ohne Solidarität taugt eben auch nichts.
Jochen erzählte, dass ihm erst während der durch seine Krankheit erzwungenen Pause klar geworden war, wie sehr er unter Druck gestanden hatte. Das war nie offensichtlich und doch – oder gerade deswegen – sehr wirkungsvoll. »Es war bei uns im Bereich nie so, wie ich es von im Vertrieb tätigen Kollegen kannte«, sagte er. »Die standen sehr offensichtlich in Konkurrenz zueinander, und die Ziele waren so gesetzt, dass sie kaum erreichbar waren.« So etwas gab es bei ihm nicht, und doch war der Drang, sich als besser als andere zu präsentieren und zu glänzen, immer da – bei der Arbeit und darüber hinaus.
Mir wurde in dem Moment bewusst, dass sich dieser Drang auf Facebook, LinkedIn, Instagram, bei Parship und Tinder bestens studieren lässt. Jeder glänzt, Schwächen hat niemand – bis auf die üblichen wie Ungeduld oder sehr hohe Ansprüche. Was daran, so fragten Jochen und ich uns, gehört einfach zu uns Menschen? Sind wir von Natur aus egoistische Wesen, die auf den eigenen Vorteil bedacht sind und ständig nach »Mehr« streben? Sind Konkurrenzdenken, Eitelkeit und Selbstsucht der Menschen möglicherweise nicht auch Antrieb für Innovation und Fortschritt? Oder sind wir in unserer Grundprogrammierung eher altruistisch und sozial und entwickeln Neuerungen eher aus dem Gedanken des Nutzens für andere heraus?
Wir haben, so unser Schluss, vermutlich beide Seiten in uns und können diese je nach Kontext einsetzen. Die Frage ist eher, wo wir zu Hause sind und was wir bei Bedarf nutzen. Gunther Schmidt, einer der Gründer der sysTelios-Klinik, nennt das den »persönlichen Squashpoint«. Wie er auf dieses Bild kommt? Wenn Sie wie ich und viele der in den 1980er-Jahren Aufgewachsenen ab und zu Squash gespielt haben, dann erinnern Sie sich vielleicht: Man steht in einem ziemlich engen Raum, die Wände sind auch Spielfläche, der kleine Ball flitzt schnell hin und her. Sie haben eigentlich nur dann eine Chance, wenn Sie immer schnell auf den Punkt zurückkehren, an dem sich die Linien kreuzen – den Squashpoint – und von dort aus agieren, was so manches Mal weite Ausfallschritte bedeutet. Mir gefällt dieses Bild gut, es illustriert für mich, dass ich einen Punkt habe, von dem aus ich handle, von dem aus ich aber mit Ausfallschritten auch andere Verhaltensweisen zur Verfügung habe. Die Frage ist nur: Wo ist unser Squashpoint? Für jeden von uns liegt dieser Punkt woanders: Was für Sie mit einem kleinen Schritt erreichbar ist, könnte für mich einen großen Ausfallsschritt bedeuten, also am Rande dessen liegen, was zu meinem Verhaltensrepertoire gehört.
Jochen und ich diskutierten immer weiter bis in die abendliche Dunkelheit hinein, denn der Aspekt, den wir mit dem Squashpoint aufgeworfen hatten, erschien uns ausgesprochen relevant. Studien, Forschungsergebnisse und Analysen, so war uns schnell klar, würden uns darauf keine Antwort geben, denn deren Ergebnisse sind so vielfältig wie die Werte und Motivationen derer, die sie erstellen. Wirtschaftsliberale in der Tradition eines Milton Friedman sehen eher Egoismus als Triebfeder des Menschen, Sozialunternehmer wie der Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus legen ihren Analysen die Annahme zugrunde, dass wir Menschen von Natur aus altruistisch sind. Aber dann, so wurde uns immer klarer, geht es nicht um die Frage, ob eher Friedman oder Yunus recht hat, sondern darum, wo wir unseren Squashpoint sehen und was wir tun und lassen, um immer wieder zu diesem zurückzukehren. Doch das ist noch nicht alles. Es geht auch um die Frage, für was für eine Welt wir unterwegs sein wollen.
Inzwischen war es ein Uhr und längst still geworden um uns herum. Wir einigten uns darauf, die zuletzt entdeckten Fragen mitzunehmen. Wider Erwarten konnte ich gut einschlafen, vielleicht weil die Fragen, die Jochen und ich uns zum Schluss unseres Gesprächs gestellt hatten, ermutigende Fragen waren.
