Josephin Lorenz

Anders ist eine Variation von richtig


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der Regel liegt in der Unterstützung der Betroffenen der Schwerpunkt bislang auf dem Erlernen von Fähigkeiten, die sie noch nicht beherrschen. Die dabei angewendeten Lehrkonzepte können den Menschen mit Autismus unter Umständen schwerfallen und in der Folge Stress auslösen. Je gestresster autistische Menschen sind, desto mehr neigen sie zu unerwarteten Verhaltensweisen. Übrigens ist es bei Menschen ohne Autismus sehr ähnlich: Je gestresster diese Personen sind, desto »verhaltens-origineller« werden sie.

      Ein weiteres Phänomen wurde durch eine Studie der Autismus-Forschungs-Kooperation (AFK) deutlich – diese zeigt, dass Personen aus dem Autismus-Spektrum trotz größeren Hilfebedarfs und häufigerer Gedanken an eine ambulante Psychotherapie signifikant weniger Therapien gemacht haben. Laut dieser Studie lehnen Psychotherapeuten sie häufig mit der Begründung ab, sich mit der Diagnose nicht auszukennen. Personen aus dem Autismus-Spektrum haben also oft das Gefühl, dass eine ambulante Psychotherapie für sie schwierig zu bekommen ist. Die meisten Teilnehmer der Studie (85 %) empfanden die Kontaktaufnahme zu einem Psychotherapeuten erschwert (AFK 2015).

      Das spricht deutlich für die Notwendigkeit des Wandels zu einer neuen Form der Psychotherapie, die Menschen aus dem Spektrum darin unterstützt, Stress abzubauen und ihre Stärken auszubauen. An dieser Stelle ist PEP für mich als Therapeutin eine wichtige Erweiterung der bisherigen psychotherapeutischen Ansätze. Zusätzlich wäre eine bessere Wissensvermittlung von autismusbedingten Stärken und Schwächen in den psychotherapeutischen Ausbildungen wünschenswert.

      Diese Notwendigkeit des Wandels wird zunehmend auch von Fachleuten formuliert. So fordert Georg Theunissen (2014) in seinem Vortrag »Das Autismus-Verständnis im Wandel – von der Tradition zur Innovation« folgende Konsequenzen für die Begleitung von Menschen aus dem Autismus-Spektrum:

      •Prävention in Bezug auf Stress oder Situationen, die womöglich Stress erzeugen

      •Methoden zur Bewältigung von Stress und Würdigung

      •Nutzung von Stärken und Spezialinteressen

      Ausführlich hat er seine Standpunkte in dem Buch Menschen im Autismus-Spektrum: Verstehen, Annehmen, Unterstützen beschrieben.

      Georg Theunissen folgend ist Prävention in Bezug auf Stress oder Situationen, die Stress erzeugen, ein wichtiger Punkt, der in der Autismus-Therapie zu beachten ist.

       Stress vermeiden

      Wir alle wissen, wie wichtig es ist, Stress zu vermeiden. Auch ist uns bekannt, dass körperlicher und seelischer Stress auf die Dauer nicht gesund ist. Dennoch fühlen sich heutzutage immer mehr Menschen von Stress belastet. Kinder und Jugendliche haben Stress in der Schule, Studenten an der Uni, Erwachsene im Job. Wichtig ist es, dass Menschen mit und ohne Autismus erst mal erkennen, wo und warum sie Stress erleben, wie sie ihn ggf. reduzieren können oder wie sie mit unvermeidbarem Stress besser umgehen können.

      Natürliche Stressreaktionen des Körpers sind eigentlich eine sehr sinnvolle »Erfindung« der Evolution. Geraten wir in eine bedrohliche Lage, reagiert der Organismus mit dem Anstieg von Herzfrequenz und Blutdruck, sodass mehr Sauerstoff und Glukose zu den Muskeln gelangen. Auf diese Weise gewinnen wir Energie für den Kampf oder für die Flucht. Die menschliche Natur ist also so »programmiert«, dass wir ohne unser bewusstes Zutun schnell ausreichend Energien bekommen, um gefährliche Situationen meistern zu können. Dieses »Programm« ist fest installiert und läuft immer noch ab, auch wenn keine echte Lebensgefahr mehr droht. Im Kontakt zu einem cholerischen Mitmenschen oder beim Bearbeiten des dringend zu erledigenden Aufgabenberges wird es heute genauso aktiviert wie früher beim Anblick eines Säbelzahntigers. Wieso aber löst ein unfreundlicher Mitmensch bei der einen Person so viel Angst und Stress aus und bei der anderen überhaupt nicht?

