Silke Luinstra

Lebendigkeit entfesseln


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und wir über ihre Erfahrungen mit Schule sprachen, sagten beide unisono, sie würden sich gerne viel mehr selbst erarbeiten und es nicht vorgesetzt bekommen. Damit würden sie nicht nur Wissen erwerben, sondern so wichtige Kompetenzen wie Selbstorganisation, Eigenverantwortung und kritische Auswertung von Informationen gleich mitentwickeln. Die jungen Menschen machen beim eigenverantwortlichen Lernen auch die Erfahrung von Selbstwirksamkeit – und die ist unbezahlbar. Wer erlebt, auch schwierige Situationen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können, wird sich Herausforderungen viel leichter stellen.

      Wer aber immer wieder von anderen Menschen hört, dass er ein Versager ist – zum Beispiel ausgedrückt durch Noten –, dessen Überzeugung, selbstwirksam sein zu können, wird nachhaltig geschwächt.

       Wissen allein genügt nicht

      »Das Fachwissen der Schulabgänger, die zu uns kommen, ist zufriedenstellend. Und es ist viel weniger wichtig, als Eltern denken.« Das sind die Worte von Frank Liebelt, ehemaliger HR Group Director bei Vaillant, einem großen, international tätigen Familienunternehmen im Bereich Heiz- und Kühltechnik, in einem Interview mit der Initiative »Schule im Aufbruch«. Was er vermisst? Eigenverantwortung, Initiative, Kooperationsfähigkeit, kritisches Denken. »Auszubildende nehmen Vieles unkritisch hin. So kennen sie es aus der Schule – der Lehrer sagt, was sie bis Montag machen sollen, und dann machen sie das«, ergänzt er seine Aussage.

      Wenn aber schon junge Menschen so in die Unternehmen kommen, wie wollen wir dann eine andere Art zu Arbeiten etablieren? Es ist heute viel subtiler als noch zu meiner Schulzeit, aber letztlich konditioniert Schule immer noch auf Wissen und Anpassung, das wird unter anderem an der Aussage von Frank Liebelt deutlich.

      Die Verantwortlichen bei der UNESCO werden sich aber etwas dabei gedacht haben, als sie neben der ersten Säule »Lernen, Wissen zu erwerben« drei weitere formulierten: »Lernen, zu handeln.« Und das vor allem, wenn noch nicht klar ist, was gerade »das Richtige« ist, möchte man ergänzen. Es geht ganz besonders um Handlungsfähigkeit in unklaren, komplexen Situationen. Die dritte Säule heißt: »Lernen, zusammenzuleben.« Und damit auch lernen, zusammenzuarbeiten, denn die Zeit der genialen Individualisten, die etwas ganz alleine tun, ist definitiv vorbei. Und als vierte Säule formulierte die UNESCO: »Lernen, zu sein.« Damit ist so etwas gemeint wie, sich selbst zu kennen, zu reflektieren und die eigene Entwicklung zu gestalten. »Lernen, zu sein« ist der wohl wichtigste Aspekt – und zugleich der am wenigsten in Schulen berücksichtigte. Aber nur alle vier Säulen zusammen ergeben eine Bildung, die dem Leben gerecht wird, und eine, die junge Menschen auf die Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft angemessen vorbereitet.

      Doch statt diesen Gedanken zu folgen, schränken wir die Lebendigkeit der Schüler ein, wir legen ihr Fesseln an. Das hat Folgen für uns Menschen, unsere Organisationen und die gesamte Gesellschaft. Diese ganzen Fesseln haben Folgen, die weit über die Schule hinauswirken.

       Folgen für Menschen, Organisationen und Gesellschaft

      Ich weiß nicht, wie es Ihnen beim Lesen der letzten beiden Kapitel ging. Beim Schreiben hatte ich phasenweise ganz schön schlechte Laune, und in den Ärger mischte sich gleichzeitig mit jeder Zeile einmal mehr Traurigkeit. Weshalb?

      Weil das, was ich auf den letzten Seiten beschrieben habe, sich nicht nur in unseren Organisationen, Behörden und Schulen abspielt. Das für sich genommen wäre schon beklagenswert genug. Es ist aber in der gesamten Gesellschaft präsent und hat Einfluss auf das Leben jedes Einzelnen. Viele von uns verbringen acht oder mehr Stunden am Tag an ihrem Arbeitsplatz, das ist ein großer Teil unserer wachen Lebenszeit. Dort etwas bloß »auszuhalten« ist bitter. Unsere Schülerinnen und Schüler sind zehn, zwölf oder dreizehn Jahre in diesem System unterwegs. Jetzt könnten Sie sagen: »Ja, nicht schön, aber das ist eben so. Es geht nicht anders, da muss man eben mal den Arsch zusammenkneifen.«

       So viele haben sich daran gewöhnt, dass ihre Lebendigkeit gefesselt ist und bemerken es kaum noch.

