Feldern, und durch die Wälder ging die Einsamkeit. Alles Leben schien aufgegangen zu sein im Schoss des Todes, alle Lautheit schien gestorben vor der Majestät des Traumes.
Die Luft war heiss, als das Tal sie aufnahm. Fern vom Dorf her erklang der letzte Glockenton, der die Menschen zum Gebet gerufen.
Bei den ersten Häusern machten sie halt. Von Pastor Winkelmann hatte sich Gerhard schon verabschiedet, denn sein Zug ging am frühen Morgen.
Nun blickten sie sich noch einmal in die Augen, reichten sich die Hände und nahmen sich wortlos zum letztenmal den Schwur der Treue ab.
„Lebwohl,“ sagte Gerhard, „lebwohl, Lissy — im Mai komme ich wieder — —“
„Im Mai — —“ wiederholte sie, schloss die Augen und liess den Kopf müde nach rückwärts sinken. Da umfasste er sie schnell, presste die Lippen auf die ihren, lange . . . dann riss er sich los und verschwand mit schnellen Schritten in der Nacht.
Sie war stehen geblieben und sah ihm nach. Längst hatte die Dunkelheit ihn aufgenommen, sie konnte ihn nicht mehr sehen, aber sie hörte, dass er vor sich hinsang — vielleicht, um den Schmerz der Trennung gewaltsam zu betäuben. Lauschend hob sie den Kopf, sie erkannte die Melodie: es war das Lied, das er damals gesungen, als er ihr seine Liebe gestanden. Und nun trug der Wind ihr die Worte zu; sie hörte seine Stimme, immer weiter verklingend:
Ein Junge liebt’ ein Mädel,
Ein Mädel, ach, so sehr!
So’n Liebe gibt’s im Städtel
Strassarf, strassab nicht mehr!
Sie geh’n mit stolzen Mienen
Stets Arm in Arm und Tritt an Tritt,
Das hält hübsch warm und schadet nit
Den Köpfen voll Rosinen!
5
Pastor Winkelmann bekam am nächsten Tag Besuch. Ein seltsamer Herr kam. An seiner Weste hing eine schwere goldene Kette, an den Fingern blitzten Brillanten. Sein Gesicht war breit, die Stirn niedrig, das dunkle Haar in der Mitte gescheitelt und kurz geschnitten. Die unruhigen, kleinen Augen verschwanden fast hinter dem Fett, das seinem Gesicht etwas Verschwommenes gab, das die Charakterisierung erschwerte.
Pastor Winkelmann schien ebenso erfreut wie erschrocken zu sein, als der Fremde anlangte. Lieselotte konnte nicht schnell genug für einen Imbiss sorgen, und bald schloss sich Winkelmann mit Harry Hillmann ein.
,,Sie haben mich ordentlich überrascht — es ist doch nichts Schlimmes vorgefallen?“
„Im Gegenteil, lieber Pastor, im Gegenteil! Mon dieu — da sagt man, wir Grossstadtmenschen hätten schlechte Nerven! Mut! Mut und Ruhe, alter Freund!“
Der Pastor kniff ein wenig die Lippen zusammen bei dieser vertraulichen Anrede. Er räusperte sich:
„Hm! Also kein Kurssturz? Kein Papier zurückgegangen?“
„Nee! Einhundertvierzig!“
„Für neunzig haben Sie gekauft?“
„Für neunzig. Aber ich sage Ihnen, sie steigen noch auf zweihundert!“
„Vielleicht sollte man doch jetzt verkaufen, Herr Hillmann! Der Betrag ist gross genug!“
„Verkaufen? Pastor, sind Sie von Sinnen? Wenn die Papiere zweihundertzwanzig stehen, verkaufen wir. Keinen Tag früher!
Pastor Winkelmann wischte mit dem Taschentuch über die Brille. Zweihundertzwanzig!
Er berechnete den Gewinn. Zehntausend Mark betrug sein Vermögen. Das war ein eisernes Kapital, das für Lieselotte reserviert war, wovon er nichts verlieren wollte. Es war auch nicht nötig, dass sie mehr bekam — aber was darüber ging, das gehörte seiner Gemeinde. Seit sieben Jahren wurde gesammelt und gespart — eine Lotterie zugunsten des neuen Kirchenbaues hatte ein kleines Stammkapital ergeben — um an Stelle der schon hundertfünfzig Jahre alten Kirche eine neue zu errichten.
Schon als Pastor Winkelmann sein Amt angetreten, hatte ihm sein Vorgänger sozusagen als heiliges Vermächtnis den Plan einer neuen Kirche hinterlassen. Der junge Pastor hatte die Idee mit Feuereifer aufgenommen, war aber über zehn Jahre lang nicht in der Lage gewesen, Tatkräftiges dafür zu tun.
