Melita H. Šunjić

Die von Europa träumen


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sehr scharf und schickte jeden zurück. Auch gab es Minenfelder, die man unbedingt umgehen musste. Einen Schlepper zu finden war kein Problem, die mischten sich ganz offen unter die Lagerbewohner und hielten in den Zentren ungeniert ihre Beratungs- und Verkaufsgespräche ab. Arabischsprachige Keiler arbeiteten mit ortskundigen einheimischen Führern zusammen. Djamal sollte für den Grenzübertritt mehrere Hundert Euro pro Person zahlen, da würde sein Bruder wohl aushelfen müssen. Tatsächlich wies der das Geld über Western Union an und Djamal einigte sich mit einem der Schlepper, den ihm andere Syrer als vertrauenswürdig empfohlen hatten. Djamal hatte auch gesehen, dass es richtige Schlepperbewertungen im Netz gab, so wie man Hotels bewertete.

      Wenn jemand das Lager verließ und sich nach langem Fußmarsch durch Kroatien endlich nach Italien durchgeschlagen hatte, schickte er gleich Bilder und Grußbotschaften an die ehemaligen Mitbewohner, und sofort breitete sich im Lager neuer Optimismus aus. Dann wollten alle anderen auch sofort aufbrechen.

      Schließlich kam auch für Becca und ihre Familie der Abreisetag. »Game« hieß die Reise im Schlepperjargon. Sie gingen also auf ihr Game. Der Führer lotste sie durch eine dicht bewaldete Gegend. Untertags und bei Schlechtwetter war es besser als nachts, denn da würden sie Taschenlampen brauchen und so weithin sichtbar sein.

      Doch aus dem Game wurde bald ernst, die kroatische Polizei griff die Gruppe mehrere Kilometer hinter der Grenze auf. Einige junge Männer versuchten wegzulaufen, doch sie wurden überwältigt und mit Stöcken brutal geschlagen. Einem Burschen wurde der Arm gebrochen. Alle wurden durchsucht, sogar die Kinder. Man nahm ihnen alles Geld und die Smartphones ab und schickte sie über die Grenze zurück nach Bosnien. Djamal und Becca waren fassungslos. All ihre Dokumente, Fotos, und Kontakte, waren in dem Telefon gespeichert. Alles war weg.

      Zurück im Heim riefen sie den Schwager auf dem Handy eines Mitbewohners an und erzählten, was ihnen widerfahren war. Der war bestürzt. Er hatte keine Ersparnisse mehr und versprach, sich Geld auszuborgen und zu schicken.

      Es dauerte über zwei Wochen, bis sie Nachricht bekamen, dass das Geld bereit war. Djamal holte es ab und kaufte sich als Erstes ein Smartphone. Er musste nun alle Landkarten wieder herunterladen, vor allem die Weitwanderwege durch Kroatien und die Kommentare und Ratschläge der Syrer und Iraker, die diese Strecken schon zurückgelegt hatten. Djamal recherchierte alles ganz systematisch und erfuhr, welche Vorsichtsmaßnahmen man ergreifen musste. Die erste Hürde war die Grenze und das Grenzgebiet. Sobald man das verlassen hatte, sollte man sich im bewaldeten Gebiet fortbewegen und es nur verlassen, wenn es gar nicht anders ging und man einkaufen musste. Da war es besser, die kleinen Dörfer zu meiden und in Städtchen mit Supermarkt einzukaufen. Am besten man schickte hellhäutige Mitreisende, die nicht auf den ersten Blick als Flüchtlinge erkennbar waren, denn in Kroatien war die Bevölkerung ihnen nicht freundlich gesinnt und konnte einem die Polizei an den Hals hetzen.

      Zu Fuß, so hatte Djamal herausgefunden, brauchten gesunde Erwachsene etwa zehn Tage bis zur italienischen Grenze.

      Diesmal fand Djamal einen billigeren Schlepper. Der brachte eine kleine Gruppe Syrer an die kroatische Grenze, wies ihnen die Richtung und wünschte ihnen alles Gute. Djamal hatte das übrige Geld auf alle Familienmitglieder verteilt. Jeder trug einen Teil am Körper und sie hofften, etwas zu retten, falls sie wieder aufgegriffen wurden. Becca hatte in Bihać Leute getroffen, die es schon zwanzigmal versucht hatten. Djamal hatte eine richtige Landkarte aus Papier dabei und hatte das Telefon ausgeschaltet, um die Batterie zu schonen. Sie bewegten sich vorsichtig und leise und Becca betete still um göttliche Führung. Sie hatten doch wirklich genug gelitten, jetzt hatten sie ein bisschen Glück verdient.

      Sie schafften es ohne Zwischenfälle nach Kroatien, doch dann wurde es eine mühevolle Wanderung. Die Füße taten ihnen allen weh, sie hatten Muskelschmerzen und einmal verknackste sich ihr jüngerer Sohn den Knöchel und musste eine Strecke lang getragen werden. Die Männer wechselten sich ab und so fielen Djamal und seine Familie nicht zurück, sondern konnten bei der Gruppe bleiben. Es war interessant, dachte Becca, dass diese gemeinsame Flucht die Menschen richtig zusammenschweißte. Sie hatte das Gefühl, dass sie alle in diesen wenigen Tagen zu einer Art Familie geworden waren.

