habe, konzentrieren sich die Los Caídos jetzt auf uns und interessieren sich nicht mehr für diesen bescheuerten Krieg zwischen den Pharmakonzernen.«
»Ich hoffe, du hast recht«, sagt Ace ernst und biegt in seine Tiefgarage ein. »Wenn dem Mädchen etwas passiert, will ich nicht in deiner Haut stecken.«
Wow. Danke. Penner.
Ace ist ein Schauspieler, ein Trickster und doch manchmal so gnadenlos ehrlich, dass es mir die Sprache verschlägt.
Aber er hat recht. Meine Entscheidung, Kiki wegzuschicken und in ihr altes Leben zurückzulassen, kann auch nach hinten losgehen. Wenn mein Plan nicht aufgeht und die Los Caídos die Königs mit in unseren kleinen Krieg ziehen, dann wird Kiki die Erste sein, die auf ihrer Abschussliste steht. In diesem Fall wäre sie bei mir sicherer.
Aber es würde auch bedeuten, dass sie nie wieder ein normales Leben führen kann. Dass ich ihr all ihre unverwirklichten Träume entreißen würde. Ein Leben mit mir bedeutet, auf der mörderischen Klinge des Todes zu tanzen. Immer nur einen Schritt davon entfernt, draufzugehen.
Nein, das kann ich ihr nicht antun. Genauso wenig, wie ich es meiner Schwester antun kann. Ich muss die beiden aus diesem Teil meines Lebens fernhalten. Rory weiß von nichts. Für sie bin ich nur der schwer arbeitende Bruder, der es doch nicht schafft, die Lücke auszufüllen, die unser Vater hinterlassen hat. Aber Kiki kennt mein Geheimnis. Bei ihr ist es zu spät, meine Maske wieder aufzusetzen.
Während ich mir mein Gehirn zermartere und alle möglichen Wege und Fälle durchgehe, parkt Ace den Wagen und wir steigen aus.
Schweigend gehen wir zum Aufzug und fahren nach ganz oben. Wir beide sind in unsere eigene Welt versunken, auch wenn ich keine Ahnung habe, wie es in Ace gerade aussieht. Er lehnt an der Fahrstuhlwand, die Arme genauso verschränkt wie ich und schaut ernst ins Leere.
Ob er sich Sorgen macht? Ob er Angst hat? Ace ist nicht der Typ, seine Emotionen nach außen zu tragen. Zumindest nicht die Echten. Als sich unsere Blicke kreuzen, zupft ein Grinsen an seinen Mundwinkeln. Genau wie ich trägt er eine Maske. Bloß sieht seine fröhlich aus im Gegensatz zu meiner. Meine ist mehr so »sprich mich nicht an oder ich schlage dir den Schädel ein«-mäßig.
Als wir mit dem Aufzug oben ankommen, seufze ich resigniert auf. Kikis Wohlergehen geht mir nicht aus dem Kopf. »Ich muss sichergehen, dass ihr nichts passiert.«
Ace wirft mir einen mahnenden Blick zu, als er an mir vorbeigeht, um seine Wohnungstür zu öffnen. Wir betreten die große Penthousewohnung, die letztendlich nur ein gigantischer, im fernöstlichen Stil eingerichteter Raum ist.
»Kommt nicht in Frage. Wir können uns nicht noch mehr Fehler leisten, Seth. Wenn es um die Kleine geht, bist du unkonzentriert. Wir haben jetzt einen Krieg zu gewinnen. Also konzentrier dich auf unsere Mission, klar?«
»Was?«, knurre ich. »Willst du mich verarschen, Ace?«
»Nein, Seth. Ich will unsere Ärsche retten. Hör zu- …« Er bleibt mitten im Raum stehen und dreht sich zu mir um. Seine eisblauen Augen blitzen gefährlich auf, als er in meine blickt. Er tritt an mich heran, sodass wir nur noch eine Handbreit voneinander entfernt sind.
Ich spüre die Bedrohung, die von ihm ausgeht. Sie kriecht wie ein elektrisierender Parasit unter meine Haut und breitet sich in mir aus, bis sich meine Muskeln automatisch anspannen. Bereit, zu kämpfen, wenn es sein muss. Aber Ace will nur reden. Es ist lediglich der animalische Überlebensinstinkt, der sich in mir regt.
»Du hattest die Wahl und du hast dich dafür entschieden, sie fortzuschicken. Ich habe keine Lust, dass du alles riskierst, indem du jetzt die ganze Zeit mit den Gedanken bei ihr bist. Wir haben keine Zeit, Babysitter zu spielen. Ihr Vater ist reich genug, sich und sie zu beschützen. Entweder du konzentrierst dich jetzt oder du kannst deine Freiheit an den Nagel hängen. Verstanden?«
Ich knirsche mit den Zähnen und balle meine Fäuste. Ich hasse es, dass Ace in der Lage ist, mir Befehle zu erteilen. Es wäre so einfach, mein Messer zu ziehen und ihm seine Kehle aufzuschneiden. Er würde es erst bemerken, wenn es bereits zu spät ist und das rote Lebenselixier aus der klaffenden Wunde sprudelt.
