denke nicht, dass er ADHS hat«, widersprach ihr Danny.
»Aber es ist offensichtlich, Herr Doktor.«
»Für mich nicht. Darf ich Sie fragen, warum Marius mit Ihnen und nicht mit seinen Eltern hergekommen ist?«, fragte Danny, während Marius aus dem Fenster schaute, als ginge ihn das alles nichts an.
»Weil das mit der ADHS ihre Idee ist«, mischte sich Marius auf einmal in das Gespräch zwischen seiner Großmutter und Danny ein. »Meine Eltern sagen, dass ich einfach nur zu faul zum Lernen bin und deshalb schlechte Noten schreibe.«
»Geh, Bub, was sagst du denn da? Du bist doch nicht faul, du bist krank«, entgegnete Gusti.
»Würden Sie Marius und mich bitte ein paar Minuten allein lassen«, bat Danny Gusti Meier, als der Junge erneut aus dem Fenster schaute und Desinteresse vorgab.
»Wenn Ihnen das hilft, die Diagnose zu stellen.«
»Das würden mir sehr helfen«, sagte Danny.
»Na gut, ich warte vorn am Tresen auf dich«, wandte sich Gusti an ihren Enkel und verließ nur zögerlich das Sprechzimmer.
»Ich weiß jetzt, worauf deine Großmutter und deine Eltern deine schlechten schulischen Leistungen schieben. Was ist mit dir? Was glaubst du, woran es liegt, dass du nicht mitkommst?«, wollte Danny von Marius wissen.
»Keine Ahnung, vielleicht, weil ich immer so müde bin, und wenn mich dann ein Lehrer anspricht, reagiere ich eben gereizt, weil ich eigentlich schlafen will. Sie sagen, ich sei aufsässig und nicht in der Lage, dem Unterricht zu folgen. Im Sportunterricht ist es am schlimmsten. Ich kann mich einfach nicht aufraffen, im Kreis herumzurennen oder mich an irgendwelchen Geräten abzuarbeiten.«
»Wie lange fühlst du dich schon so müde?«, fragte Danny und sah den Jungen aufmerksam an. Er war nicht nur sehr dünn und blass, seine Haut war auch trocken und er hatte spröde Mundwinkel. Zusammen mit der Müdigkeit konnte das auf einen gravierenden Eisenmangel hindeuten.
»Das mit der Müdigkeit habe ich schon seit ein paar Monaten. Seitdem gehe ich auch nur noch selten mit meinem Vater ins Fitnessstudio.«
»Wie waren deine Noten, bevor du dich so müde gefühlt hast?«
»Ganz okay, in den Arbeiten hatte ich meistens eine zwei oder eine drei. Ein Mathegenie, wie meine Oma glaubt, war ich aber nie, das muss sie sich leider abschminken«, erklärte Marius achselzuckend. »Schule ist überhaupt total öde.«
»Du bist jetzt dreizehn«, sagte Danny.
»Dreizehn und drei Monate«, verbesserte ihn Marius und richtete sich in seinem Stuhl auf, so als wollte er noch ein bisschen größer wirken.
»Das heißt in knapp fünf Jahren bist du volljährig und kannst selbst über deine Zukunft bestimmen. Je besser du vorbereitet bist, desto mehr Möglichkeiten bieten sich dir. Du solltest die Schule unbedingt ausnutzen.«
»Was meinen Sie mit ausnutzen? Das klingt, als könnte ich der Schule etwas wegnehmen«, wunderte sich Marius.
»Wegnehmen nicht, aber du kannst das Wissen, das sie dir zur Verfügung stellen, aufnehmen und für dich nutzen. Hingehen musst du ohnehin noch eine Weile, warum solltest du dann nicht das Angebot ausschöpfen.«
»Wow, das klingt ja mal richtig abgefahren, Herr Doktor. So habe ich das mit der Schule noch nie betrachtet. Hingehen und alles abgreifen, was die an Wissen im Angebot haben. Obwohl, so leicht ist das nicht. Manche Lehrer tun sich echt schwer damit, etwas verständlich zu erklären.«
»Dann frage nach.«
»Das nervt sie.«
»Einige mag das nerven, aber die meisten werden deine Fragen als Interesse werten und in deine Noten miteinfließen lassen.«
»Ich glaube, aus Ihnen wäre ein Spitzenlehrer geworden, Herr Doktor«, sagte Marius, der auf einmal hellwach schien.