      Ich bin bei Ihnen, dass das mit dem Arsch manchmal notwendig ist. Doch als Dauerzustand über Jahre taugt das nicht. Der Preis dafür ist eindeutig viel zu hoch. Und wissen Sie, was das Schlimmste ist? So viele haben sich daran gewöhnt, dass ihre Lebendigkeit gefesselt ist und sie diesen Preis fortwährend zahlen, dass sie es selbst kaum noch bemerken – oder erst sehr spät. Wenn sich der Körper mit unüberhörbaren Zeichen wie Tinnitus, Verspannungen, Burn-out oder gar Herzinfarkt meldet. Und selbst, wenn es dazu schon gekommen ist, gilt die Aufmerksamkeit der Betroffenen nicht selten der Frage, wie sie schnell fit werden können, um wieder mitzulaufen im Hamsterrad. Zu klischeehaft? Ich würde mich freuen, wenn es so wäre, doch mir sind dafür schon zu viele Menschen begegnet, die genau diese Geschichten von gefesselter Lebendigkeit in ihren unterschiedlichen Facetten erzählen.

       Noch mehr schaffen

      Einer von denen, bei denen sich der Körper sehr vernehmbar gemeldet hatte, ist Jochen, Führungskraft in einem DAX-Unternehmen. Ihm bin ich an einem meiner Abende bei sysTelios begegnet, wo er sich von den Folgen eines Herzinfarktes erholte. sysTelios ist eine psychosomatische Klinik oder, wie sie selber lieber sagen, ein Gesundheitszentrum.

      Da wir sehr eng mit der mit der Klinik verbundenen sysTelios-Akademie zusammenarbeiten, bin ich häufiger mal dort in dem kleinen Ort Siedelsbrunn mitten im Odenwald. Aus der kurzen Begegnung mit Jochen an der Kaffeemaschine wurde ein abendfüllendes Gespräch. Angefangen hatte alles mit Jochens Bemerkung, er würde den Espresso am Abend jetzt nicht mehr trinken, um wach zu bleiben, sondern um ihn zu genießen. Als ich ihn fragte, wie es zu diesem Wandel gekommen war, begann er zu erzählen: Er war schon seit über 15 Jahren in der Position im Unternehmen, er war anerkannt, musste sich keinerlei Sorgen um seine Position machen und beherrschte sein Aufgabenfeld. Keine 70-Stunden-Wochen, kein Mobbing, kein »unfähiger« Chef. Wo war dann das Problem? »Die Fixierung auf Leistung«, sagte Jochen. »Leistung war letztlich das Einzige, was zählte. Du musstest Leistung bringen, eine Alternative dazu gab es nicht wirklich.«

      Das war keineswegs offensichtlich, sondern sehr subtil. Oberflächlich betrachtet, so sagte Jochen, hatte er sehr viele Freiheiten in der Erledigung seiner Arbeit gehabt. Flexible Arbeitszeiten und Homeoffice waren selbstverständlich geworden, niemand schrieb ihm vor, was er an einem Tag zu tun oder zu lassen hatte. Es gab sogar Meditationsangebote im Unternehmen, um Zeit zum Ausatmen zu haben.

      Aber am Ende zählte eben doch nur, ob er die Deadline gehalten hatte, das Projekt gestemmt und seine Aufgaben abgearbeitet hatte. Feedbackinstrumente sorgten dafür, dass er sich ständig auf seine Defizite, Schwächen und Verbesserungsmöglichkeiten fokussierte und sich permanent weiter optimierte. Auch die Meditation diente letztlich diesem Zweck: durch die Pause wieder fit werden, um auch nach dem Mittag produktiv weiter arbeiten zu können. »Noch mehr schaffen«, das war die Devise. »Und weißt du, was verrückt ist?«, fragte er mich. »Ich habe diese Optimierungsidee mit in andere Lebensbereiche genommen!« Nach und nach wurden auch Dinge, die ihm eigentlich Spaß machten, wie der Spaziergang mit dem Hund oder die Zubereitung des Abendessens, zu Positionen auf der To-do-Liste, die es abzuhaken galt. »Viele Tage habe ich in einem roboterähnlichen Zustand verbracht«, fuhr er fort. »Ich konnte am Abend kaum sagen, was ich erlebt, gegessen, gesehen, getan hatte.« Das alles war ihm aber erst in der Rückschau bewusst geworden. »Mein Leben war ganz normal, wie das meiner Kolleginnen, Mitarbeiter, Geschwister und Freunde eben auch.«

      Dieses »Mach was aus dir!«, »Streng dich an!«, »Optimiere dich!«, das Jochen aus Zeitungen, den sozialen Medien, Podcasts und Ratgeberliteratur entgegenschallte, hatte sogar dazu geführt, dass er sich zunächst selbst die Schuld an seiner Krankheit gegeben hatte. Er schien etwas falsch gemacht, sich nicht gesund genug ernährt, nicht genug geschlafen oder sich zu wenig bewegt zu haben. Als er das so sagte, musste ich erst einmal schlucken. Das war heftig.

      Doch es ist wohl so in unserer Gesellschaft: Allzu schnell sollen die Menschen an ihrem Schicksal selbst schuld sein, der Arbeitslose an seiner Arbeitslosigkeit,