      Entscheidend dafür scheint die subjektive Bewertung des Einzelnen zu sein. Stress entsteht, wenn man das Gefühl hat, anstehende Aufgaben und Anforderungen nicht bewältigen zu können. Das bedeutet jedoch, dass in der Regel nicht allein das stresst, womit man konfrontiert wird. Entscheidender ist, ob und wie man seine Ressourcen und Fähigkeiten einsetzen kann, um die Herausforderungen nach den eigenen Bedürfnissen und Möglichkeiten zu lösen. Die eigene Haltung und der Umgang mit stresserzeugenden Situationen können darüber entscheiden, wie gut man damit zurechtkommt.

      Immer wieder kommt es vor, dass ich Kinder aus dem Autismus-Spektrum schon im Vorschulalter erlebe, die mit eingefahrenen Glaubenssätzen zu kämpfen haben wie »Ich bin einer, der eben immer ausrastet« oder »So, wie ich bin, bin ich nichts wert!«. Diese Glaubenssätze haben eine toxische Wirkung auf das Selbstwertgefühl. Und natürlich kann so ein geschwächtes Selbstwertgefühl auch aggressiv und kämpferisch machen – vielleicht sogar als eine Art »gesunde« Reaktion auf etwas, was nicht gut ist. Nur kann ein mangelndes Selbstwertgefühl nicht dafür sorgen, dass man die eigenen Fähigkeiten wertschätzt und sich entsprechend seinen Potenzialen entwickelt.

      Wenn dann auch in der therapeutischen Begleitung dieser jungen Menschen hauptsächlich Probleme und Defizite im Fokus stehen, ist diese Problemorientierung nicht nur stressauslösend, sondern dient eher der Stabilisierung der Probleme anstatt der Lösung. Analytische Rückblenden sind weniger zielführend als ein zuversichtlicher Blick in die Zukunft durch Kompetenzerweiterung und Potenzialentfaltung.

      Auch ist es eher hilfreich, wenn Lösungswege im gemeinsamen therapeutischen Prozess zwischen dem Klienten und dem Berater erarbeitet werden. Diese kooperative Beziehung ist ein wichtiges Element, um beim Klienten, der mit seiner autistischen Wahrnehmung sowieso schon ständig überlastet ist, nicht noch zusätzlichen Stress zu erzeugen.

      Meine Grundüberzeugung ist, dass das Wahrnehmen und Fördern der Stärken zu deutlich mehr Selbstwertgefühl und Lebenszufriedenheit führen, als immer nur zu versuchen, die Schwächen zu reduzieren. Das beinhaltet auch, den Klienten Mut und Zuversicht zu geben, dass sie die eigenen Kräfte zur Entspannung aber auch zur Versöhnung mit dem »autistisch sein« aufspüren und nutzen.

      Ein wichtiges Ziel in der Unterstützung von Menschen aus dem Autismus-Spektrum ist, dass sich die Betroffenen ihrer individuellen Stärken wieder bewusst werden und ihre vermeintlichen Schwächen als ihre »special effects« wertschätzen können. Im Sinne des Empowerments respektiert die Haltung von Anders ist eine Variation von richtig die eigenen Lebensentwürfe von Menschen aus dem Autismus-Spektrum. Sie unterstützt diese dabei, individuelle Ziele zu verfolgen und die eigenen Stärken zu erweitern. Es gilt, achtsam zu klären, wie sich Grundbedürfnisse nach Verbundenheit und Geborgenheit, aber auch nach Freiheit und Autonomie erkennen und erfüllen lassen. Dabei ist es wichtig, belastende und einschränkende Gefühle zu überwinden, um so neue Energie zu gewinnen. Dazu benötigt jedoch ein Mensch, der felsenfest davon überzeugt ist, dass er ein »Master of Disaster« ist – also einer, der immer ausrastet –, eine geduldige, ressourcenorientierte Haltung von außen, dass er wieder Vertrauen in seine Fähigkeiten fasst.

      Wenn Menschen aus dem Autismus-Spektrum nicht mehr nach ihren Defiziten klassifiziert und »behandelt« werden, sondern wenn man sie befähigt, ihre individuellen Kompetenzen zu erweitern und ihr ureigenes Potenzial zu entwickeln, dann hat sich in der Unterstützung dieser Menschen etwas gewandelt.

      Diese neue Haltung – also in einem sicheren Rahmen autistische Fähigkeiten zu entdecken, um Kompetenzerweiterung und Potenzialentfaltung zu ermöglichen – erfordert zu Beginn einer Begleitung oder Therapie die genaue Klärung von Anliegen und Auftrag des Klienten, bzw. der Klienten. Denn bei Kindern und Jugendlichen sind ja auch immer die Eltern mitentscheidend für den Erfolg einer gelingenden Unterstützung.

       Kernelemente einer erfolgreichen Unterstützung im Autismus-Spektrum:

      •Anerkennung der höheren Stressanfälligkeit

      •achtsamer Umgang mit sensiblen Bedürfnissen

      •Auslöser für Überforderungen erkennen und nach Möglichkeit beheben

      •Umgang mit unvermeidbarem Stress erlernen

      •genaue Auftragsklärung