Gustav Weil

Die phantastische Welt der Literatur: 90+ Romane, Märchen & Zauberhafte Geschichten


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jetzt die Früchte verzehrt; sie verfielen darauf, in die Wette zu laufen, und die kleine behende Marie gewann dem langsameren Andres immer den Vorsprung ab. So ist es keine Kunst! rief dieser endlich aus; aber laß es uns einmal in die Weite versuchen, dann wollen wir sehen, wer gewinnt! Wie du willst, sagte die Kleine, nur nach dem Strome dürfen wir nicht laufen. Nein, erwiederte Andres, aber dort auf jenem Hügel steht der große Birnbaum, eine Viertelstunde von hier, ich laufe hier links um den Tannengrund vorbei, du kannst rechts in das Feld hinein rennen, daß wir nicht eher als oben wieder zusammen kommen, so sehn wir dann, wer der beste ist.

      Gut, sagte Marie, und fing schon an zu laufen, so hindern wir uns auch nicht auf demselben Wege, und der Vater sagt ja, es sei zum Hügel hinauf gleich weit, ob man diesseits, ob man jenseits der Zigeunerwohnung geht.

      Andres war schon vorangesprungen und Marie, die sich rechts wandte, sah ihn nicht mehr. Er ist eigentlich dumm, sagte sie zu sich selbst, denn ich dürfte nur den Muth fassen, über den Steg, bei der Hütte vorbei, und drüben wieder über den Hof hinaus zu laufen, so käme ich gewiß viel früher an. Schon stand sie vor dem Bache und dem Tannenhügel. Soll ich? Nein, es ist doch zu schrecklich, sagte sie. Ein kleines weißes Hündchen stand jenseit und bellte aus Leibeskräften. Im Erschrecken kam das Thier ihr wie ein Ungeheuer vor, und sie sprang zurück. O weh! sagte sie, nun ist der Bengel weit voraus, weil ich hier steh und überlege. Das Hündchen bellte immer fort, und da sie es genauer betrachtete, kam es ihr nicht mehr fürchterlich, sondern im Gegentheil ganz allerliebst vor: es hatte ein rothes Halsband um, mit einer glänzenden Schelle, und so wie es den Kopf hob und sich im Bellen schüttelte, erklang die Schelle äußerst lieblich. Ei! es will nur gewagt seyn! rief die kleine Marie, ich renne was ich kann, und bin schnell, schnell jenseit wieder hinaus, sie können mich doch eben nicht gleich von der Erde weg auffressen! Somit sprang das muntere muthige Kind auf den Steg, rasch an den kleinen Hund vorüber, der still ward und sich an ihr schmeichelte, und nun stand sie im Grunde, und rund umher verdeckten die schwarzen Tannen die Aussicht nach ihrem elterlichen Hause und der übrigen Landschaft.

      Aber wie war sie verwundert. Der bunteste, fröhlichste Blumengarten umgab sie, in welchem Tulpen, Rosen und Lilien mit den herrlichsten Farben leuchteten, blaue und goldrothe Schmetterlinge wiegten sich in den Blüten, in Käfigen aus glänzendem Drath hingen an den Spalieren vielfarbige Vögel, die herrliche Lieder sangen, und Kinder in weißen kurzen Röckchen, mit gelockten gelben Haaren und hellen Augen, sprangen umher, einige spielten mit kleinen Lämmern, andere fütterten die Vögel, oder sie sammelten Blumen und schenkten sie einander, andere wieder aßen Kirschen, Weintrauben und röthliche Aprikosen. Keine Hütte war zu sehn, aber wohl stand ein großes schönes Haus mit eherner Thür und erhabenem Bildwerk leuchtend in der Mitte des Raumes. Marie war vor Erstaunen außer sich und wußte sich nicht zu finden, da sie aber nicht blöde war, ging sie gleich zum ersten Kinde, reichte ihm die Hand und bot ihm guten Tag. Kommst du uns auch einmal zu besuchen? sagte das glänzende Kind; ich habe dich draußen rennen und springen sehn, aber vor unserm Hündchen hast du dich gefürchtet. — So seid ihr wohl keine Zigeuner und Spitzbuben, sagte Marie, wie Andres immer spricht? O freilich ist der nur dumm, und redet viel in den Tag hinein. — Bleib nur bei uns, sagte die wunderbare Kleine, es soll dir schon gefallen. — Aber wir laufen ja in die Wette. — Zu ihm kommst du noch früh genug zurück. Da nimm, und iß! — Marie aß, und fand die Früchte so süß, wie sie noch keine geschmeckt hatte, und Andres, der Wettlauf, und das Verbot ihrer Eltern waren gänzlich vergessen.

      Eine große Frau in glänzendem Kleide trat herzu, und fragte nach dem fremden Kinde. Schönste Dame, sagte Marie, von ohngefähr bin ich herein gelaufen, und da wollen sie mich hier behalten. Du weißt, Zerina, sagte die Schöne, daß es ihr nur kurze Zeit erlaubt ist, auch hättest du mich erst fragen sollen. Ich dachte, sagte das glänzende Kind, weil sie doch schon über die Brücke gelassen war, könnt ich es thun; auch haben wir sie ja oft im Felde laufen sehn, und du hast dich selber über ihr muntres Wesen gefreut; wird sie uns doch früh genug verlassen müssen.

      Nein, ich will hier bleiben, sagte die Fremde, denn hier ist es schön, auch finde ich hier das beste Spielzeug und dazu Erdbeeren und Kirschen, draußen ist es nicht so herrlich.

