Richter, den Arm, und die anderen folgten zu zweien. Niemand sprach. Alle hatten lichtscheue Augen, die verweint aussahen, und gähnten vor Hunger und langer Weile. Die Familie sollte bei der Tochter des seligen Herrn Anton, Frau Irene, verwitweten Horn, geb. von Wick, zu Tische sein, und die Frau Majorin schlug ein ihrer Behäbigkeit stetig widersprechendes Schrittmaß ein, dessen Ungeduld mit dem pedantischen Trauermarsch ihres steifen Bruders schlecht zusammenpaßte. Herr Stanislaus merkte das sinnlich-irdische Streben ihrer Füße und sagte wie ermahnend: »Der arme Anton.«
Die Majorin nickte nur. Herr von Wick schob nun einigemal die schmalen Schultern in die Höhe und machte dabei ein besorgt lauschendes Gesicht. Er steigerte diese Bewegung und wiederholte sie betont vor der Haustüre, angesichts der ganzen Familie so lange, bis Frau Irene nervös fragte: »Was ist dir, Onkel?« Herr von Wick sammelte zuerst eine ausreichende Menge von Ergebung in seinem bangen Gesicht und stöhnte dann, indem er die ängstliche Bewegung hastig weiterübte: »Bin ganz steif hab mich wohl verkühlt in der Kirche.« Frau Irene nickte nur, und ihre Schwester Friederike lispelte im Tone ergreifendster Entsagung: »Ich auch.« Dann trat die Französin mit dem Sohne der verwitweten Horn, einem siebenjährigen, blassen Jungen, zu den übrigen, und die bleiche Friederike strich ihm leise über die Stirn. Sie dachte: »Er ist so blaß, gewiß hat er sich auch verkühlt.« Beim Treppenaufwärtssteigen im dunkeln Stiegenhause vertraute sie der Schwester: »Oswald hustet.«
Erst als die Familie um den gedeckten Tisch saß, vergaß ein jeder seine eben aus der Seelenmesse mitgebrachte Krankheit. Herr Stanislaus von Wick hatte seinen Platz neben seiner Schwester und neben Friederike. Der Würdige schien die übermäßige Schultergymnastik von früher durch eine götzenbildartige Starrheit gutmachen zu wollen. Er sah über sein Gegenüber, das ältliche Fräulein Auguste, die unermüdliche Tante des Hauses, von welcher niemand ahnte, in welchem Grade sie eigentlich verwandt war, fort in die dunkelste Ecke des Speisezimmers, in welchem zwei hohe kattunbezogene Lehnstühle ratlos bei einem viel zu kleinen Tischchen standen. In diesem Augenblicke sah Herr von Wick so ungeheuer beschäftigt aus, wie in seiner Kanzlei, wenn ihn jemand beim Zeitungslesen störte. Das Messer hatte sich nach Art eines Federstiels durch seine harten Finger gedrängt und wartete, bis er unter das Aktenstück seiner momentanen Gedanken das feine, wie aus Zittergras geflochtene ›Stanislaus von Wick‹ setzen würde. Die ganze Umgebung war sich dieses bedeutenden Augenblicks bewußt und verharrte fast atemlos. Nur unten löffelte der kleine Oswald mit verspäteter Eile seine Brühe, und Auguste, die an jedem Familienfest für drei vorangehende und drei folgende Tage sattaß, beschäftigte sich mit der Lösung der Aufgabe, ebensoviel zu reden, wie zu essen. Sie stellte ihre Worte als Schirm vor ihrem übervollen Teller auf, und ihre Phantasie verdaute mit ihrem Magen um die Wette. Diese komplizierte Tätigkeit indessen erhitzte sie nicht wenig, und dann und wann mußte sie mit beidem inne halten.
Während einer solchen Pause rief Herr von Wick seine Augen von den hohen Lehnstühlen ab, gewährte ihnen kurze Rast auf Tante Augustens schattiger Stirne und schickte sie dann mit großer Bedeutung der Hausfrau; die verwitwete Horn, welche sich mehr als geborene von Wick fühlte, empfing die Sendboten ihres Oheims mit Feierlichkeit und unter tiefem Schweigen der Umsitzenden. Sie faßte ihr Obstmesserchen, hob es mühsam bis an den Rand des mit gekröntem ›W‹ bezeichneten Weinglases und schlug einmal an. Diese kleine Ursache hatte eine Fülle mächtiger Wirkungen: Alle Waffen unterbrachen ihre mehr oder weniger freudige Hast, und die Servietten tauchten wie weiße Parlamentärsflaggen aus unterschiedlichen Schooßen und wehten Stillstand und Frieden. Die kaninchenäugige Französin riß den Löffel aus der Hand des Kleinen. »Que veux-tu?« pfauchte das Kind, und die Mademoiselle hauchte in höchstem Erschrecken: »Fais attention!« In diesen Geräuschen waren die ersten Worte des Herrn Stanislaus spurlos untergegangen. Er reckte sich nun noch höher und drückte an seiner Halsbinde, um das, was ihm in der Kehle eingeschlafen war, aufzurütteln. Seine farblosen Augen suchten die beiden Lehnstühle: »Dort«, sagte er und wartete, bis alle Blicke diesem Befehle gefolgt waren, »hat mein armer Bruder Anton, Gott sei ihm gnädig, vor acht Jahren seine Seele ausgehaucht. Seine allerletzten Worte galten dem Wohle unserer Familie. Vertragt euch und helfet einander, hat er mir am Tage vor seinem Tode gesagt. Und gemeinsam und einträchtiglich, wie er es gewünscht hat, begehen wir heute den achten Sterbetag. Gäbe Gott uns die Kraft, in Stille und Gesundheit noch lange sein Andenken zu feiern; wir dürfen sicher sein, der Geist unseres Bruders, beziehungsweise eures Vaters«, er wandte sich bei diesem Wort an die Hausfrau und an Friederike, »Großvaters«, seine gerührten Augen ruhten auf Oswald, der leise und heimlich Brotkrumen mit feuchten Fingern aufpickte, »schwebt segnend über uns.