Rainer Maria Rilke

Ausgewählte Dramen, Dichtung, Erzählungen, Romane & Beiträge


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verlegen und preßte die kleine Grübchenhand fest vor den Mund.

      »Warum?« fragte Werner.

      »Weil … ich kanns nicht sagen«, unterbrach sich die Kleine. Dabei sah sie ganz tückisch aus.

      »Also, du Gernklug«, schmeichelte der Kranke müde, »wer ist es denn?«

      Maus schmiegte sich an ihn.

      »Die heilige Agathe?« forschte der junge Mann und liebkoste ihr das Haar.

      »Oh nein.«

      »Die heilige Anna?«

      Unwillig schüttelte Maus den Kopf.

      Werner nannte alle heiligen Frauen, die ihm gerade einfielen. Das Kind verneinte immer entschiedener und sagte endlich schmollend und voll Ungeduld: »Du Dummer, überhaupt keine Heilige. Ein Mensch.«

      Werner lächelte.

      »Rat einmal.«

      »Oh, du kannst nicht raten«, fügte Maus gleich kläglich und ein wenig verächtlich hinzu, als sie in des Freundes ratloses Gesicht schaute.

      Sie setzte sich zurecht und sagte: »Die Anne-Marie.« Der Kranke wurde sehr blaß. Seine weißen Hände zitterten leise. Er sank im Stuhl zurück und schien das Bild Anne-Mariens, wie es in ihm wuchs, neben der großen, prächtigen Madonna zu sehen und hastigen Blicks zu vergleichen. Das Kind sah zuerst sehr enttäuscht und erstaunt aus, als Werner ernst und still verharrte, und erschrak heftig, als er jetzt aufsprang, nach den Krücken langte und mit einer fremden Stimme befahl: »Komm.«

      Da hatte die Kleine sehr große Furcht. Sie wollte immer wieder fragen: »Was hast du?« Aber das ängstliche Herz pochte ihr in der Kehle und ließ dem Worte keinen Raum. So kroch sie mit schwachen Knieen hinter den dröhnenden Krücken des Kranken her in die Bodenkammer. Dort zerrte Werner sie, ehe ihre Augen durch das Dunkel fanden, am Arm und sagte hart: »Nicht wahr, das ist auch Anne-Marie?«

      Maus konnte nichts erkennen. Sein Griff schmerzte sie; sie nahm alle Kraft zusammen und sagte, dem Weinen nahe: »Ja.«

      »Und das?« hörte sie den Kranken. Jetzt glaubte sie mit weiten Augen etwas zu erkennen, was der Holzmadonna unten ganz ähnlich war: »Auch.«

      Sie fühlte sich fortgezerrt. Wie beschwörend klang Werners atemloses Fragen: »Und die hier?«

      »Ja, auch«, gab Maus eilig zu. Allmählich erkannte sie im Dunkel lauter schöne, große Anne-Marien. Da verging ihr ein wenig die Angst. Sie sagte in Bewunderung: »Ah«, und dann, wie um nicht am Schauen gestört zu sein durch lauter Fragen: »Alle, Alle.«

      Da ließ Werner ihren Arm frei. Er wankte in die Ecke und fiel erschöpft in den Stuhl. Seine beiden Krücken polterten zu Boden. Maus schielte scheu und ungern zu ihm hin. Er sah sehr traurig aus. Die Kleine kehrte den Blick rasch wieder zu den vielen Puppen und ging, einen Finger im Mund, auf leisen Zehen von einer hölzernen Anne-Marie zu der andern.

      Werner hielt seine Tür verschlossen. Nur seiner alten Aufwärterin öffnete er, wenn sie ihm das Essen brachte. Aber am Abend konnte sie das Mahl, fast unberührt, wieder fortnehmen. Bei der späten Kerze schnitzte der Kranke unermüdlich. Seine Hände fieberten, und vor Anstrengung waren die Finger fühllos. Tief in der Nacht brannte sein Licht zischend und zuckend in sich nieder und verlosch. Die Dunkelheit fiel schwer auf seine müden Augen, aber die krampfige Hand ließ nicht von dem Messer. Sie tat noch ein paar blinde, rasche Schnitte in das Holz. Gewaltsam wie Hiebe saßen sie. Dem Manne geschah, so müsse die heilige Jungfrau, die seine Sehnsucht war, ihm in dichter Dunkelheit das Werkzeug leiten und seiner gehorsamen Hand die Macht schenken, jene Züge zu bilden, die er sich nicht vorstellen konnte, die aber der Inbegriff alles Hohen und Heiligen sein mußten.

      Er ließ die Arbeit nicht los und wachte mit wehen Augen dem ersten Tag entgegen. In das zögernde Licht hob er das Holzbild. Und was ihm entgegensah, war immer wieder diese: Anne-Marie, die in den nächsten Tagen Hochzeit halten sollte. Im nächsten Augenblick, da er dies erkannte, schlug er die Figur gegen das Fensterbrett, so hart, daß ihr Kopf losschnellte und in weitem Bogen in die zwielichtvolle Stube flog. Werner ließ den Holzklotz fallen und grub seine Finger ins Haar, so daß er seine Nägel wie kalte, eiserne Schrauben eindringen fühlte.

