Will Berthold

Lebensborn e.V. - Tatsachenroman


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. . .«, sagte Doris leise. Ihre Stimme klang verloren. Ihre schmale Gestalt wirkte hilflos und rührend. Ihre Arme blieben auf halbem Wege stehen, wie von Angst gelähmt.

      Sie standen voreinander, reglos und fremd. Das Gesicht des jungen Offiziers war fahl, die Augen des Mädchens schimmerten feucht. Irgendwo wurde eine Tür zugeknallt. Dann klang eine rostige Stimme laut durch den Park:

      »Kann denn Liebe Sünde sein . . .?«

      Klaus’ Lippen zuckten mit, fast im gleichen Takt. Er hatte Doris sofort erkannt. Aber er sah sie nicht an. Etwas streifte ihn weich. Aber er gab dem Strom nicht nach. Er suchte nach einem befreienden Wort. Aber er fand nur bange Gedanken.

      »Klaus . . .«, begann Doris zum zweitenmal, »bitte . . . sag doch was . . .«

      Er schwankte leicht nach vorne wie ein Baum unter einem plötzlichen Windstoß. Dann sah Doris sein Gesicht fast über ihrer Stirn, nahe auf einmal, unheimlich nah. Sie erschrak.

      »Das also . . .«, quetschte er zwischen den Zähnen hervor, »das also . . . hast du dir aufgespart . . . weißt du noch . . . damals . . . im Urlaub?«

      Er sprach die Worte nicht. Er spuckte sie aus. In seinem Gesicht zuckten die Muskeln wie Gefühle, und über diese nachtfahle Skala zogen Verzweiflung und Not, Liebe und Haß, Enttäuschung und Hoffnung.

      Das Mädchen hielt ihm den Kopf entgegen, schmal und blaß. Eine Sekunde lang wußte Klaus, daß er Doris nie schöner gesehen hatte. Ihre Lider und Lippen waren geschlossen. Aber er übersah ihr Gesicht. Er schluckte, schmeckte die Bitternis, bis es ihm weh tat.

      Da ging er weiter. Mechanisch. Schritt für Schritt. Ziellos. Er hatte mit seinen weichen Knien fertig zu werden. Er ließ Doris stehen, als gäbe es sie nicht auf der Welt. Und dabei hatte seine Welt einmal nur aus Doris bestanden.

      Mein Gott, dachte das Mädchen, das kann, das darf doch nicht so enden! Bei Doris war die Liebe größer als der Trotz, die Sehnsucht stärker als der Schmerz. Deshalb folgte sie ihm, über die Gartenwege hinweg, die sich in der Finsternis verloren. Zögernd zunächst, dann rascher. Schließlich holte sie ihn ein.

      Sie legte die Hand auf seinen Arm. Er zuckte zusammen, zog seinen Arm krampfhaft zurück.

      Doris begann zu sprechen, zu bitten. Sie wollte erklären. Es war doch alles so einfach und ohne ihr Zutun gekommen! Da stellte sie entsetzt fest, daß es keine Erklärung gab, daß das Einfache konfus und die Wahrheit verlogen wirkte. Die Sätze wurden zu Fallen.

      Klaus blieb mit einem Ruck stehen. Er brach achtlos einen Zweig vom Strauch, klatschte fahrig damit gegen seine Stiefelschäfte.

      »Gib dir keine Mühe«, sagte er durch die Zähne, »hast du dich . . . freiwillig hierher gemeldet . . . oder nicht?«

      Doris schwieg. Gelähmt. Verwirrt. Verraten. Und allein, unendlich allein . . .

      »Na also«, fuhr er mit kalter, erzwungener Ruhe fort.

      Seine Worte verwehten. Doris und Klaus liefen nah und doch fern nebeneinander her. Der Dorn eines verblühten Rosenstrauches verfing sich im Rock des Mädchens. Doris riß ihn aus. Als ob sie mit ihm ihre Hemmung beseitigt hätte, verfügte sie auf einmal wieder über ihre Stimme von früher, über das Lächeln von damals, über die Sicherheit von einst.

      »In unserem Park waren die Wege viel breiter«, sagte sie ruhig.

      Dann betrachtete sie Klaus bang von der Seite. In seinem Gesicht gab es keine Erinnerung. Oder doch? Konnte die Zeit, in der ein Blick, ein Händedruck, ein Lächeln genügt hatten, um sich zu verstehen, jemals vergessen sein?

      Und du, Klaus, dachte Doris, wie kommst du hierher . . .? Siehst du . . . du kannst es mir sowenig erklären wie ich dir. Aber Doris sprach es nicht aus. Ihre Liebe war so klar wie ihre Stirn, und sie weigerte sich, sie durch einen schmutzigen Verdacht von der Höhe in die Niederungen zu zerren. Doris senkte den Kopf.

