Melita H. Šunjić

Die von Europa träumen


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MEIN SOHN SOLL ARBEITEN, STATT IN DER SCHULE ZU SITZEN

      Die ersten fünfzehn Jahre seines Lebens verbrachte Asif in einem Dorf in den Stammesgebieten der Paschtunen im Nordosten Afghanistans. Es ist eine schwer zugängliche, ländliche Gegend mit großen Gehöften. Asif kannte nichts anderes. Die Straßen waren schlecht, Strom gab es nicht und die Landwirtschaft wurde ohne Maschinen betrieben, auch die Kinder halfen mit. Geld war stets knapp.

      Wenn die Männer davon sprachen, dass die Taliban wieder die Macht in der Region übernommen hatten, hörte er kaum hin, es betraf ihn nicht.

      Asifs Vater hatte drei Ehefrauen und achtzehn Kinder sowie eine wachsende Schar Enkelkinder. Insgesamt lebten mehr als fünfzig Personen auf dem Hof. Als jüngster Sohn wurde Asif von allen gemaßregelt und geprügelt, so war das nun einmal der Brauch. Getan wurde, was der Vater anordnete. Selbst Asifs verheiratete Halbbrüder mussten sich dem Willen des Patriarchen beugen. Als Familienoberhaupt war der für das Wohlergehen der gesamten Großfamilie verantwortlich und setzte alles daran, sie wohlbehalten durch Krise und Geldnot zu manövrieren.

      Eine richtige Schule hatte Asif nie besucht, die gab es bei ihnen nicht. Nur wenn es die Sicherheitslage erlaubte, ging er zeitweise in die Medrese, die Koranschule, im nächstgelegenen Dorf, lernte ein paar Koranverse und notdürftig lesen. Mehr brauchte man in seiner Welt ohnehin nicht. Für das Bestellen der Felder ist kein Bücherwissen notwendig. Wenn Bargeld im Haus fehlte, stellten sich die jungen Männer der Familie frühmorgens an bestimmten Kreuzungen an der Landstraße auf und warteten auf Auftraggeber. Dann kamen Bauherren, Großbauern oder Händler und suchten sich ein paar Arbeiter aus. Auch Asif hatte als Tagelöhner schon auf dem Markt Kisten geschleppt und beim Ziegelbrennen mitgeholfen.

      Asif hatte einen älteren Bruder, der wäre jetzt schon 18. Doch als er so alt war wie Asif jetzt, wurde er von den Taliban entführt und zum Kämpfen gezwungen. Ein Jahr später war er tot. Seither lebte der Vater in ständiger Angst, dass Asif dasselbe widerfahren könnte, denn die Taliban waren ständig auf der Suche nach jungen Kriegern.

      Von der Welt wusste Asif nur wenig, denn er hatte seine Heimatprovinz noch nie verlassen, doch er hat einen Cousin in London, mit dem die Familie manchmal telefonierte. So ein Telefonat war jedes Mal eine schwierige logistische Herausforderung. Der Cousin vereinbarte mit dem »Telefon-Wallah« (in etwa Telefon-Heini, Telefon-Typ) in der dreißig Kilometer entfernten Stadt einen Gesprächstermin. Dieser schickte einen Boten zum Gehöft des Onkels und teilte ihm mit, wann sein Sohn anrufen würde. Zum vereinbarten Termin begab sich der Onkel mit anderen männlichen Familienmitgliedern in die Stadt. Einmal durfte auch Asif mit. Er war fasziniert von den Berichten des Cousins. Dieses London war unvorstellbar groß und reich, es gab viele Autos und Busse. Alle Straßen waren gepflastert, und es gab immer Wasser und Strom. Niemand wurde entführt, alle Kinder gingen in die Schule. Dort gab es immer Arbeit und man verdiente sehr viel Geld. Asifs Cousin bekam als Tellerwäscher achthundert Pfund im Monat, so viel könnte Asif zu Hause in zwei Jahren nicht verdienen.

      Der Cousin hatte das zwar nie erwähnt, aber Asif hatte von Freunden gehört, dass die Frauen dort auf die Straße gingen und sich gar nicht bedeckten. Das konnte er sich nicht richtig vorstellen. Er hatte noch nie das Gesicht einer Frau gesehen, die nicht mit ihm verwandt war.

      Eines Tages bekam der Vater Besuch von einem wichtigen Mann. Es war der lokale Vertreter eines Reisebüros in der Stadt, und jeder respektierte ihn, denn er wusste alles über die weite Welt. Er war schon viel gereist und half jenen Menschen, die Afghanistan verlassen wollten. Asif ahnte, dass es in dem Gespräch um ihn und seine Zukunft gehen würde, und er sollte recht behalten. Nachdem der Besucher gegangen war, rief ihn der Vater zu sich und teilte ihm mit, dass er schon bald nach London zu seinem Cousin reisen sollte. Der Mann vom Reisebüro würde alles organisieren.

      Die Reise kostete umgerechnet siebentausend Euro, doch der Mann hatte angeboten, einen Käufer für ein großes fruchtbares Stück Land und einen Bräutigam für Asifs kleine Halbschwester zu finden. So hatte der Vater das Geld in wenigen Tagen beisammen und hinterlegte es beim Geldwechsler, dem Saraf, auf dem Bazar der Kreisstadt. Dieser fungierte nämlich als eine Art Treuhänder und würde den erlegten Betrag ratenweise an das Reisebüro auszahlen, sobald der Reisende bestimmte Destinationen erreicht hatte.