      In den Nächten war es noch immer warm und so mussten sie wenigstens nicht frieren. Einmal regnete es heftig, sodass alle bis auf die Knochen nass wurden, aber die Kleidung trocknete auch rasch wieder. Es gab einige unangenehme und einige freundliche Begegnungen mit Einheimischen und Touristen, die auf den gleichen Wegen wanderten, immerhin verriet sie keiner von ihnen an die Polizei.

      Zwölf Tage waren sie unterwegs, dann hatten sie Triest erreicht. Alle waren abgemagert und ausgezehrt. Besonders den Kindern sah man die Anstrengungen an, aber alle waren glücklich und erleichtert.

      Sie fanden die Busstation und kauften Tickets. Fünfundzwanzig Stunden sollte die Reise dauern und dann würden sie endlich am Ziel sein. Der Bus war komfortabel und hatte WLAN. »Jetzt ist alles gut!«, sagte Djamal, doch Becca war skeptisch. Wie oft hatten sie das im letzten Jahr geglaubt, und dann war es anders gekommen. Sie sollte mit ihren düsteren Vorahnungen recht behalten. In Österreich wurden sie angehalten und kontrolliert. Djamal und seine Familie hatten nicht die notwendigen Papiere und wurden aus dem Bus geholt.

      Jetzt saßen wie wieder in einem Aufnahmelager und ein arabischsprachiger Rechtsberater erklärte ihnen, dass sie hier um Asyl ansuchen mussten. Er fragte, ob man ihnen irgendwo anders in Europa schon die Fingerabdrücke abgenommen hatte, aber das konnten sie verneinen. »Na gut, dann kann man euch nicht in ein anderes Land zurückschicken«, teilte er ihnen mit.

      Das war vor mehreren Monaten. Nun waren sie in einem Asylwerberheim untergebracht. Die Kinder gingen erstmals in ihrem Leben regelmäßig in die Schule und konnten schon lateinische Schrift lesen und schreiben. Die arabische Schrift hatten sie zwar einmal gelernt, aber schon längst das meiste vergessen, was Djamal erzürnte. Deutsch lernen war schon schwieriger, doch die Kinder bemühten sich. Djamal hingegen weigerte sich, Deutsch zu lernen. Das war Zeitverschwendung, sagte er, er wollte doch Niederländisch sprechen. Richtige Kurse wurden ohnehin nicht angeboten, denn Djamal und Becca waren im Asylverfahren und es war noch nicht klar, ob sie überhaupt bleiben konnten.

      Becca versuchte Djamal sanft darauf vorzubereiten, dass sie wohl nie in die Niederlande kommen würden und dass sie sich lieber auf Österreich einstellen sollten, doch er wollte davon nichts hören und wurde manchmal richtig aggressiv. »Was soll ich hier? Ich weiß nichts von Österreich und will da nicht bleiben. Mein Bruder ist in Amsterdam. Da müssen wir hin.«

      Auch der Rechtsberater sagte, Djamal müsse mit den Behörden kooperieren, er schade nur sich selbst und seiner Familie mit seinem Trotz und seiner Streitsucht. Doch Djamal war nicht zu beruhigen. Immer wieder schrie er herum, er schimpfte nicht nur auf Frau und Kinder, sondern auch auf die anderen Bewohner und die Betreuer. Immer öfter rutschte ihm die Hand aus, er schlug Becca und die Kinder und wurde mehrere Male von der Heimleitung verwarnt. Einmal kam sogar die Polizei.

      Die Sozialarbeiterin des Heimes hatte Becca nach diesem Vorfall zur Seite genommen und ihr erklärt, dass sie auf Wunsch mit ihren Kindern wegziehen könnte. Man würde sie dann weit weg von ihrem Ehemann sicher unterbringen. Sie könnte sich in Österreich auch scheiden lassen. Danach war Becca geschockt. Noch nie hatte sie an Trennung gedacht. Was würde die Familie dazu sagen? Undenkbar. Sie hatte zwar gehört, dass sich in Europa viele Syrerinnen scheiden ließen, aber sie konnte sich das nicht vorstellen. Sie verstand Djamals Frustration und wollte ihm in dieser schweren Zeit beistehen, wie es sich für eine gute Ehefrau gehörte.

      Sie waren schon dem Krieg entkommen, hatten gemeinsam die Hölle von Moria und die Schrecken der Balkanroute überstanden. Jetzt gingen die Kinder in die Schule, sie hatten Aussicht auf ein Leben in Frieden, da würde sie die letzten Hürden mit Djamal auch noch nehmen.

      Was sollte sie schließlich als geschiedene Frau mit zwei Kindern in einem fremden Land anfangen? Frauen ohne Ehemann lebten ohne Ehre, dachte sie und erinnerte sich an das alte Sprichwort, das ihre Mutter immer zitiert hatte, wenn es um unglückliche Ehefrauen ging: Der Schatten eines Mannes ist besser als der Schatten einer Wand.

       BERHANE AUS ERITREA