Seit sieben Jahren nun sollte der Kirchenbau begonnen werden, aber die Gemeinde war arm, Missernten, Schädlinge in den Weingeländen hatten ihr mehrere Jahre nacheinander grossen Schaden zugefügt. Und doch musste ein neues Gotteshaus gebaut werden.
Winkelmann träumte davon Jahr um Jahr. Er besass einiges Talent zum Zeichnen — in früher Jugend war er zum Architekten bestimmt gewesen — und hatte in seinen Mussestunden daher schon die Pläne entworfen. Er sah den Turm vor sich, den neuen Turm mit der alten Glocke, deren Klänge seiner Gemeinde vertraut waren seit Generationen. Er sah die weissen Wände der Kirche mit den grossen, langen Fenstern, den neuen Altar, den Chor und die neue Orgel — denn eine neue Orgel war nötig, das stand fest. Pastor Winkelmann war kein zugreifender Mensch. Woran er aber einmal festhielt, davon brachte ihn niemand mehr ab. Er war auch zurückhaltend, doch für zweierlei scheute er keinen Gang, keine Anstrengung, selbst dann und wann eine kleine Demütigung nicht: wenn es seinen Armen oder seiner Kirche galt.
Vor zwei Jahren hatte Harry Hillmann in dem nahegelegenen Flecken mit seiner Familie den Sommer verbracht. Bei dieser Gelegenheit hatte Pastor Winkelmann den Berliner Bankier, der fast täglich mit seinem 100 PS-Wagen durch das Dorf gerast war, kennengelernt. Da hatte er sich einmal ein Herz gefasst und ihm von dem Projekt der neuen Kirche gesprochen. Harry Hillmann hatte zweitausend Mark gespendet und dann dem dankbar aufhorchenden Pastor gesagt:
„So kommen Sie Ihr Lebtag nicht ans Ziel, Herr Pastor! Sie mühen sich ab und mühen sich ab, die Gemeinde ist arm, die Zuschüsse reichen nicht — Sie müssen das Geld für den guten Zweck arbeiten lassen!“
„Wie das, Herr Bankier?“
„Legen Sie das Kapital, das bisher für die Kirche gesammelt wurde und das Sie verwalten, in meinem Bankhause an, lassen Sie das Geld zu sieben Prozent — was sage ich! Sie können es auf zehn, fünfzehn, zwanzig Prozent bringen — in meinem Hause arbeiten, und Sie sollen sehen — in fünf Jahren können Sie mit dem Kirchenbau beginnen!“
Pastor Winkelmann verstand von Geldgeschäften und Spekulationen ungefähr ebensoviel wie Bankier Hillmann von dem Beruf des Pastors.
Ein Unterschied war da freilich: Bankier Hillmann war sich über die Pflichten Winkelmanns wohl klar, aber auch über einen Fehler, den er besass: er wollte nie die schlechten Seiten der Menschen sehen. Erkannte er sie, so täuschte er sich geflissentlich darüber, und so kam er auch gar nicht auf den Gedanken, der Berliner Bankier könnte mit seinen Vorschlägen persönliche Vorteile verfolgen.
Seit zwanzig Jahren war Winkelmann kaum über die Gemarkung seiner Gemeinde hinausgekommen. Die Zeitungen, die er las, brachten wenig oder nichts von dem gewaltigen Wettkampf, der dort draussen im Reich, in dem grossen Berlin unter ungeheurer Anstrengung aller Kräfte tobte. Er wusste nichts von waghalsigen Spekulationen. Er sah nur die Erfüllung seines zwanzigjährigen Traumes: die neue Kirche!
Er sagte damals:
„Herr Hillmann, über das Geld, das meine Gemeinde mir anvertraut hat, darf ich, so gut und schön der Zweck auch ist, nicht nach Belieben verfügen. Aber ich selbst besitze zehntausend Mark. Das Geld ist teils ererbt, teils haben ich und meine verstorbene Frau es in mancherlei Entbehrungen für unsere Tochter Lieselotte erspart. Diese zehntausend Mark müssen dem Kinde erhalten bleiben. Was Sie aber damit verdienen können — wenn Sie wirklich so schön an unserer Gemeinde handeln wollen — das möchte ich zu dem Kapital legen, das für den Kirchenbau bestimmt ist.“
Herr Hillmann hatte die Unterlippe vorgeschoben und den Kopf gewiegt. Dann hatte er mit seinen kleinen, scharfen Augen, die die Menschen zu durchdringen schienen, den Pfarrer angesehen und schliesslich gesagt:
,,Gut, Herr Pastor. Wir sprechen später noch darüber!“