      »Wohin sind wir . . . geraten, Klaus?« fragte sie.

      Sie hatten die Wegbiegung auf dem freien Rasenplatz erreicht, in dessen Mitte die ›Adolf-Hitler-Eiche‹ stand, ein mickriges Bäumchen, gepflanzt zu Ehren des Führers, begossen in dem Wahn, daß die Bäume des Nationalsozialismus in den Himmel wachsen könnten.

      Da blieb Klaus Steinbach zum zweitenmal stehen. Umständlich zog er ein Zigarettenpäckchen aus der Tasche, als wollte er Zeit gewinnen. Er wußte gar nicht, daß er in diesen Sekunden nach einer Brücke über seinen Stolz, nach einer Furt durch die Tiefe suchte. Aber er fand nichts, nur ein Streichholz, das in seiner Hand flackerte.

      »Was willst du eigentlich noch?« fragte er rauh.

      Sie bewegte die Lippen so lautlos und verzweifelt, daß es ihm weh tat. Aber er könnte nicht aufhören, Doris und sich zu verletzen.

      Sie stand neben ihm wie ein ausgesetztes Kind. Ihre Augen flehten. Es gelang ihr nicht, ihm zu sagen, daß sie heim wollte . . . heim zu ihm, und heim zur weißen Villa am Stadtrand, heim in den Park, in dem sie als Kind mit Klaus gespielt, in dem sie ihn als Mädchen geküßt hatte. Zurück in ein Paradies, in dem es den Sturmbannführer Westroff-Meyer nicht gab. Zurück, nur ein halbes Jahr, um noch einmal anzufangen, um alles anders zu machen.

      »Klaus . . .«, sagte sie schlicht, »ich hab’ dich lieb . . .« Ein schmales, blasses Lächeln huschte über ihr Gesicht.

      Jetzt sah Klaus sie an, spürte Hitze und Kälte. Seine Augen brannten in den Höhlen. Seine Zunge lag trocken im Mund. In diesem Moment haßte er sich und den Heimleiter. In diesem Augenblick roch der Herbst nach Fäulnis, und er wünschte, er könnte diesen Geruch mit dem der Pulvergase seiner Bordkanone vertauschen. Jetzt wollte er starten, fliegen, kämpfen und fallen.

      »Und ich . . .«, stieß er mit fremder, harter Stimme hervor, »ich . . . will dich nie . . . nie mehr sehen . . . hörst du!«

      Doris rührte sich nicht.

      »Geh!« zischte er.

      Jetzt tat sie es.

      Als sie sich mit zögernden Füßen von ihm entfernte, hoffte Klaus, daß sie bleiben würde. Der Fliegeroffizier trat mit dem Stiefel gegen Adolf Hitlers schäbige Eiche. Doris, dachte er, verloren, verraten, verdammt. Er preßte die Hände an die Rinde.

      Und auf einmal drehte sich der Baum mit ihm, flachtrudelnd wie ein Flugzeug, das in den Abgrund stürzt . . .

      Der Abend gibt sich zwanglos, unpolitisch und unbiologisch. Sturmbannführer Westroff-Meyer läßt kalte Platten zum Pfefferminztee reichen. »So, Kinder . . .«, sagt er jovial, als er die starre Tischordnung aufhebt, »nun beriecht euch erst mal . . .«

      Jetzt geht der Heimleiter mit schnellem Schritt durch den unteren Speisesaal auf eine Gruppe von RAD-Führerinnen zu, die unter dem Spruchband ›Heilig sei uns jede Mutter guten Blutes!‹ ihre Schinkenbrötchen verzehren und ihren Pfefferminztee trinken.

      »Na, wie fühlt ihr euch?« fragt er.

      »Danke, gut, Sturmbannführer«, antworten sie im Chor.

      »Ihr sollt euch hier richtig einleben«, erwidert Westroff-Meyer, »am Tag werden wir härt arbeiten . . . aber am Abend wollen wir gesellig sein . . .« Er nickt und schnarrt: »Weitermachen!«

      Dann geht er auf die andere Seite, auf zwei alleinsitzende SS-Unterführer zu, die aufspringen wollen, was er mit einer Handbewegung verhindert.

      »Wir sind hier nicht so förmlich«, stellt er güt gelaunt fest. »Gefällt’s euch?«

      Er wartet das obligate »Jawohl!« nicht ab, sondern setzt gleich hinzu:

      »Sitzt doch hier nicht ’rum wie die Holzblöcke . . . los, laßt die Mädchen da drüben nicht allein!« Seine kleinen Hechtaugen streifen den anderen Tisch. »Die beißen euch schon nicht.«

      Die Maiden beobachten ängstlich und neugierig das Gespräch. Wenn sie über die Köpfe der beiden Soldaten hinwegsehen, lesen sie an der Wand:

      ›Dem Sieg der Waffen muß der Sieg des Kindes