      »Du wirst in einer Gruppe junger Männer mit einem Führer reisen. Mach mir keine Schande«, ermahnte ihn der Vater vor der Abreise. »Es wird einige Wochen dauern, doch dein Cousin wartet schon auf dich. Dieses London ist weit weg, dort können dir die Taliban nichts tun. Außerdem kannst du arbeiten und uns Geld schicken. Wer weiß, vielleicht kannst du auch andere Familienmitglieder nachholen?«

      Am Abreisetag brachte der Vater Asif in die nächste Stadt zum Sammelpunkt, er segnete ihn und schärfte ihm ein, stets auf den Führer, den »Onkel« zu hören. Er sollte folgsam und respektvoll sein und ein guter Moslem bleiben.

      Der »Onkel« verfrachtete Asif und ein Dutzend weitere Burschen auf die Ladefläche eines Pritschenwagens und sie fuhren in westlicher Richtung los. Ab und zu hielten sie an, um zu essen und sich die Beine zu vertreten, ansonsten verlief die Reise durch Afghanistan ruhig und Asif konnte erstmals in seinem Leben die vielen verschiedenen Landschaften seiner Heimat bewundern. In der Nähe der iranischen Grenze hielten sie an und warteten, bis es finster wurde. Dann übergab der Führer die Gruppe an den nächsten »Onkel«, der sie mit einem Kleinbus abholte. Der neue Führer sprach nur Dari, die zweite afghanische Sprache neben Paschtunisch, und Asif konnte ihn kaum verstehen. Den langen Erklärungen entnahm Asif nur, dass es gefährlich werden konnte und dass sie ganz still bleiben mussten, egal was geschah.

      Als die Nacht hereinbrach, pferchte man die Jungen in den viel zu kleinen Minibus. Asif kam ganz unten zu liegen und konnte kaum atmen. Der Bus fuhr offenbar sehr schnell über unebenes Gelände, es ruckelte und rüttelte. Plötzlich hörte man Schüsse, eine Patrone durchschlug den Bus und einer der Burschen schrie auf. Der Bus war von der iranischen Grenzpolizei entdeckt worden, und die schoss immer ohne Vorwarnung, denn die Strecke war berüchtigt als Hauptroute für Drogenhandel und Menschenschmuggel. Der Wagen raste weiter und Asif hatte große Angst. Der neben ihm liegende Bursche blutete und röchelte.

      Asif wusste nicht, wie lang die Fahrt dauerte, ihm kam es vor, als wären sie viele Stunden unterwegs gewesen, doch es war noch immer dunkel, als sie bei einem abgelegenen Gebäude anhielten und ausstiegen. Der schwer verletzte Bursche wurde fortgetragen und Asif sah ihn nie wieder.

      In dem Haus bekamen sie zu essen und konnten auf Matratzen schlafen. Nur der jüngste von ihnen, ein kleiner Bub von rund zwölf Jahren, wurde vom »Onkel« weggebracht und kam verstört und weinend nach mehreren Stunden wieder zurück. Er wollte nicht sagen, was mit ihm geschehen war. Am nächsten Abend ging die Reise weiter. Dieser Ablauf wiederholte sich mehrere Tage, bis sie eine Gebirgslandschaft erreichten. Ihr Führer erklärte ihnen, dass es sich um das Van-Gebirge handelte, das den Iran von der Türkei trennte.

      Am Abend kam ein neuer »Onkel« an, der sie zu Fuß über die Gebirgspässe führen würde. Er händigte ihnen auch Jeans und T-Shirts aus. »Zieht euch um. Mit euren afghanischen Kleidern fallt ihr in der Türkei gleich auf. Lasst sie da, die braucht ihr jetzt nicht mehr«, sagte der Führer. Asif fand das sehr aufregend. Er hatte noch nie etwas anderes getragen als das traditionelle paschtunische Kamis Partoog, bestehend aus Pluderhosen und langer Tunika aus demselben hellen Stoff. Die neue Hose war ihm zwar zu groß, aber er kam sich trotzdem richtig schick und westlich vor.

      Ihre nächtliche Wanderung führte sie durch unwegsames steiles Gelände. Es war kalt und sie froren, denn die Kleidung war viel zu dünn hier in den schneebedeckten Bergen. Als einer der Burschen sich den Fuß verrenkte, mussten ihn die anderen abwechselnd stützen, was den Aufstieg noch mühsamer machte. Ihr Führer war nervös und trieb sie ständig zur Eile an. Immer wieder schlug er vor, den Verletzen einfach zurückzulassen, weil sie seinetwegen zu langsam vorankamen, »sonst erwischt uns alle die Grenzwache«. Doch die jungen Männer setzten sich gegen den Führer durch. »Wir lassen ihn nicht liegen«, sagten sie. Die Pausen, die sie einlegen durften, waren kurz und sie hatten nichts zu essen dabei. »Weiter, weiter!«, mahnte der neue »Onkel« pausenlos.

      Unterwegs entdeckten die Wanderer plötzlich eine