„Und warum — warum haben sie denn nicht geheiratet?“ fragte Falk stockend.
„Damals stand ich kurz vor dem Einjährigen“, fuhr Hans Scholl fort. „Die Frage war nun: gehe ich nach dem Einjährigen vom Gymnasium ab oder bleibe ich? Mein Beruf war eigentlich schon festgesetzt: niederer Post- oder Bahndienst. Ohne mich rühmen zu wollen — ihr misst, dass ich immer einer der Besten der Klasse war. Mein Ehrgeiz ging höher. Ich konnte es kaum verwinden, abgehen zu müssen, mich als Assistent herumschinden, während meine Kameraden, die mit mir auf einer Bank gesessen, nach einigen Jahren weiteren Studiums ganz, ganz andere Chancen haben sollten. Da lag ich dem Vater und Maria in den Ohren. Kurt ist ein lieber, guter Mensch. Schliesslich beschlossen meine Eltern im Einverständnis mit Maria und Kurt, dass die Hochzeit meiner Schwester um einige Jahre aufgeschoben werden sollte, damit ich auf dem Gymnasium bleiben konnte. Denn beides auf einmal: Maria einen monatlichen Zuschuss geben und die Kosten meines Studiums zu bestreiten — das konnte mein Vater nicht. Das Studium verschlingt viel Geld. Dann kommen die Universitätsjahre — Maria hat sich also für mich geopfert . . .“
„Das musst du an ihr gutmachen“, fiel Theo von Falk erregt ein. „Dein ganzes Leben lang musst du ihr dankbar sein.“ Er war blass vor Erregung, die einfache Erzählung des Freundes hatte ihn tief ergriffen.
„Das werde ich auch“, nickte Hans. „Jetzt kommt noch eine gefährliche Hürde, das Abitur. Dann geht es schnell vorwärts, und auch Kurt hat sich bis jetzt tapfer gehalten. Ich werde dann die letzten Semester bei meinem Schwager wohnen, der inzwischen Maria geheiratet haben wird. Wir werden uns einschränken, soweit es nur irgend geht, und ich werde nicht ruhen, bis meine Schwester so glücklich geworden ist, wie sie es verdient.“
Von nun an sahen Gerhard Brausewetter und Theo von Falk Maria Scholl wie eine Märtyrerin an. Sie zeigten ihr ihre Verehrung offenkundig, sie brachten ihr Blumen, halfen ihr bei der Pflege des Gartens und waren glücklich, wenn sie irgendwelche Besorgungen für sie erledigen konnten.
Bei Theo von Falk spielte noch ein anderes, unbewusstes Gefühl mit — eine tiefe, heimliche Zuneigung, die er sich aber selber nicht eingestand.
Gerhards Sehnsucht nach Lieselotte wurde durch den Umgang mit einer Frau wie Maria Scholl nur noch mehr gesteigert. Täglich schrieb er ihr in der Stille seines Hotelstübchens lange Briefe voll Zärtlichkeit und Liebe, fast täglich empfing er eine Nachricht von ihr.
Allmählich fiel es Theo von Falk auf, dass der Briefbote für Gerhard fast immer einen Brief oder eine Karte mitbrachte.
,,Wer in aller Welt schreibt dir so häufig?“ fragte er eines Tages. ,,Deine Mutter?“
Gerhard wandte sich ab, um seine Verwirrung vor dem Freund zu verbergen. „Ja — meine Mutter — und Freunde und Bekannte —“
Es tat ihm weh, Lieselotte verleugnen zu müssen. Wie gern hätte er sich zu seinem Glück bekannt, zu Lieselotte, auf deren Liebe er so unsäglich stolz war. Aber sie waren übereingekommen, ihre Liebe vorläufig vor aller Welt geheimzuhalten. Im geheimen fürchteten sie vielleicht, dass weder Frau Brausewetter noch der Pastor sehr glücklich über diese Verlobung sein würden — Lieselotte und er waren ja noch so jung, Jahre des Wartens lagen vor ihnen. Der Pastor hätte Lieselotte gewiss viel lieber schon bald in einer gesicherten Lebensstellung gesehen, er war alt, sein Leben neigte sich seinem Ende zu.
Aber Gerhard war voll guten Mutes. Lieselotte hatte ihm geschworen, auf ihn zu warten — sie würde ihr Wort nicht brechen.
„Kurt, Marias Verlobter, kommt in den nächsten Tagen“, verkündete Hans Scholl eines Morgens. „Er hat in diesem Jahr etwas später Urlaub genommen als gewöhnlich und will seine Ferien hier verbringen. Maria ist überglücklich, das könnt ihr euch denken. Ausserdem scheint er gute Nachrichten zu bringen — er will seine bisherige Stellung aufgeben, man hat ihm einen Posten in einem Bankhaus angeboten mit einem glänzenden Gehalt — vielleicht tritt dadurch eine Wendung in Marias Schicksal ein. Wenn sie nicht mehr von einem monatlichen Zuschuss meines Vaters abhängig sind, können die beiden ja endlich heiraten!“
Ja, Maria war überglücklich, das stellten die beiden Freunde fest, als das junge Mädchen sich später zu ihnen gesellte. Ein froher Glanz lag in ihren blauen Augen, sie unterhielt sich lebhaft wie noch nie mit ihnen, über ihrem ganzen Wesen lag es wie freudigste Erwartung.
