Will Berthold

Lebensborn e.V. - Tatsachenroman


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um zu verfolgen, wie sein Befehl von den SS-Führern ausgeführt wird.

      Die beiden SS-Leute sehen es und stehen auf. Sie gehen eckig auf den anderen Tisch zu, während die Maiden geflissentlich an ihnen vorbeisehen. Der vordere überspielt seine Verlegenheit.

      »Na«, sagt er, »was macht ihr denn hier?« Dabei nimmt er einen Stuhl und setzt sich umständlich.

      »Ihr seid wohl taubstumm?« fragt der zweite.

      »Nein«, erwidert eines der Mädchen, »ihr seid ja auch nicht sehr gesprächig.«

      »Kommt schon noch«, beteuert der erste, bevor er schweigt. Er dreht sich nach seinem Kameraden um und flucht halblaut: »Herrgott . . . zum Trinken müßte man was haben!«

      Zufriedener ist der Heimleiter schon mit dem Musiksaal, dessen verstimmtem Klavier ein junger Leutnant markige Weisen abgewinnt, angefeuert von dem angetrunkenen Hauptsturmführer Kempe, der immer bei allem vorangehen muß. Dieser Raum reißt die erste Bresche in die lähmende Atmosphäre des Lebensborn-Heimes. Hier finden die ersten zusammen, weil sie primitiv oder kaltschnäuzig, angetrunken oder gleichgültig sind, oder weil sie ganz einfach die Befangenheit zu Paaren treibt. Hier stehen die Männer und Mädchen bereits in bunter Reihe um das Instrument. In einem improvisierten Wunschkonzert, für das das Repertoire des Pianisten nicht ausreicht.

      »Los!« ruft Kempe mit dröhnendem Baß dem Klavierspieler zu. Er fuchtelt mit den Armen den Rhythmus mit und grölt:

      »Oh . . . du schö-ö-öner Westerwald . . .« Beim Wort ›schön‹ fährt seine Stimme Schiffschaukel.

      Ein Mädchen lacht hell. Zwei Männer singen mit. Ein Untersturmführer legt die pralle Hand auf die Schulter einer üppigen Blondine. Sie kichert und zeigt neckische Gegenwehr.

      » . . . pfeift der Wind so kalt . . .«, tobt Hauptsturmführer Kempe.

      Dann sieht er den Heimleiter und bricht ab.

      »Weitermachen!« befiehlt der Sturmbannführer zum zweitenmal. Er klopft dem Klavierspieler auf die Schulter. »Bringen Sie nur etwas Leben in die Bude, Mann . . .« Bevor er den Raum verläßt, setzt er überflüssig hinzu:

      »Herrschaften, morgen um zehn, im Lehrsaal eins . . . Heil Hitler!«

      »Heil Hitler!« rufen sie zurück.

      Dann marschiert der Westerwald wieder. Kempe hebt den oberen Deckel des Klaviers auf und starrt auf die Saiten. Wenn er Bier zur Hand hätte, würde er es hineinschütten, wie in Polen oder sonst irgendwo, wo man erobern und zerstören konnte.

      Dabei mögen die Mädchen ihn. Er ist nicht unsympathisch, und man merkt ihm gleich an, was er will, im Guten wie im Bösen. Der Hauptsturmführer hätte Gelegenheit, nach der Schönsten zu sehen, aber er pflegt immer nach der nächsten zu greifen.

      Heute nach Lotte, der gläubigen RAD-Führerin, die sich gerade in ihrem Zimmer umzieht, weil ihr die Weltanschauung doch noch etwas Platz zur Eitelkeit läßt.

      Der Spaß mit dem Klavier wird Kempe zu langweilig. Er klappt den Deckel zu. Bier kann er doch nicht hineingießen, und im übrigen hat er noch Schnaps auf der Bude, der in diesem Hause so verpönt wie notwendig ist.

      Auf dem Gang trifft er Klaus Steinbach, der sich nach dem Zusammenstoß mit Doris vom Garten in das Haus stiehlt.

      »Na, Kamerad«, sagt er, »heben wir wieder einen?«

      »Laß mich.«

      »Ja, weeß schon . . . det tolle Ding mit deiner Braut . . .«

      Klaus geht weiter. Der Hauptsturmführer läuft hinter ihm her.

      »Laß doch den Kopp nich hängen, Mann . . . hier jibt’s doch ville Bräute . . .« Er lacht breit und behaglich, »ick hab’ schon eene . . . sehr schön is se nich, verstehste . . . aber sonst . . .«

      Klaus geht in sein Zimmer, knallt die Türe zu und dreht sofort den Schlüssel herum.

