Rainer Maria Rilke

Ausgewählte Dramen, Dichtung, Erzählungen, Romane & Beiträge


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trugen vier Männer eben schon durch die weite Flügeltür eine schwarze Truhe.

      »Von der Rettungsgesellschaft«, brummte einer im Geschäftston.

      Ein anderer schlug das schwarze Lederlaken zurück.

      Da lag Agnes fahl und starr.

      Die wasserschweren Haare hatten den Kopf seitwärts gezogen.

      Die triefende Kleidung umschloß eng ihre Glieder.

      Wie Verklärung sonnte es auf ihrer Stirne.

      Hermann stand ohne sich zu rühren.

      Jäh zuckte es durch seine Züge: ein Leben … schenken … opfern …

      Er brach bewußtlos zusammen.

       Inhaltsverzeichnis

      Was einem doch bisweilen für Gedanken kommen … Gestern zum Beispiel. Sitze ich da wieder neben Frau Lucy im Vorgärtchen ihres Landhauses. Die junge blonde Frau mit den großen tiefen Augen schweigt, sieht zum atlasblanken Abendhimmel auf und weht sich Kühlung mit einem Brüsseler Spitzentuch. Und der Duft, der so prickelnd durch meine Nerven rinnt, kommt der von dem fächelnden Tuche her oder dort von dem Fliederstrauch?

      »Dieser prächtige Flieder …« sagte ich nur um etwas zu sagen. Denn das Schweigen ist ein heimlicher Waldsteg, auf dem verstohlene Gedanken hin und wider huschen. Also nur nicht schweigen!

      Sie hatte jetzt die Augen geschlossen und den Kopf zurückgelehnt, so, daß das volle Abendlicht auf den feingeäderten Lidern lag. Die Nasenflügel bebten leise wie die Schwingen eines kleinen Falters, der an einer jungen Rose nippt. Ihre Hand lag zufällig auf der Armlehne meines Stuhles hart neben der meinen. Ich glaubte ihr leichtes Zittern in meinen Fingerspitzen zu spüren. Nicht nur in den Fingerspitzen. Durch den ganzen Körper floß mirs bis zum Hirn und nahm mir alle, alle Gedanken nur den einen nicht … … Und dieser formte und ballte sich wie eine Gewitterwolke im Gebirge: »Sie ist die Frau eines andern …«

      Teufel auch! Das wußte ich doch längst. Und dieser andere war sogar mein Freund. Aber heute kam mir dieser sonderbare Gedanke immer wieder und ich hatte ein Gefühl dabei wie ein Bettelkind, das zu den Herrlichkeiten im Zuckerbäckersschaufenster sehnsuchtsvoll hinüberstaunt …

      »Worüber denken Sie nach, gnädige Frau?« riß ich mich aus meinem Sinnen.

      Sie lächelte: »Wie Sie ihm ähnlich sehen!«

      »Wem?«

      Sie wandte den Blick und setzte sich zurecht: »Meinem verstorbenen Bruder!«

      »So. Ist er jung verstorben?«

      Sie seufzte: »Sehr jung. Er hat sich erschossen. Der Arme! Er war ein prächtiger, braver Mensch. Warten Sie, nächstens zeig ich Ihnen sein Bild.«

      »Hatten Sie mehrere Geschwister?« lenkte ich ab.

      Sie schien kaum gehört zu haben. Ihr helles Auge lag mit verwirrender Ruhe auf mir. Groß wie ein ganzer Himmel.

      »Der Zug um die Augen, dieser Mund …« wie im Traume sagte sie das.

      Ich bemühte mich ihr ruhig ins Gesicht zu sehen. Es war mir sehr schwer. Sie betrachtete mich lange. Dann rückte sie den Stuhl näher, und ihre Stimme hatte einen innigen, vertraulichen Ton, als sie von ihrem Bruder erzählte. Sie sprach leise, und ihr Haupt war mir so nahe, daß ich den Duft ihres blonden Haares spürte. Die lebhafte Erinnerung an Glück und Weh entflammte ihr Auge und belebte ihr Antlitz. Im Feuer der Erregung erschienen mir ihre Züge so bekannt, als wäre ich der teure Tote, dessen sie gedachte.

