Alle in Einer (1897)
Wenn die Anne-Marie zu Werner ins Zimmer trat, legte der blasse junge Mann die Holzfigur, die er eben schnitzte, beiseite, stäubte die Spänchen von seinen Knieen, und schaute sie groß und voll an. Sein dunkles Auge schenkte ihr dann etwas von jener rührenden Dankbarkeit, mit der verwaiste Kinder und einsame Kranke der kleinsten Güte begegnen. Anne-Marie bemerkte wohl nichts davon; sie war es so gewohnt. Sie lächelte ihm zu, besah mit gespannter, kindischer Neugier die unterbrochene Arbeit.
»Die heilige Jungfrau?« fragte sie und ließ ein paar krause Spänchen durch die zieren Finger knistern.
Und oft nickte Werner: »Die heilige Jungfrau.«
Es geschah ja wohl ab und zu, daß der heilige Johannes oder der heilige Laurenz für einen Kreuzweg oder eine Tornische bestellt wurden, manchmal auch der heilige Nikolas mit der Umschrift: »Als ein sonderbarer Patron in Wassergefahren bewahre uns«, oder gar St. Egyd, über welchem jedesmal stehen mußte: »Vor Krätzewurmfraß beschirm uns gnädig.« Aber das waren Bestellungen, und solche kamen dem kranken Werner selten zu. Er schnitzte meist nach eigenem Sinn, und da wurden es lauter Madonnen. Große, die mit stolzer Mütterlichkeit den runden gesunden Knaben des Heils in den reichumfalteten Armen trugen, und kleine hilflose, die, über die Mutterschaft erstaunt, im Begriffe schienen, die winzigen, segnenden Erlöser vor Müdigkeit irgendwo niederzusetzen; dann gab es solche, die hohe, breite Kronen hatten und die Hände ausstreckten in nicht enden könnendem Begaben, und noch andere, welche in verschämter Scheu die steifen Arme über der Brust kreuzten, und diesen waren die Lider gar schwer geworden von dem vielen, langen Augenniederschlagen. Endlich fanden sich jene, die angestrichen sein wollten; die bekamen rote Backen, sehr rote Lippen und sahen gleich viel gesünder aus und viel herrlicher. Aber alle hatten eines in ihren Zügen: die große Dankbarkeit gegen Werner, ohne den sie niemals geworden wären. Und gewiß hätten sich alle gerne zusammengetan und dem jungen Mann in vereinter Kraft geholfen, die seit seinem sechzehnten Jahre gelähmten Beine wieder zu brauchen, wenn nur einmal irgendwer hätte vor ihnen knieen mögen. Aber die meisten waren nicht bestellt, standen in müßigem Erwarten nebeneinander in der Bodenkammer und kamen so gar nicht dazu, daran zu glauben, daß sie, selbst bei innigem Zusammenschluß, ein Wunder vollbringen könnten. Die Leute im Städtchen wunderten sich, daß Werner nicht ermatte, eine Maria um die andre zu schneiden, und die Ältesten schüttelten entrüstet und erstaunt die weißen Köpfe. Sie meinten, das sei ein Frevel; denn wie die heilige Maria eigentlich ausgesehen hätte, könnte keiner genau wissen, am wenigsten Werner, der um seiner Lahmheit willen nie in die Kirche konnte. Anne-Marie war vielleicht die einzige, die sich nicht wunderte. Das kam ihr ganz natürlich vor, wenn sie sich des frommen, zarten Knaben erinnerte, der einst, allen anderen Kindern fremd, mit ihr durch die traurigen Auen vor der Stadt gegangen war. Das war vor seiner Krankheit; allein in seinem Schritt war schon damals etwas Ängstliches, Flüchtendes gewesen, etwas, wovor Anne-Marie sich fürchtete, dessen