Doktor, Sie sind wirklich gut zu uns«, sagte Lydia. Sie stellte die beiden Teller in die Küche und kam gleich zum Tresen zurück. Sie hatte bereits einen Stapel Rezepte für Blutdrucktabletten, Cholesterinsenker und andere Medikamente für ihre chronisch kranken Patienten ausgefüllt, die Danny unterschreiben musste. »Quartalsanfang, da kommen eben alle vorbei«, sagte sie, als sie Danny ein Rezept nach dem anderen reichte, damit er sie gleich am Tresen unterschreiben konnte.
»Offensichtlich sind wir heute ohnehin äußerst gefragt«, stellte Danny nach einem Blick ins Wartezimmer fest. Wie am Vormittag waren auch jetzt schon alle Stühle besetzt.
»Wir haben auch wieder einige Besucher, die daran denken, ihren Hausarzt zu wechseln und Sie erst einmal kennenlernen wollen«, ließ Lydia ihn wissen. »Man spricht über Sie, wissen Sie«, fügte sie augenzwinkernd hinzu.
»Ihre Kollegen in diesem Stadtteil haben Glück, dass wir in einem Land leben, in dem viele Leute es als sportliche Herausforderung ansehen, möglichst viele Arztbesuche im Jahr zu absolvieren. Wäre das nicht so, dann würden die anderen bald in leere Wartezimmer blicken, wir allerdings nicht«, sagte Sophia, die sich um die Liste kümmerte, nach der die Patienten aufgerufen wurden.
»Sie übertreiben, Sophia. Ich bin kein Wunderdoktor«, antwortete Danny lachend.
»Nein, Sie sind kein Wunderdoktor, aber ein wunderbarer Mensch und Arzt«, sagte sie und wurde ein bisschen rot, weil sie ihrem Chef ein Kompliment gemacht hatte.
»Hoffen wir, dass dieser Trend, Sie sehen zu wollen, nicht anhält, sonst können wir bald keine neuen Patienten mehr aufnehmen«, half Lydia ihrer Kollegin aus der Verlegenheit.
»So schnell wollte ich eigentlich nicht an unsere Grenzen stoßen«, sagte Danny.
»Sie könnten überlegen, einen zweiten Arzt oder eine Ärztin einzustellen, falls es so weiter geht«, schlug Lydia vor.
»Ich werde gegebenenfalls darüber nachdenken, sollten meine Kollegen sich nicht mehr Mühe geben, ihre Patienten zu halten.«
»Sich mehr Mühe zu geben, mag für die männlichen Patienten funktionieren, was die Patientinnen betrifft, bin ich da weniger zuversichtlich«, erklärte Lydia mit einem spitzbübischen Lächeln.
»Und warum sind Sie das?«, fragte Danny und schaute von dem Rezept auf, das er gerade unterschrieben hatte.
»Sie spricht von Ihrem Charme und Ihrem Lächeln«, mischte sich eine ältere Frau ein. Sie war kurz zuvor in die Praxis gekommen und hatte Sophias Erklärung für das vollbesetzte Wartezimmer mitangehört.
»Sie machen mich verlegen, Frau Emsberg«, sagte Danny und wandte sich Gertrud Emsberg zu.
»Ich glaube nicht, dass eine alte Frau wie ich Sie in Verlegenheit bringen kann«, antwortete Gertrud lächelnd. Sie kam schon zu ihm, seit er seine Praxis eröffnet hatte. Sie war bereits über siebzig, kümmerte sich aber immer noch jeden Tag um den Friseursalon, den sie vor vierzig Jahren eröffnet hatte.
»Charme ist keine Frage des Alters, Frau Emsberg«, entgegnete Danny lächelnd und unterschrieb das letzte Rezept, das Lydia bisher vorbereitet hatte. Er mochte die alte Dame, die nach wie vor auf ein perfektes Äußeres achtete. Ihr silbergraues kurzes Haar war in Stufen geschnitten, sie trug ein elegantes knielanges Kleid und Schuhe mit halbhohem Absatz. Dass sie an Rheuma litt und oft mit starken Schmerzen zu kämpfen hatte, sah man ihr nicht an. »Wollen Sie zu mir?«, fragte er sie.
»Nein, heute nicht, Herr Doktor, ich bin nur wegen eines Rezeptes hier. Meine Schmerztabletten gehen zu Ende.«
»Bitte sehr.« Lydia reagierte sofort und reichte ihm ein leeres Rezept, damit er es vorab unterschreiben konnte, was er auch sofort tat.
»Vielen Dank, Herr Doktor«, bedankte sich Gertrud.
»Gern, Frau Emsberg, einen schönen Tag noch für Sie.«
»Den wünsche ich Ihnen auch«, sagte Gertrud und sah ihm nach, wie er den Gang entlang zu seinem Sprechzimmer lief. »Er ist außergewöhnlich, sehr außergewöhnlich«, flüsterte sie und wandte sich Lydia wieder zu.