      Drüben hob sich die frühe Sommersonne. Das Grau schmolz von den Dächern, und in dem nahen Garten jubelte der Morgen mit hundert Vogelrufen. Übernächtig starrte Werner in die Purpurpracht. Er konnte nicht knieen mit seinen toten Füßen; aber seine verzweifelte Seele lag auf den Knieen in fieberndem Flehen, als er hoch die Hände zusammenschloß und betete:

      »Heilige Jungfrau, du bist doch, und du bist gewiß nicht so wie die Anne-Marie. Du kannst nicht sein wie eine, die Hochzeit hält in diesen Tagen. Dich will ich verherrlichen. Seit Gott mir die Gnade genommen hat, meine Füße zu brauchen, mache ich dein Bild. Hörst du dich! Mit meinen armen, hilflosen Händen mach ich dir meine hölzernen Gebete. Hast du nie Freude daran? Heilige Jungfrau, es sind schlechte Bilder von dir, und deine Güte hat nicht Raum in ihnen. Aber gieb mir, daß ich nur eines mache, das dir ähnlich ist; wenn auch nur so ähnlich wie der kleine Kohlenfunken der Sonne. Ich bin dir dankbar. Nur laß es Licht sein von deinem Lichte, Liebe von deiner Liebe. Nur laß es nicht sein wie jene, denn du kannst nicht sein wie die Anne-Marie, die Hochzeit hält in diesen Tagen.«

      Seine Stimme war farblos, und seine Hände glitten in satter Erschöpfung in seinen Schooß. Mit geschlossenen Augen lauschte er dem Gebete nach. Er ruhte, wie Kinder ruhen nach einer langen, wilden Fiebernacht.

      Aber nach wenigen Minuten fuhr er jählings empor, probte ein neues Holz in den Händen und begann hastig, mit unnatürlicher, überreizter Gewandtheit zu arbeiten. In banger, lauernder Spannung wachte sein Auge über dem, was sich unter schnellen Schnitten formte und entfaltete. Er fühlte jetzt eine heilige, sieghafte Kraft in sich, und die Weihe seines Gebetes verlieh ihm eine süße, heimliche Hoffnung. Bei jedem Griff empfand er: diesmal war es anders, als alle fünfzig oder hundert, oder tausendmal vorher. Etwas ganz Neues, keusch in seinem Niedagewesensein, nicht Alle in Einer, die Eine, die gar nicht wußte von den Allen, mußte gelingen. Ein großer, innerer Jubel stärkte ihn, und ihm geschah, daß die Freude in seinen Fingern immer heftiger zitterte, als die krampfhafte Ermüdung. Nach ein paar Stunden, die ihm wie Minuten vergangen waren, rastete er, stellte die Arbeit auf das Fensterbrett und betrachtete mit sinnendem Lächeln die zarten Züge, die, wie sacht verschleiert, aus dem duftenden Holze hervortraten. Es war ein lindes, leidendes Gesicht; wie das einer Abschiednehmenden, das man nicht mehr klar erkennen kann, vielleicht weil sie schon zu weit fort ist, oder weil einem die Augen voll Tränen stehen. Ganz von ungefähr dachte Werner an seine arme kranke Mutter, die er kaum gekannt hatte, weil sie so früh die Hände in der Grube hatte falten müssen. Und während er ganz mechanisch an dem Holz weiterschnitzte, ging seine Seele, von leiser Rührung geführt, bis zurück zu den kleinen, blassen Blüten der fast vergessenen Mutterliebe.

      Wie ein Türengehen war es gewesen, was den Gelähmten aus seinen Träumen schreckte. Er fuhr auf und durchforschte mit verstörten, fernhergerufenen Blicken die Stube, in deren tiefsten Ecken schon die Dämmerung Netze spann. Er war allein. Aber als er seine Arbeit wieder aufnahm, wußte er: Es saß jemand neben ihm, der mitschnitzte. Wie schützend neigte er sich über die Figur. Aber der neben ihm langte doch herzu und riß mit zuckenden Griffen an den überfeinen, leidenden Linien und machte, daß sie etwas Festes, Irdisches bekamen: etwas von Anne-Marie. Werner fror vor Entsetzen. Er fühlte, daß es jetzt den letzten Kampf galt. Sein Werkzeug blinkte in rasender, verfolgter Eile auf und nieder und fuhr wie ein Blitz in die gebahnten Rillen, aus denen die Späne spritzten. Er wollte dem anderen zuvorkommen. Der aber tat in unerbittlicher, brutaler Ruhe Schnitt um Schnitt und zerstörte höhnisch jeden Zug des Atemlosen. Zuletzt schien es dem Kranken, als stünde seine haltlose Hast, ganz besiegt, im Dienste des Feindes. Da ergriff ihn der Zorn der Hilflosigkeit. Seine bebende Rechte fiel das Holz in immer wilderen und zielloseren Hieben an. Seine Augen folgten ihr nicht mehr. Er starrte hinaus, dem Abend ins rote Gesicht, und brüllte: »Du oder ich.« Dabei schaffte seine Rechte, gleichsam losgelöst von ihm, immer fort, und das scharfe Messer formte nicht mehr das harte Holz. Er schnitzte an seinen