      Diese Augen … dieser Mund … dachte ich das ist mein Gesicht, nur veredelt, verfeinert …

      Und als sie endlich, ein Schluchzen in der Kehle, verstummte und das zarte Köpfchen in die Brüsseler Spitzen vergrub, da hätte ich rufen mögen: Ich bins! ich bins! Lebend genoß ich das Glück, von solch einem Weibe beweint zu werden … und ich weiß nicht, wie’s kam, ich strich ihr mit der Hand ganz leise über den abendroten Scheitel. Sie ließ es geschehen.

      Dann hob sie die Augen, die voller Licht waren: »Wenn er doch lebte!« sagte sie nachdenklich. »Wir wären beisammen geblieben und ich hätte nie geheiratet …«

      Ich horchte auf.

      Und jetzt brach ihre Natur durch: Sie weinte heftig und stürmisch.

      Ich sah wie die Sonne starb, und dachte: »Sie ist eines anderen Frau …«

      Aber ihr Weinen übertönte diesen Gedanken.

      Und ehe noch der Sonnenrand ganz hinter den violetten Hügeln versunken war, lag ihr Köpfchen an meiner Brust, und ihr wirres, goldenes Haar kitzelte mein Kinn. Und dann küßte ich der blonden Frau Lucy die tauhellen Tränen fort, und zugleich mit den ersten, blassen Sternen dort oben blühte ein Lächeln auf ihren roten Lippen …

      … Als ich eine Stunde später ihrem Gatten an der Gartentür begegnete, bemerkte ich just da er mir die Hand entgegenstreckte ein Stäubchen an meiner Kravatte. Dieses Stäubchen! Ich verlor es nicht aus dem Auge und bemühte mich, es mit der einen Hand fortzuknipsen, während ich die andere hastig in seine legte.

       Inhaltsverzeichnis

      Das war… das war… an der Ostsee. Ich kam von einem frühen Morgengang. Der Wald um mich her war still, ganz still. Auch mein Schritt verklang auf dem weichen, habitbraunen Waldboden. Nur die Luft war voller Vogelsang. Schulterhohe Farren prahlten mit perligem Tauschmelz. Die steifen Stämme glühten, und ihre hohen Kronen schwankten lautlos her und hin, als wollten sie den weiten Himmel blankscheuern. Und der war doch so klar.

      Jetzt tauchte das Dorf auf. Viel weißer waren die kleinen Häuser als sonst, und ihre moosbewimperten Augen, die Fenster, blinzten viel heller. Und der Kirchturm mit dem roten Zwiebeldach, drollig: der sah aus wie ein stämmiger, kerngesunder Pausback. Drüben die Straße schimmerkiesig, und die Meilensteine, an ihrem Ranfte im Grünen, wie Kinder im Hemdchen, die knieen und beten! Nicht? Beten, ja! Dank beten.

      Ich ging durch die Gassen. Hart vor mir war der Morgen hier gegangen. Ich sah seine goldene Sohlenspur. Rechts bald, bald links hinter hellgrünen Latten standen sonnenhaarige Mädchen. Sie sangen und schnitten Rosen, sich damit zu schmücken. Wir lachten und nickten uns zu. Und aus den Fenstern lugten freundliche, uralte Mütterchen zum Himmel hinauf mit lichtmatten, aber lachenden Augen. Kinder standen im Hemde am Türpfosten. Sie klatschten in die Hände, und ihre beiden pfirsichroten Backen waren voll Sonntagskuchen …

      Dann stand ich am Meer. Das Meer war wie violenblauer, schwerer Atlas. Ein winziges, ockergelbes Segel sonnte weit draußen, und am Horizont zog wie ein silberweißer Schwan der große Rügendampfer…

      Ich staunte hinaus in die flimmernde Pracht. Wie ein Kind, das ein schönes Spielzeug erhalten hat, hätte ich Alle rufen mögen, die mir lieb sind: »Kommt und seht, ist das nicht herrlich?!«

      Dabei war meine Brust voll Jubel und Lachen.

      Ein brauner, alter Fischer kam just des Wegs. Ich eilte hinzu und drückte seine schwielenharte Hand, daß es mich schmerzte …

      Ja, das war an der Ostsee. Hab damals übrigens fleißig Tagebuch geführt. An diesem Tage schrieb ich in mein Heft: »Ein Sonntag …!« Kein Wort mehr.

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