»Das weiß ich nicht, aber danke, dass du es mir zutraust. Und jetzt sollten wir die Ursache deiner Müdigkeit herausfinden. Bist du mit einer Untersuchung einverstanden?«
»Sie überlassen mir die Entscheidung?«, zeigte sich Marius verblüfft.
»Ich kann dich nicht gegen deinen Willen untersuchen.«
»Und wenn ich eine Untersuchung ablehne?«
»Dann würde ich mit deinen Eltern sprechen, weil ich mir Sorgen um dich mache und ich möchte, dass es dir wieder besser geht.«
»Das klingt nach einer ehrlichen Antwort. Okay, untersuchen Sie mich bitte, sonst glaubt meine Oma mir ohnehin nicht, dass ich kein ADHS habe. Was heißt das eigentlich?«
»Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung.«
»Das ist auch niemandem über Nacht eingefallen.«
»Nein, wohl eher nicht«, antwortete Danny lächelnd. Er hatte seine ganz eigene Meinung zu diesem Thema, und vielleicht wäre es interessant, wenn er sich mit Olivia Mai einmal darüber austauschen könnte.
In diesem Moment wurde ihm wieder bewusst, dass er auffallend oft an seine Nachbarin dachte, obwohl er sich doch ständig einredete, dass sie nicht mehr als nur eine Nachbarin war, die ein bisschen Unterstützung brauchte, um eine stressige Situation zu bewältigen.
»Soweit sieht alles gut aus«, versicherte er dem Jungen, nachdem er ihm ein paar Fragen zu seinem Befinden gestellt, nach seinem Appetit, den er als gut bezeichnete, gefragt und ihn mit dem Stethoskop abgehört und den Blutdruck gemessen hatte. »Wir brauchen dann noch eine Urinprobe von dir, und Sophia wird dir Blut abnehmen, das geht dann alles ins Labor. Sollte ein Wert auffällig sein, melde ich mich bei dir«, erklärte er dem Jungen.
»Vielen Dank, Doktor Norden. Eigentlich wollte ich gar nicht herkommen, aber meine Großmutter hat einfach keine Ruhe gegeben. Jetzt bin ich froh, dass ich hier war. Ich werde Sie weiterempfehlen. Obwohl, ich glaube, Sie brauchen gar keine Empfehlung mehr. Ihr Wartezimmer ist auch so schon voll.«
»Ich danke dir aber trotzdem für dein Vertrauen«, sagte Danny und klopfte dem Jungen freundschaftlich auf die Schulter, als er ihn zum Empfangstresen begleitete.
»Und? Bekommt er ein Medikament? Ich meine, dieses Ritalin, das alle bekommen, die an ADHS leiden?«, fragte Gusti Meier, die dort auf ihren Enkel wartete.
»Marius braucht das nicht«, versicherte ihr Danny.
»Aber er ist doch krank«, entgegnete Gusti verblüfft.
»Nein, bin ich nicht, Oma. Doktor Norden hat mich gerade gründlich untersucht. Jetzt lasse ich mir noch Blut abnehmen, dann gehen wir nach Hause«, verkündete Marius seiner Großmutter.
»Sophia, ein großes Blutbild für den jungen Mann«, bat Danny seine Sprechstundenhilfe, die hinter dem Tresen stand und so tat, als würde sie nicht zuhören.
»Wird erledigt, Herr Doktor«, sagte sie und bat Marius, ihr in den Laborraum zu folgen.
»Kann ich den nächsten Patienten reinschicken?«, fragte Lydia.
»Ja, nur zu«, sagte Danny und ging zurück in sein Sprechzimmer. Er hatte sich gerade ein wenig mehr Zeit genommen, als er sich bei einem vollen Wartezimmer eigentlich leisten sollte, aber er war sicher, dass Marius dieses Gespräch mit ihm allein etwas gebracht hatte. Das Gespräch mit den Patienten besaß einen hohen Stellenwert in seiner Praxis. Es war der beste Weg herauszufinden, was den Menschen quälte, der ihm gegenübersaß.
*
Die Vormittagssprechstunde dauerte fast eine Stunde länger als sonst. Erst kurz nach eins verließ die letzte Patientin, eine junge Frau, die über Kopfschmerzen klagte, das Sprechzimmer. Er hatte ihr geraten, einen Physiotherapeuten aufzusuchen, weil er davon ausging, dass ihre starken Verspannungen in Rücken und Nacken die Ursache für ihre Schmerzen waren.
»Eine Freundin von mir hat ihren Job bei uns in der Versicherung aufgegeben, weil sie durch das Sitzen am Computer auch ständig von Kopfschmerzen geplagt wurde.