Und einige Tage später — die drei Kameraden sollten demnächst von Auerbach abreisen, da die Gymnasialferien sich ihrem Ende zuneigten, — begegnete Gerhard Brausewetter der Schwester seines Freundes auf der Strasse.
Er war eben im Begriff, das Postamt zu betreten, um einen Brief an Lieselotte aufzugeben, als Maria um die Ecke bog.
Sie sah so schön aus wie noch nie, statt der dunklen Kleider, die sie bisher bevorzugt, trug sie ein helles, duftiges Sommerkleid, ein grosser weisser Hut warf seinen Schatten auf das schmale helle Gesicht. Die Wangen waren leicht gerötet, die Augen gross und strahlend.
,,Wohin, Fräulein Maria?“, fragte Gerhard, nachdem er sie begrüsst hatte. „Darf ich Sie begleiten?“
„Nein, Sie dürfen nicht“, gab sie fast übermütig zurück. ,,Heute nicht, Gerhard!“
Und als er sie verwundert ansah: „Ich hole Kurt vom Bahnhof ab — wir haben uns so lange nicht gesehen — — nicht wahr, Sie sind nicht böse, dass ich Ihre Begleitung ablehne — —“
„Aber ganz im Gegenteil!“ rief Gerhard. „Es ist ja nur selbstverständlich, dass Sie ihn allein begrüssen möchten!“
Er sah ihr nach, wie sie beschwingten Schrittes die Strasse weitereilte und betrat dann das Postamt.
Als er gegen Mittag in das Schollsche Haus kam, trat ihm Hans entgegen. Ein niedergeschlagener Ausdruck lag auf seinen Zügen.
„Komm in den Garten, Gerhard“, sagte er. „Da drin im Wohnzimmer herrscht trübe Stimmung. Maria weint . . .“
„Sie weint?“ Gerhard war aufs äusserste bestürzt. „Ich traf sie heute auf der Strasse, sie war in der glücklichsten Stimmung!“
,,Ach,“ sagte Kurt, während sie im Garten auf- und abgingen, „die Ärmste hat wieder einmal eine Enttäuschung erlebt. Nach Kurts letzten Briefen war sie voller Zuversicht, es sah wirklich so aus, als hätte die lange Wartezeit endlich ein Ende. Nun erzählt uns Kurt, dass er seinen alten Posten beibehält — es ist nichts aus der glänzenden neuen Stellung geworden.“
„Warum nicht?“
„Kurt hat über den Inhaber des Bankhauses, der ihn engagieren wollte, Erkundigungen eingezogen. Dieser Harry Hillmann, behauptet man, soll ein unsicherer Kunde sein. Er spekuliert in der waghalsigsten Weise, und man prophezeit ihm nichts Gutes. Kurt hielt es also für das Richtigste, gar nicht erst bei ihm anzufangen — es könnte ihm dann passieren, dass er in kurzer Zeit überhaupt ohne Stellung bleibt.“
,,Arme Maria!“ murmelte Gerhard mitleidig. „Wie wird sie diese neue Enttäuschung ertragen?“
„Mein Gott, sie sieht ein, dass Kurt vollkommen recht hat. Und wie ich Maria kenne, wird sie sich bald damit abgefunden haben, dass sie eben weiter warten muss, so wie es ja vorgesehen war. Sie ist das vernünftigste und opfermütigste Geschöpf, das ich kenne. Im Moment hat es sie ja überwältigt — sie hat sich zu sehr gefreut. Aber als ich eben das Zimmer verliess, gab sie sich schon krampfhafte Mühe, zu lächeln, um Kurt nicht unnötig, das Herz schwer zu machen. Er hat ja jetzt Ferien, und die will sie ihm nicht dadurch verderben, dass sie ihre Enttäuschung sichtlich zur Schau trägt.“
Hans hatte recht. Als Maria später am Arm ihres Verlobten in den Garten kam, hatte sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden. Zwar war nur wenig von jener strahlend glücklichen Maria übriggeblieben, der Gerhard auf dem Weg zum Bahnhof begegnet war. Aber sie war ruhig, sie lächelte, sie war sogar lebhafter und fröhlicher als sonst. Das mochte wohl die Anwesenheit ihres Verlobten bewirken, den sie drei volle Wochen lang nun täglich sehen konnte.
Hans Scholls Kameraden schlossen bald Freundschaft mit Kurt Beekmann; obwohl er bedeutend älter war als die