      Die goldbekleidete Frau entfernte sich lächelnd, und viele von den Kindern sprangen jetzt um die fröhliche Marie mit Lachen her, neckten sie und ermunterten sie zu Tänzen, andre brachten ihr Lämmer oder wunderbares Spielgeräth, andre machten auf Instrumenten Musik und sangen dazu. Am liebsten aber hielt sie sich zu der Gespielin, die ihr zuerst entgegen gegangen war, denn sie war die freundlichste und holdseligste von allen. Die kleine Marie rief einmal über das andre: ich will immer bei euch bleiben und ihr sollt meine Schwestern seyn, worüber alle Kinder lachten und sie umarmten. Jetzt wollen wir ein schönes Spiel machen, sagte Zerina. Sie lief eilig in den Pallast und kam mit einem goldenen Schächtelchen zurück, in welchem sich glänzender Saamenstaub befand. Sie faßte mit den kleinen Fingern, und streute einige Körner auf den grünen Boden. Alsbald sah man das Gras wie in Wogen rauschen, und nach wenigen Augenblicken schlugen glänzende Rosengebüsche aus der Erde, wuchsen schnell empor und entfalteten sich plötzlich, indem der süßeste Wohlgeruch den Raum erfüllte. Auch Maria faßte von dem Staube, und als sie ihn ausgestreut hatte, tauchten weiße Lilien und die buntesten Nelken hervor. Auf einen Wink Zerinas verschwanden die Blumen wieder und andre erschienen an ihrer Stelle. Jetzt, sagte Zerina, mache dich auf etwas Größeres gefaßt. Sie legte zwei Pinienkörner in den Boden und stampfte sie heftig mit dem Fuße ein. Zwei grüne Sträucher standen vor ihnen. Fasse dich fest mit mir, sagte sie, und Marie schlang die Arme um den zarten Leib. Da fühlte sie sich empor gehoben, denn die Bäume wuchsen unter ihnen mit der größten Schnelligkeit; die hohen Pinien bewegten sich und die beiden Kinder hielten sich hin und wieder schwebend in den rothen Abendwolken umarmt und küßten sich; die andern Kleinen kletterten mit behender Geschicklichkeit an den Stämmen der Bäume auf und nieder, und stießen und neckten sich, wenn sie sich begegneten, unter lautem Gelächter. Stürzte eins der Kinder im Gedränge hinunter, so flog es durch die Luft und senkte sich langsam und sicher zur Erde hinab. Endlich fürchtete sich Marie; die andre Kleine sang einige laute Töne, und die Bäume versenkten sich wieder eben so allgemach in den Boden, und setzten sie nieder, als sie sich erst in die Wolken gehoben hatten.

      Sie gingen durch die erzene Thür des Pallastes. Da saßen viele schöne Frauen umher, ältere und junge, im runden Saal, sie genossen die lieblichsten Früchte, und eine herrliche unsichtbare Musik erklang. In der Wölbung der Decke waren Palmen, Blumen und Laubwerk gemahlt, zwischen denen Kinderfiguren in den anmuthigsten Stellungen kletterten und schaukelten; nach den Tönen der Musik verwandelten sich die Bildnisse und glühten in den brennendsten Farben, bald war das Grüne und Blaue wie helles Licht funkelnd, dann sank die Farbe erblassend zurück, der Purpur flammte auf und das Gold entzündete sich; dann schienen die nackten Kinder in den Blumengewinden zu leben, und mit den rubinrothen Lippen den Athem einzuziehn und auszuhauchen, so daß man wechselnd den Glanz der weißen Zähnchen wahrnahm, so wie das Aufleuchten der himmelblauen Augen.

      Aus dem Saale führten eherne stufen in ein großes unterirdisches Gemach. Hier lag viel Gold und Silber, und Edelsteine von allen Farben funkelten dazwischen. Wundersame Gefäße standen an den Wänden umher, alle schienen mit Kostbarkeiten angefüllt. Das Gold war in mannichfaltigen Gestalten gearbeitet und schimmerte mit der freundlichsten Röthe. Viele kleine Zwerge waren beschäftigt, die Stücke auseinander zu suchen und sie in die Gefäße zu legen; andre, höckricht und krummbeinicht, mit langen rothen Nasen, trugen schwer und vorn über gebückt Säcke herein, so wie die Müller Getraide, und schütteten die Goldkörner keuchend auf dem Boden aus. Dann sprangen sie ungeschickt rechts und links, und griffen die rollenden Kugeln, die sich verlaufen wollten, und es geschah nicht selten, daß einer den andern im Eifer umstieß, so daß sie schwer und tölpisch zur Erde fielen. Sie machten verdrüßliche Gesichter und sahen scheel, als Marie über ihre Geberden und Häßlichkeit lachte. Hinten saß ein alter eingeschrumpfter kleiner Mann, welchen Zerina ehrerbietig grüßte, und der nur mit ernstem Kopfnicken dankte. Er hielt ein Zepter in der Hand und trug eine Krone auf dem Haupte, alle übrigen Zwerge schienen ihn für ihren Herren anzuerkennen und seinen Winken zu gehorchen. Was giebts wieder? fragte er mürrisch, als die Kinder ihm etwas näher kamen. Marie schwieg furchtsam, aber ihre Gespielin antwortete, daß sie nur gekommen seyen, sich in den Kammern umzuschauen. Immer die alten Kindereien! sagte