Aber genau das mache ich aus zwei Gründen nicht.
Erstens: Ich brauche ihn, um die Los Caídos zu besiegen und Deimos Kahlish loszuwerden.
Zweitens – und das ist das viel größere Problem – ich mag den Scheißkerl einfach.
Schnaubend drehe ich mich von ihm weg. »Ist gut. Ich werde sie in Ruhe lassen.«
4
Sie
Es gibt Ereignisse im Leben, die Narben auf der Seele hinterlassen, die so tief sind, dass man sie nicht mehr zu verbergen vermag.
Bisher habe ich mich für eine unerschütterliche Frohnatur gehalten, die nichts so schnell aus der Bahn werfen kann. Ich dachte, nachdem meine Mutter uns verlassen und mein Vater mich wie einen kostbaren Kanarienvogel eingesperrt hatte, dass mich nichts mehr in die Knie zwingen könnte. Als ich meiner Mama hinterhersah, wie sie mit zwei riesigen Koffern unser Haus für immer verließ, habe ich tagelang geweint. Mich in Selbstmitleid gesuhlt und an mir gezweifelt.
Sie hatte mir die Entscheidung überlassen, ihr nach Berlin zu folgen und mein ganzes Leben zurückzulassen. Bis zu dem Tag, an dem sie ging, hatte ich die romantische Vorstellung, dass meine eigene Mutter sich niemals gegen mich entscheiden würde. Dass sie nicht gehen würde, wenn ich mich dazu entschied, hierzubleiben. Doch sie hat mir bewiesen, dass auch die Liebe einer Mutter manchmal an ihre Grenzen stößt.
Und auch wenn ich es nicht wollte, wuchs irgendwo in mir der Keim eines Hirngespinstes heran: Sie hat mich nicht genug geliebt. Und wieso? Weil ich nicht gut genug war. Es musste an mir liegen. Ich weiß, dass es nicht so ist. Aber es gibt Gedanken, die man nicht unterdrücken kann. Sie kommen leise und heimlich. Unbemerkt schlägt die dunkle Saat wurzeln und schlingt ihre Ranken um die Seele und den Geist.
Ja. Ich hatte damals eine Wahl gehabt und eine Entscheidung getroffen. Und dennoch hatte ich gehofft, dass die Lippen meiner Mutter folgenden Satz formen würden: »Ohne dich gehe ich nicht!«
Eines Abends, als ich mich in den Schlaf weinte, kam mein Vater zu mir. Er setzte sich neben mich auf mein Bett und nahm meine Hand. Er sah mir in die Augen und sagte:
»Eine Königin steht auf und zieht ihr Schwert.«
Er spielte damit auf unseren Familiennamen König an. Es war ein Spruch, den er mir schon immer predigte, wenn ich hinfiel und weinte oder wenn ein Spielzeug kaputt ging. Ich hatte schnell gelernt, was dieser Satz bedeutet: Lass dich nicht unterkriegen. Das Leben geht weiter. Steh auf und kämpfe.
Seit diesem Tag habe ich nie wieder um meine Mutter geweint. Denn ich verstand: Es änderte nichts. Sie würde nicht zurückkommen und es half nichts, im Selbstmitleid zu versinken.
Doch trotz all dem muss ich jetzt lernen, dass ich nicht so unverwundbar bin, wie ich gedacht habe. Die Ritterrüstung dieser Königin hat Risse bekommen. Seitdem Tag, an dem ich einem Mann aus Notwehr ein Auge zerstach, suchen mich diese Bilder heim. Ich träume davon. Spüre noch in meinen Händen, wie das Plastik über den Schädelknochen schrammt.
Doch das sind noch die harmlosen Träume. Viel schlimmer sind die, in denen ich wehrlos gefesselt bin und mehrere Männer auf mich einschlagen und mir meine Kleidung vom Leib reißen. Jeder Traum endet damit, dass sie alle nacheinander aufplatzen, bevor sie mich vergewaltigen können. Nichts als blutige Häufchen aus Fleisch und Blut bleiben von ihnen zurück.
In all diesem Massaker steht ein Mann. Groß und bedrohlich. Ich weiß, dass es Seth ist, auch wenn ich sein Gesicht nicht sehe. Er blickt mich aus seinen dunklen, von Schatten umrahmten Augen an und dann geht er. Lässt mich gefesselt zurück in diesem Gemetzel