»Das ist er, in jeder Hinsicht«, stimmte Lydia ihr zu.
»Es geht los«, sagte Sophia, als die grüne Taste an dem Haustelefon aufleuchtete, das auf dem Tresen stand. Es war das Zeichen, dass sie den ersten Patienten des Nachmittages aufrufen konnte.
*
Wie immer hatte Lydia mit ihrer Einschätzung recht gehabt. An diesem Nachmittag waren wieder einige Patienten nur aus Neugierde zu Danny kommen. Um einen Grund für ihren Besuch zu haben, fragten sie ihn nach Vorsorgeuntersuchungen, die er in seiner Praxis anbot.
Er sah in die Anamnesebögen, die sie zuvor ausgefüllt hatten, und empfahl ihnen die Untersuchungen, die für sie nach Alter oder Vorerkrankungen infrage kamen. Da er diese Untersuchungen nur an bestimmten Tagen nach Terminvergabe durchführte, um die Sprechstunden für seine akut kranken Patienten freizuhalten, bat er diese Besucher seiner Praxis, die ihn kennenlernen wollten, sich mit Lydia und Sophia wegen eines Termines abzusprechen.
Um vier meldete sich das Labor, mit dem er zusammenarbeitete und die jeden Tag seine Laborproben abholten. Es ging um die Blutprobe von Marius. Sie hatten einen dramatischen Mangel an Vitaminen und Spurenelementen festgestellt und wollten ihm die Auswertung der Probe vorab schicken. Er bedankte sich und sah sich den Laborbogen an, der gleich darauf per E-Mail bei ihm eintraf.
Die Urinprobe war unauffällig, aber die Werte der Blutprobe waren bedenklich. Marius fehlte es nicht nur an Eisen, auch sein Vitamin-D-Spiegel und der der B-Vitamine waren in einem äußerst niedrigen Bereich. Kinder in der Pubertät hatten einen erhöhten Bedarf an Vitaminen und Spurenelementen. Am meisten Sorgen machte ihm allerdings der ausgeprägte Eisenmangel, den er bereits vermutet hatte. Die einfachste Erklärung für Marius‘ Zustand wäre eine einseitige Ernährung. Die anderen Ursachen, bisher unerkannte innere Blutungen oder eine Anhäufung der roten Blutkörperchen in der Milz, wollte er so schnell wie möglich ausschließen. Kurz entschlossen griff er zum Telefonhörer und wählte die Nummer, die in Marius‘ Patientenakte stand.
»Cordula Meier«, meldete sich Marius‘ Mutter.
»Daniel Norden, guten Tag Frau Meier. Ihr Sohn war heute Vormittag bei mir«, sagte er.
»Ja, das hat er mir erzählt. Was ist denn mit ihm? Irgendetwas ist doch, sonst würden Sie mich jetzt nicht anrufen«, entgegnete Cordula erschrocken.
»Es geht um die Blutwerte Ihres Sohnes. Einige sind nicht in Ordnung, insbesondere der Eisenwert. Um die Ursache abzuklären, bitte ich Sie, mit Ihrem Sohn noch einmal herzukommen.«
»Wollen Sie ihm noch einmal Blut abnehmen?«
»Nein, es geht um eine Ultraschalluntersuchung. Sie würde bei der Diagnose wirklich helfen.«
»Sollen wir gleich heute noch mal vorbeikommen?«, fragte Cordula mit zitternder Stimme.
»Je schneller wir das abklären, umso schneller kann ich Ihrem Sohn helfen.«
»Gut, dann kommen wir vorbei«, sagte Cordula und legte auf.
Danny tat es zwar leid, dass er Marius‘ Mutter in Aufregung versetzt hatte, aber er wollte so schnell wie möglich Gewissheit. Sollte die Milz vergrößert sein, was auf eine krankhafte Ansammlung der roten Blutkörperchen hindeuten würde, musste er den Jungen umgehend ins Krankenhaus überweisen. Damit Mutter und Sohn nicht warten mussten, rief er Sophia über das Haustelefon an und bat sie, ihm sofort Bescheid zu geben, sobald die Meiers eintrafen, und sie gleich in den Ultraschallraum zu bringen.
»Lydia will noch mit Ihnen sprechen«, sagte Sophia und reichte das Telefon weiter.
»Doktor Norden, es gibt Neuigkeiten. Ich habe gerade mit meiner Mutter gesprochen. In der Sache mit der Fahrerflucht geht es vorwärts. Sie muss noch ein paar Fotos auswerten, aber sie ist zuversichtlich, dass sie diesen schwarzen Sportwagen gefunden hat.«
»Das ist eine gute Nachricht, danke für das Update«, bedankte sich Danny bei Lydia.