« Ermattet von Anstrengung und Ergriffenheit setzte sich Herr Stanislaus, wobei er trotzdem nicht vergaß, die langen schwarzen Schöße sorgfältig aufzuschlagen. Er hatte am Todestage seines Bruders ungefähr dasselbe gesprochen, und seither veränderte er immer nur fortlaufend die Nummer des Sterbetages. Aber die Worte hatten dadurch, daß sie jährlich nur einmal gebraucht wurden, eine gewisse Frische bewahrt, und Herr von Wick schien auch ein jedes in seinem Mund abzustäuben und zurechtzubiegen, ehe er sie aussprach. Nachdem die Gläser alle einander begegnet waren und sich mit entsprechender Zurückhaltung begrüßt hatten, sagte die blasse Friederike mit heftigem Hüsteln: »Ist Papa in diesem oder in jenem Sessel gestorben?« Aus halbgeschlossenen Lidern schaute sie in die Ecke. Die Hausfrau fand diese Frage unpassend und zuckte die Achseln, Herr von Wick stak noch zu tief in seiner Rührung, die Majorin kaute mit vollen Backen, so daß die Antwort auf Tante Auguste fiel. Sie zögerte auch nicht lange, strich mit der Hand über die grauen Scheitel, wie um einen Teil ihrer Erinnerungen zu wecken, und sagte dann mit heroischer Entschiedenheit: »In dem.« Durch solche genaue und pietätvolle Kenntnisse suchte sie stets ihre sonst etwas rätselhafte Familienzugehörigkeit zu beweisen. Nun gab es ein großes Hin und Wider. Alle standen auf und umstellten betrachtend die beiden Stühle. Endlich trat auch Herr von Wick hinzu, drängte sich hinter die Lehnen und begann deren Rückseiten abzutasten. Dann gab er den gespannt Wartenden Bescheid: »Es ist der, welchem eine Schraube fehlt. Diesem hier fehlt die Schraube, sintemal ist mein Bruder Anton in diesem Lehnstuhl gestorben.« Alle blieben noch eine Weile, als warteten sie, ob nicht der Sessel auch ein Wort mitsprechen würde. Als der in seiner teilnahmlosen Ruhe schwieg, begaben sich alle an ihre Plätze zurück.
»Dort im gelben Kanapee ist die Großmama gestorben«, konstatierte die hüstelnde Friederike. Und nun zeigte man sich gegenseitig alle Möbel, in denen ein von Wick oder eine von Wick in ihrer leiblichen Gestalt sitzen geblieben waren, während ihre Seelen diejenseitigen von Wicks suchen gegangen. Es gab deren nicht wenige; und es war eine große Schande, bei ›von Wicks‹ Stuhl zu sein, wenn nicht irgendwer auf einem gestorben war. Das empfand der kattunbezogene Lehnsessel neben Herrn Antons Sterbepfühl ganz mächtig.
Die Pause war etwas lang geworden. Die Hausfrau ließ einen ihrer Finger auf den elektrischen Knopf fallen. Während die anderen immer noch letzte Möbel und letzte Worte wiederaufzählten und Friederike mit mattem Lächeln, wie bei jeder Gelegenheit auch diesmal, anführte, daß Großmama von Wick zuletzt etwas Französisches gerufen hatte, trat der ›alte Johann‹, der schon undenkliche Zeiten unter diesem Namen in das Inventar gehörte, ein und balancierte mit einem Rehfilet über das glatte Parkett. Der ›alte Johann‹ war längst seines Dienstes ledig, bezog von verschiedenen Generationen der von Wicks verschiedene Pensionen und bediente nur ganz ausnahmsweise an besonders wichtigen Sterbetagen. Er zog dann seine alte verschossene Livree mit den Silberknöpfen, welche das Wappen und die Umschrift ›constantia et fidelitas‹ trugen, an, stülpte riesige weiße Zwirnhandschuhe über die gichtkrummen Hände und nahm sich in diesem Aufzug aus, wie ein verkleidetes Skelett. Wie ein welkes Blatt trieb er an das Ende des Tisches heran und blieb bei Irene, der verwitweten Horn, kleben. Seine halbblinden Augen mußten sich erst an die Dämmerung des Speisezimmers gewöhnen, und er hielt die Schüssel bloß dem Gefühl nach in der Richtung, in der er eine Person vermutete. Frau Irene wälzte ein kleines Stück Filet mit großer Anstrengung auf ihren Teller und nahm die dazugehörigen Reiskörner wie einen Segen aus den zitternden Händen des Greises, aus denen schon ihr seliger Vater und ihr seliger Großvater ihr Filet empfangen hatten. Dann verbeugte sich Frau Irene verehrungsvoll gegen die Zwirnhandschuhe, und der alte Johann sah aus seiner Vogelperspektive bereits auf die violette Haube der Majorin Richter, die mit tiefem Verständnis die Schüssel durchmusterte. Der greise Diener begann sich dafür zu interessieren, wem diese Haube da unten gehören