Rainer Maria Rilke

Ausgewählte Dramen, Dichtung, Erzählungen, Romane & Beiträge


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war sie vorbei. Rosinchen stand wie im Traum und fühlte an ihrer Rechten etwas seltsam Schweres, das sie in die Erde zu ziehen drohte. Es war die ›Wertheimer‹. Sie zitterte am ganzen Körper vor Schrecken und Erregung. Sie flüchtete mit dem Kleinod in eine dunkle Ecke des Flurs. Dort fand sie einen ausgemusterten Stuhl, auf den sie sich sachte setzte und von dem aus sie die schwarze Kassette zu ihren Füßen betrachtete. Manchmal schien ihr, als klaffte der Deckel leise. Sie bückte sich hastig und konnte sich von der Widerspenstigkeit des Schlosses überzeugen.

      Wie ein Inder vor seinem Fetisch hockte sie vor dem schwarzen Geheimnis: mit über den Knieen gefalteten Händen und großen lauernden Augen. Sie vertraute den Winken des Schicksals und hatte ein tiefes, romantisches Verständnis für seine geheimen Absichten. Seit sie die ›Wertheimer‹ in der Hand gehalten hatte, wußte sie: Es war ihre Mission, die Tiefen dieses Eisenbergwerks zu erforschen. Und sie fand diese Mission ebenso wichtig, wie die Lichtung des Nilquellengebiets oder die Versuche über das animale Leben der Sporenpflanzen. Ein heiliger Eifer, eine heldenhafte Entschlossenheit überkam sie, nicht eher zu rasten, bis dieses Schloß, nicht mit Gewalt, mit List und Klugheit in ihrem Besitze sei. Sie fühlte sich ordentlich bedeutend werden und wachsen mit ihrer Aufgabe. So, mit großer Hoffnung und großer Entschiedenheit kam sie in Karbach an und ließ das schwarze Geheimnis nicht früher los, als bis es seinen dauernden Platz in der neuen Wohnung gefunden hatte.

      Rosinchen gehörte zu denjenigen Menschen, die sehr liebenswürdig sein können, wenn sie irgendwas erreichen wollen. Dazu kam, daß diese Situation ganz neu war in ihrem Leben. Sie hatte ein Geheimnis, und dieses Geheimnis war ein Geheimnis. Das war ja an sich schon ein ganzer Roman oder wenigstens wie das vorletzte Kapitel davon. Sie fühlte sich auf ihrem Posten wie ein Ambassadeur, der unter Wilden irgendwas auskundschaften soll, daran das Wohl ganzer Staaten, Weltkrieg oder Weltfrieden hing. Und je nachdem sie das besonders schlau und gründlich erforschte, fielen die Lose. So schien in den ersten Jahren das Zusammenleben mit Rosine hell, als hätte die Sonne selber ein Zimmer in dem Hause gemietet. Unter ihren Scheiteln wohnte auch nicht mehr die Wahnvorstellung jener schwarzen eisernen Kiste; Rosinchen wußte bloß dunkel von einem großen Zweck der sie hier festhielt, und daß sie immer lächeln mußte, um ihn zu erreichen. Das war ja schließlich nicht gar so schwer.

      Dabei bekam sie eine große Achtung vor sich selbst, die je nach ihrer Stimmung, ihrer Verdauung und dem Wetter in Staunen oder Bewunderung über das eigene Benehmen Ausdruck fand. Sie brachte es über sich, in Erfüllung ihrer hohen Mission Jahre neben Klothilde zu leben, ohne sich auch nur mit einem Blick zu verraten, ohne jemals neugierig zu scheinen und ohne zusammenzuzucken, wenn bei einer Gelegenheit die ›Wertheimer‹ aus dem Alltagsversteck auftauchte. Die ersten Male schielte sie wohl ein wenig über die vorgehaltene Zeitung; dann aber schämte sie sich dessen und machte sich in solchen Augenblicken meistens in einer sehr fernen Ecke oder in einer andern Stube zu tun. Mein Stunde kommt auch noch mal, vertraute sie. Aber in einer schlechten Nacht, als draußen die Katzen schrieen wie Kinder, die einer würgt, und als die Regentropfen monoton klopften, wie die Totenwürmer im alten Eichenschrank, kamen ihr die ersten leisen Zweifel an dem Erfolge ihrer bisherigen Taktik. Sie stand am Morgen blaß und müde auf, und die Brust schmerzte sie, als wäre die ganze Nacht die ›Wertheimer‹ darauf gelegen. Sie begann beim Frühstück zaghaft zu klagen. Klothilde, der das fremd war an ihr, war aufrichtig besorgt und erleichterte durch ihre Teilnahme der Freundin sehr, in das neue Kampfsystems, auf dessen Fahne eine gewisse schwärmende Schwermut stand, hineinzuwachsen. In wenigen Wochen war die ganze alte Rosine abgelegt, und eine neue elegische Rosine war an ihre Stelle getreten, die durch die Stuben ging, als ob sie jemanden zu wecken fürchtete, und den Wein so verdünnt trank, daß die Monatsrechnung viel weniger ausmachte als vorher. Rosinchen hatte für ihre eigene Person nur gewonnen. Die Hausgenossin fürchtete, daß sie sie zu sehr mit Arbeit überhäuft hätte, und suchte ihr nun möglichst viel abzunehmen. Dadurch fand Rosinchen wieder manche stille, pflichtfreie Stunde, und jede solche Stunde hatte eine leise Tür, zu welcher ›Er‹, der Fliegende Holländer, allein den Schlüssel besaß. Er kam jetzt viel öfter, der Traum von ihm. Sie dachte dann stets, wie innig er bei der gleichen Erinnerung weilen mochte. Dann saß er wohl, als gelehrter, vielleicht sogar als berühmter Mann (man konnte damals noch nicht wissen, was er eigentlich zuletzt werden würde), in seiner dunklen Stube, deren Wände wie aus lauter großen Büchern gebaut waren, und suchte nach dem Stückchen rosa Band, dem einzigen Andenken, das er von ihr bewahrt hatte. Und sie sah, wie er es küßte, und fing im Traum die große, kostbare Mannesträne auf, die wie eine Perle durch die Wellen des breiten Bartes rollte. Er weint, er weint um sie. Und sie wurde immer ganz gerührt über ihn und sich und Klothilde, die von dem ganzen Schicksal wußte; nur den Namen hatte sie ihr verschwiegen. Da gab es also im äußersten Fall noch etwas zu vertrauen. Wenn sie einmal in einer grauen Zwielichtstunde mit diesem heiligen Geständnis herausrückte, dann konnte Klothilde nichts mehr verbergen und mußte auch ihrerseits alle Herzen und eisernen Kisten mit einem einzigen Schlüssel aufsperren.

