Silke Luinstra

Lebendigkeit entfesseln


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von Ihnen verlangt, auch Ihre eigenen Denkweisen und Überzeugungen auf den Prüfstand zu stellen, ja sogar Ihre Rolle infrage zu stellen und damit etwas, das auch Ihre Identität mitprägt. Das ist schwer, und ich habe vor jedem und jeder Respekt, der und die dieses Wagnis eingeht. Zum anderen hat jedes System, jede Organisation die Tendenz, so weiterzumachen wie immer. Von Ideen der Menschen, die in ihnen arbeiten, lassen sie sich nur zögerlich irritieren.

      Noch dazu fehlt oft eine Vorstellung davon, was alles möglich wäre. Dass es ein Krankenhaus mit fast 200 Mitarbeitern ohne formale Hierarchien geben kann. Dass eine Bank ohne Vertriebsdruck mehr als nur funktioniert. Dass funktionale Teilung selbst in einem Produktionsbetrieb nicht erforderlich ist. Dass Beiträge von Mitarbeitern gewürdigt werden, ohne ihnen Boni zu zahlen. Ohne diese Ideen und Vorstellungen von Alternativen kann aber keine Veränderungsenergie entstehen.

       Ohne Ideen und Vorstellungen von Alternativen entsteht keine Veränderungsenergie.

      Das war für meine Kollegen und mich eine wesentliche Triebfeder für unsere Initiative AUGENHÖHE und die Filme, die in deren Rahmen in den letzten Jahren entstanden: Wir wollten zeigen, was möglich ist, und das anhand von Unternehmen, die bereits seit Jahren erfolgreich auf ihre Art wirtschafteten. Und es ist ein wesentlicher Grund dafür, dass ich gerade – noch einmal zehn Jahre nach der Begebenheit am Hamburger Hauptbahnhof und fünf Jahre nach unserem ersten Film – in meinem Lieblingscafé sitze und meine Gedanken für Sie aufschreibe. Mich faszinieren lebendige Organisationen – und die Menschen, die dort Impulse setzen und Beiträge leisten für eine andere, lebendige Arbeit und Wirtschaft. Dafür stehe ich jeden Morgen auf: Ich möchte dazu beitragen, dass in unseren Organisationen – Unternehmen wie Schulen – anders gearbeitet wird. Zum Wohle der Menschen und der Organisationen. Oder anders gesagt: Ich möchte meinen Kindern eine andere Arbeitswelt hinterlassen, als ich sie selbst vorfand. Und am besten auch eine andere Schule, denn dort werden die Grundsteine für Überzeugungen bereits gelegt und gefestigt.

       Fesseln in Schulen

      30 erwachsene Menschen sitzen auf viel zu kleinen Stühlen an deutlich zu niedrigen Tischen. Wo sind wir? Richtig, in einer Grundschule, und es ist Elternabend. An einen denke ich besonders zurück: Meine Tochter war gerade eingeschult worden, es begann das zweite Halbjahr der ersten Klasse. Ihr Klassenlehrer erläuterte uns Eltern, weshalb er keine Arbeitsblätter einsetzt, auf denen die Kinder Lückentexte ergänzen und Aufgaben abarbeiten sollten. Er erklärte dies, indem er aus dem Hamburgischen Schulgesetz zitierte. In §2 (2) heißt es dort: »Unterricht und Erziehung sind auf die Entfaltung der geistigen, körperlichen und sozialen Fähigkeiten sowie die Stärkung der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Schülerinnen und Schüler auszurichten. Sie sind so zu gestalten, dass sie die Selbstständigkeit, Urteilsfähigkeit, Kooperations-, Kommunikations- und Konfliktfähigkeit sowie die Fähigkeit, verantwortlich Entscheidungen zu treffen, stärken.«

      Ich weiß noch, wie ich damals dachte: »Wow, so was steht im Gesetz?« Das war ja eine glasklare Vision für das »Wofür«, das »Was« und das »Wie« des Lernens, in der für Gegenwart und Zukunft sehr zentrale Kompetenzen vorkamen. Das sah der Klassenlehrer auch so und lehnte daher »Arbeitsblattpädagogik«, wie er es nannte, ab. Damit würden Aufgabenerfüller sozialisiert, davon stünde aber weder etwas im Gesetz noch würde er seine Aufgabe als Lehrer so verstehen, noch denken, dass diese Kompetenz in unserer heutigen Welt von zentraler Bedeutung wäre. Er wollte, dass die Kinder am und vom echten Leben lernen. Potenzialentfaltung und Individualität sollten im Vordergrund stehen und weniger die Erfüllung von Zielen, die andere gesetzt, und die Abarbeitung von Aufgaben, die andere vorgegeben hatten.