      Der Hauptsturmführer schüttelt erschrocken den Kopf und geht zurück.

      Lotte trägt einen hellen Pullover zu einem grauen Flanellrock.

      »Na, Mädchen . . . da biste ja . . .«, begrüßt sie der SS-Offizier. »Gehen wir noch ein bißchen bummeln . . . frische Luft . . .«

      »Ja«, antwortet die RAD-Führerin kleinlaut.

      Sie gehen durch den Park. Er legt automatisch seine Hand um ihre Schulter, zieht Lotte an sich. Es ist vielleicht das erste Mal, daß sie in ihrem bescheidenen Leben die noch bescheidenere Zärtlichkeit eines Mannes streift und sie so stark durchpulst wie der Glaube an den Führer.

      »Na, nu biste ja janz manierlich . . .« Der Mann mit dem einen Meter 88 großen Selbstbewußtsein streichelt ihr Kinn. Dann kämpft Schnapsdunst mit Nachtluft.

      »Schon viel erlebt?« fragt er.

      »Wie meinen Sie das?«

      »Mensch, Lotte, wir sagen doch du zueinander . . .«

      »Ja«, erwidert sie. Sie hebt zuerst den Kopf, dann die Augen. »Ich hab’ noch nichts erlebt . . .«, antwortet sie dann leise, »und ich möchte auch nichts erleben . . . so nicht . . . ich will . . .«

      »So, nischt . . . und da kommste hierher?«

      Er betrachtet Lotte, die verwirrt auf den Boden sieht. Er zieht die Schultern hoch.

      »Na . . . mir soll’s recht sein . . .«, brummt er. Er läßt die Zügel seiner Gedanken schießen. Schließlich sagt er mit trunkenem Trübsinn:

      »Alles Mist . . . dieser Quatsch!«

      Dann bleibt er stehen und zieht Lotte unvermittelt an sich. Sie macht sich steif wie eine Puppe. Sie zittert. Aber ihre Lippen sind kalt. Sie denkt an das Opfer, das sie bringen will und beißt die Zähne aufeinander. So schwer ist das, überlegt sie. Aber ich tue es ja nicht für mich . . . für die anderen, für die Bewegung, die mich dafür ausgewählt hat, und die das Volk durch Nacht zum Licht führt.

      »Komm«, sagt Kempe leise, »wir gehen nach oben . . .«

      Die RAD-Führerin nickt schwerfällig und mechanisch mit dem Kopf. Ihr Nacken ist steif. Ihre Augen wirken starr. Sie hat Angst. Vor dem Opfer, das jetzt kommen muß . . .

      Doris weinte tränenlos. Sie lag wach. Die Verzweiflung schüttelte sie wie ein Krampf. Sie hörte seine Worte wie von einer Geisterstimme wiederholt. Immer den gleichen Satz, denselben Sinn:

      »Ich will dich nie wiedersehen, hörst du, nie wieder . . .«

      Gut, dachte Doris, ich will es dir leicht machen, Klaus, ganz leicht . . .

      Sie hörte Schritte vor der Tür und richtete sich auf. Sie hoffte, daß er doch noch zu ihr finden würde, und sie fürchtete, daß ein anderer Zugang suchen konnte. Stand da nicht jemand vor der Tür?

      Von unten kam wieder Lachen, Gesprächsfetzen. Türen wurden zugeschlagen. Entfernte Schritte trampelten über die Gänge. Wieder drehte einer am Radio. Was macht Klaus jetzt, überlegte Doris, denkt er wenigstens an mich? Und warum das alles? Was ist das für ein System, das junge Mädchen so erniedrigt? Wer hat das Recht, so in ihre natürlichen Empfindungen, in ihr persönliches Leben einzugreifen? Wer darf sie so versachlichen? Wer stellt die ungeheuerliche Forderung an sie, ihre Kinder so dem Staat zu opfern, wie man einst im alten Babylon die Erstgeborenen in den glühenden Rachen des Götzen Baal schleuderte?

      Ein leiser Trost streichelte sie in diesem Moment. Ich versteh’ dich ja, Klaus, dachte sie, daß du damit nichts zu tun haben willst. Ich würde dich sonst nicht lieben können . . .

      Doris war ein junges, natürliches Mädchen, das eine junge, natürliche Mutter werden wollte, deren Hände ihr Kind zärtlich streicheln, deren Ohren verzückt hören, wie es zum erstenmal das Wort Mutter ausspricht. Und dieses Kind sollte von Klaus sein, dem Nachbarssohn, den sie von klein auf liebte; von demselben Oberleutnant Klaus Steinbach, der sie jetzt haßte, erniedrigte und beleidigte, weil die Zeit sie wie