      Aber sie kam rasch von der Idee ab; denn ihr fiel ein, daß Klothilde ›ihn‹ ja gekannt hatte, freilich ganz flüchtig und ohne etwas zu ahnen. Und sie fühlte, daß sie dadurch den oft so prächtig gezeichneten Geliebten in dem Empfinden der Freundin entzaubern und zum nüchternen Erinnerungsbild erniedern würde. Dieses Erinnerungsbild könnte Klothilden auch gar nicht angenehm sein, da ›Er‹ sie seinerzeit offenbar vernachlässigt und Rosine, man denke trotz des Namens, augenfällig vorgezogen hatte. Rosine lächelte immer noch bei diesem Bewußtsein. Übrigens hatte die Sache mit dem ›Namen‹ noch ein anderes Bedenken. Er hieß nämlich gar nicht so, wie man eigentlich heißen soll. Er hieß: Jakob Gans. Das war ein Unglück; denn erstens ist Jakob ein Name für Raben und nicht für Menschen im vorletzten Romankapitel, und dann war Gans nicht schön und falsch obendrein, da es doch eigentlich ›Gänserich‹ hätte klingen müssen. Denn daß ihn Rosine immer Rolf oder Robert rief, änderte an diesem Schicksal ebensowenig, wie daß Rosinchen sich in ihren Träumen ›Thea‹ nannte, oder doch sich von dem Traumrobert so rufen ließ.

      Sie litten schließlich beide an demselben Mißgeschick und gehörten deshalb nur umso sicherer zusammen.

      Daß Jakob Gans später anderer Meinung wurde, hat ihm Gott gewiß verziehen; denn Jakob Gans war, um berühmt zu werden, immer noch geeigneter (man konnte es dann vielleicht lateinisch schreiben), als der schreckliche Name Rosine paßt, um geheiratet zu werden.

      So war Rosinchen in dieser Zeit lauter Versöhnung und Nachgiebigkeit, versuchte mit steifen Fingern ein paar langvergessene Lieder von Schumann auf dem verstimmten Klavier, las den Heine aus ihrem Konfirmandenexemplar und ging vor dem Schlafen mit losem Haar im Zimmer auf und nieder.

      Aber die Jahre blieben weder vor ihren Schumannliedern, noch vor ihren offenen Zöpfen stehen. Als sie zum fünfundvierzigstenmal Rosine gefeiert hatte, hörte sie unwillkürlich mit allem auf: mit dem Schumannspielen, mit dem Heinelesen und mit dem Haarelosflechten. Sie fühlte sich altern im Dienste der Mission. Sie bemerkte, daß sie auch im dunklen Zimmer ihre Scheitel im Spiegel sehen konnte, weil etwas wie gefangenes Mondlicht drinnen war. Und das wurde mit jedem Tag heller und deutlicher. Ihre Melancholie war durch die viele Übung ganz unbewußt geworden. Rosine ging, ohne es gewahr zu werden, immer tiefer und tiefer in ihre Dunkelheit wie in einen großen Wald. Endlich, als sie ganz im Wald war, brach ein Gewitter los. Solche Gewitter haben viel Gefahr: Auf einmal war nichts als Haß in ihr. Haß gegen das unbarmherzige Schicksal, welches ihr diese mühsame, hoffnungslose Aufgabe wie ein Stahljoch aufgebürdet hatte, Haß gegen ihr eigenes Untätigsein, Haß gegen die Stuben, in denen sie wie lebenslang gefangen wartete und im Opferdienste für eine geheime Sache leise hinstarb, und Haß vor allem gegen Klothilde, deren scheinbares Zusehen ihr brutal und gemein erschien.

      Hätte sie nur jemanden dritten einweihen dürfen. Aber sie erkannte rasch, daß dies nicht möglich sei, schon deshalb, weil sie sich nicht imstande fühlte, einen Fremden von der Größe und Wichtigkeit ihrer Lebenspflicht zu überzeugen. Es wäre ihr ein Trost gewesen, wenn der wilde Kampf ihrer Seele nicht so ganz unbeobachtet hätte vertoben müssen, wenn ihr einzig dastehender Heroismus einen verständigen Biographen, wenn ihre rührende Aufopferung einen begeisterten Dichter gefunden hätte. Aber das war nicht zu erhoffen, und sie weinte viel, bei Tag aus Zorn und bei Nacht aus Rührung über ihre