp davon, dass die Syrer leicht Jobs fanden, weil sie als fleißig und gut ausgebildet galten. Mancher Unternehmer entließ seine einheimischen Arbeitskräfte, um Syrer zu einem viel geringeren Lohn einzustellen. Der Unmut der Bevölkerung richtete sich aber nicht gegen die libanesischen Arbeitgeber, sondern gegen die ausgebeuteten Syrer.
Djamals Bruder lebte mit seiner Familie in einer Garage in Untermiete und zahlte dafür mehr als ein Libanese für eine ganze Wohnung. So erging es den meisten Syrern. Die internationalen humanitären