»Silke«, begrüßte mich Jochen am folgenden Morgen beim Frühstück, »das mit dem Squashpoint ist Mist. Mir tun schon bei dem Gedanken daran die Beine weh, weil ich permanent weite Ausfallschritte am Rande der Zerrung mache.« Um die – vermuteten und ausgesprochenen – Erwartungen seines Umfeldes zu erfüllen, musste Jochen sich permanent strecken. Anstrengend. Sehr anstrengend. Nun war Jochen kein Typ, der grundsätzlich etwas gegen Anstrengung hatte, doch als permanenter Zustand ist das schwer zu ertragen. »Und eines will ich bestimmt nicht«, ergänzte er. »Das, was ich hier in den Therapien lerne und erfahre, nur dafür einsetzen, bessere Ausfallschritte machen zu können.« Ich konnte ihn gut verstehen. Und doch, dachte ich, während ich in meinem Kaffee rührte, das Bild vom Squashpoint ist bei aller Anstrengung auch sehr treffend. Es illustriert einerseits, dass es hilfreich ist zu wissen, wo wir uns zu Hause fühlen, und andererseits, dass wir uns von dort aus in ungewohnte Gefilde strecken können und dass diese Schritte nicht beliebig groß werden können, ohne dass wir uns verletzen.
Wie sehr Jochen das Ideal von Schaffen, Konkurrenz und Erfolg verinnerlicht hatte, wurde ihm in diesen Wochen nach seinem Infarkt erst so richtig deutlich. Der eindrücklichste Satz, den er über diese Zeit sagte, war: »Die Tage haben endlich wieder die richtige Geschwindigkeit«. Was für eine schöne Formulierung! »Ich bin ein echtes Klischee«, fügte er nur im halb im Scherz an. »Ich musste erst umkippen, um es zu kapieren.« Weshalb machen Menschen sowas eigentlich mit – und empfinden es sogar noch als Freiheit? Diese Frage begleitet mich nicht erst seit dem Gespräch mit Jochen, und sie wird auch in diesem Buch immer wieder mitschwingen.
Ansteckende Lähmung
Eine, die noch rechtzeitig die Reißleine gezogen hat, ist Kathrin. Wir lernten uns genau an dem Tag kennen, an dem sie ihren Aufhebungsvertrag unterschrieben hatte. Bis zu diesem 20. August 2019 war sie Mitglied der Geschäftsleitung eines inhabergeführten Unternehmens der Finanzbranche gewesen. Zwei Jahre zuvor hatte sie diese Stelle angetreten, nach einer Karriere in großen Unternehmen und mit dem Gefühl, in dieser mittelständischen Organisation nun mehr als bisher bewegen zu können. Immerhin war sie ja sogar im Vorstand – und aus dieser durchaus machtvollen Position heraus hatte sie Wirkung entfalten wollen. So ihre Ambitionen.
Der Anfang war wunderbar. Das Team, mit dem Kathrin zusammenarbeitete, war großartig und ihre Initiativen fielen auf fruchtbaren Boden. Doch es mehrten sich Erlebnisse, die Kathrin stutzig machten. Ihr fiel auf, dass die Menschen in ihrem Team zwar bereitwillig Vorschläge von ihr aufgriffen, jedoch nie selber welche einbrachten, obwohl sie als Chefin dies ausdrücklich »erlaubt«, es sich sogar gewünscht hatte. »Ich hatte die Fesseln durchgeschnitten«, formulierte Kathrin, »aber trotz der gelösten Fesseln bewegte sich niemand auch nur einen Zentimeter.«
»Ich hatte die Fesseln durchgeschnitten, aber trotz der gelösten Fesseln bewegte sich niemand auch nur einen Zentimeter.«
Das blieb bis zuletzt so. In einem Gespräch fragte sie einen ihrer Mitarbeiter, in welche Richtung er sich gerne weiterentwickeln möchte. Er schaute sie mit großen Augen an: Das hatte ihn noch niemand gefragt. Ihn und auch viele andere nicht, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden. Überhaupt ging es in dem Unternehmen selten um die Menschen selbst, sondern nur um das, was sie taten. Im Blickpunkt stand deswegen, dass der Wertgutachter nicht schnell genug das Gutachten lieferte – und nicht etwa, dass der Herr Meier, der Mensch hinter dem Wertgutachter, gerade große Sorgen hatte und deshalb vielleicht mal für ein Gutachten einen Tag länger braucht. So dominierten Rückmeldungen eher negativer Natur oder sie blieben ganz aus. Nur ausnahmsweise wurde formuliert, was man gebraucht hätte – was deutlich konstruktiver gewesen wäre.
Kathrin erlebte immer mehr, dass auch die Kollegen auf ihrer Ebene kapituliert hatten. »Das bringt doch eh nichts, das ist halt so, das war schon immer so, ich versuche hier nichts mehr«, diese Sätze hörte sie sehr oft. Von dieser Lähmung wollte sie sich nicht anstecken lassen. Sie hatte bemerkt, dass sich diese resignierte Haltung auch schon in ihrem sonstigen Leben breitzumachen begann – und das war für sie das Alarmzeichen, das zur Kündigung geführt hat. Sie erkannte sich selbst nicht mehr, so antriebslos und pessimistisch hatte sie sich schon sehr lange nicht mehr erlebt. »Ich fing an, die Beziehung zu mir selbst zu verlieren«, fasste sie ihre Emotionen dazu zusammen.
Eine Frage der Dosis
Eigentlich wollte ich nun an dieser Stelle zusammenfassen, wofür Jochen und Kathrin für mich stehen. Doch ich möchte Ihnen nicht vorenthalten, was ich gerade beim Mittagessen mit meiner Tochter erlebt habe. Sie haben Rianna im letzten