      Klingt gut? Das fanden offenbar nicht alle anwesenden Eltern. Nachdem der Lehrer seine Ausführungen beendet hatte, flogen gleich mehrere Hände hoch. Zuerst meldete sich ein Vater zu Wort. »Wir hatten auch Arbeitsblätter und haben Aufgaben erledigt. Und überhaupt: Was soll daran schlecht sein, wenn Kinder tun, was man ihnen sagt?« »Richtig«, ergänzte eine Mutter, »das hat uns offenbar auch nicht geschadet. Schauen wir uns doch hier um, aus den meisten ist dem Anschein nach etwas geworden – mit Arbeitsblättern.«

      Das stimmt, die meisten von uns haben ihren Weg gemacht, und doch bin ich mir nicht so sicher, ob es wirklich nicht geschadet hat. Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass nicht wenige heute erwachsene Menschen Blessuren aus ihrer Schulzeit davongetragen haben, meistens unbewusst. Nehmen Sie nur den weit verbreiteten Glaubenssatz, nur etwas wert zu sein, wenn man etwas leistet, oder die Erfahrungen von Scham, wenn man an die Tafel musste und es nicht draufhatte, die bis heute bei Präsentationen vor Gruppen nachwirken. Auch der »Funktioniermodus«, in dem viele von uns in ihren Organisationen – und leider auch sehr oft außerhalb – leben, ist in der Schule bereits gespurt worden.

      Schon in der Grundschule arbeiten die Kinder Listen ab, füllen Arbeitsblätter aus und lernen nach vorgegebenen Plänen, häufig im Gleichschritt. Wer schnell begreift, ist gelangweilt, wer länger braucht, hoffnungslos überfordert. Individueller Blick auf Anstrengung und Fortschritt? Oft Fehlanzeige. Es kommt darauf an, der Beste oder die Beste zu sein. Schwache bleiben draußen, Fehler werden rot angestrichen und Fünfen verteilt. Die unausgesprochene Botschaft: »Tu, was dir aufgetragen wurde – und das möglichst perfekt.«

       Der heimliche Lehrplan

      Unbewusst tragen wir Eltern und auch die Lehrer mit ihren eigenen Schulerfahrungen aus der Vergangenheit zur Schule von heute bei. Eine mindestens ebenso große Rolle spielen aber die Erlebnisse in den Unternehmen und Organisationen, in denen die Mütter und Väter tätig sind. Nur allzu oft sind diese Erfahrungen geprägt von gefesselter Lebendigkeit, wie wir im vorherigen Kapitel gesehen haben.

      Wer aber immer wieder bestimmte Erfahrungen macht, entwickelt daraus eine bestimmte innere Haltung. Sie prägt Wahrnehmungen, Bewertungen und Entscheidungen. Somit wundert es mich nicht, wenn Eltern Arbeitsblätter und Strafarbeiten fordern – sie haben diese Mechanismen an vielen Stellen erlebt. Ebenso wie hierarchisches Denken, Konkurrenz, Standards, Kontrolle und Regelkonformität – alles Elemente, die den heimlichen Lehrplan von Schulen noch heute prägen.

      Sie meinen, ich übertreibe? Ich wünschte, Sie hätten recht, aber angesichts so mancher Erlebnisse in den Schulen meiner Kinder und vieler Gespräche mit Eltern befürchte ich, dass meine Beschreibungen nicht überzogen sind. Ich erinnere mich noch sehr gut an den Tag, als mein Sohn bedrückt aus der Schule kam – am dritten Tag in der Vorschule. Dass die Schuleuphorie so schnell vorbei sein würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Was war passiert? Die Lehrerin hatte eingeführt, dass die Kinder morgens nach Betreten des Klassenraums zu ihr nach vorne kommen und ihr die Hand geben sollten. »Mama, muss ich das machen?«, fragte mein Sohn. »Ich finde das doof.«

       Hierarchisches Denken, Konkurrenz, Standards, Kontrolle und Regelkonformität – prägen den heimlichen Lehrplan in den Schulen.

      Nun werden Sie vielleicht sagen, eine freundliche Begrüßung, noch dazu mit einem Händedruck, ist doch etwas sehr Schönes. An sich schon, da bin ich ganz bei Ihnen. Gleichzeitig gab es da offenbar etwas, was bei meinem damals fünfjährigen Sohn das diffuse Gefühl auslöste, dass irgendetwas nicht stimmte. Er fühlte sich sehr unwohl.

      Es wurde ein längeres Gespräch zwischen Mutter und Sohn, in dessen Verlauf deutlich wurde, dass es in der Tat nicht um die Geste des Händeschüttelns an sich ging. Sondern darum, wie diese Begrüßung von der Lehrerin inszeniert worden war. Mit seinen fünf Jahren brachte es mein Sohn damals ziemlich direkt auf den Punkt: »Die ist doch keine Königin, die auf dem Thron sitzt.« Er fühlte sich durch die Art der Inszenierung klein – und erniedrigt.

      Dieses Erlebnis hat mir sehr zu denken gegeben. Da wird aus einer an sich schönen und gut gemeinten eine abwertende und erniedrigende Geste. Aus etwas, was ich gerne tue, nämlich jemanden begrüßen, wird eine Verpflichtung. Ich dramatisiere? Es kann schon sein, dass ich an dieser Stelle – ebenso wie offenbar mein Sohn – besonders empfindlich bin. Für mich zeigt diese Geschichte, wie fein und subtil der heimliche Lehrplan