Hilflosigkeit sie aber zugleich anzog und rührte. Wenn sie nicht sprachen und keine Blumen fanden, sangen seine Lippen oft von ungefähr ein leises, sehnsuchtsschweres Lied, und keiner wußte, woher es ihm kam. Und wenn die Sonne hinter den Weidenzweigen recht rot unterging, brach er in ein Weinen aus, als wäre jetzt ein lieber, wirklicher Mensch gestorben. Das war damals, als sie beide Kinder waren. Und der Anne-Marie schien es kein gar weiter Weg zu sein von dem In-den-Abend-Weinen zum Madonnenmachen, besonders durch das Kranksein hindurch. Deshalb war sie nicht verwundert über sein Tun, und fand es auch sehr natürlich, daß sie, ebenso wie sie mit dem Werner, der wandern konnte, durch die Auen gegangen war, nun bisweilen bei dem Werner, der das Gehen hatte vergessen müssen, in der Stube saß und seine hölzernen Heiligen ganz so teilnahmsreich betrachtete, wie seine Tränen von damals. Sie sah in dem kranken jungen Mann immer noch den seltsamen Spielgefährten, der ihr Mitleid brauchte, wie ihr Lächeln; und sie träumte manchmal von seinen tiefen, leidenden Augen und von seinen Händen, diesen mädchenhaften, weißen Krankenhänden, die in der Dämmerstunde immer etwas Feierliches, Segnendes bekamen.
Diese Träume fielen ihr ein, wenn sie vor dem Kranken saß; sie lehnte dann den Kopf mit dem schweren, falben Haar ein wenig zurück, faltete die Hände im Schooß und sah in sein Gesicht, wie in eine weite Landschaft.
»Anne-Marie, was hast du?«
Sie erwachte und sagte einfach: »Ich denke.«
»Was denkst du, Anne-Marie?«
»Ich denke ob es viele Menschen giebt, die immer krank sind wie du?«
»Ich fürchte, es giebt zu viele, Anne-Marie.«
»Oh! Und für die müßte die ganze Welt nicht sein, nicht die Wälder und nicht die großen Städte, mit den vielen fremden und festlichen Dingen? Sie sehen das alles ja nie.«
»Sie träumen davon, Anne-Marie.«
Anne-Marie schwieg. Sie schämte sich.
Einmal in einer solchen Dämmerstunde sagte Anne-Marie: »Weißt du, oft denk ich mir, ob du auch betest zu den heiligen Jungfrauen, die du dir aus Holz schneidest?«
Der Kranke lächelte fein: »Ich mache sie. Das ist mein Gebet.«
Anne-Marie sann einen Augenblick nach und sagte dann wie zu sich selbst: »Wie du dir die Maria vorstellst. Warum gerade so? Hast du einmal ein schönes Bild gesehen?«
»Ich weiß nicht. Ein Bild oder einen Traum. Aber ich habe sie immer vor mir. Wie die Sehnsucht ist sie.«
Da fragte das Mädchen: »Welche ist ihr am ähnlichsten?«
Werner antwortete mit geschlossenen Augen: »Alle zusammen sind sie. Wenn du das Liebliche und Gnädige und das Mächtige und Innige von den Vielen an Eine schenkst, dann ist diese Eine ihr ähnlich. Immer muß ich neue schnitzen; denn es ist so viel Gütiges und Trautes in ihr. Alle diese zusammen und jene, die mir noch gelingen, sind sie. Ich liebe sie so.« Er breitete feierlich die Arme aus wie vor einer Vision.
Dann verneigte sich Werner, griff nach der Figur, an welcher er eben schaffte, hielt sie hoch in den Abend und flüsterte: »Vielleicht mach ichs noch einmal: Alle in der Einen.« Er atmete tief auf. »Die bekommst du dann, Anne-Marie.«
Anne-Marie hatte Schelmerei in den Augen, sie lachte: »Zu meiner Hochzeit.«
»Warum zur Hochzeit?« Werners Stimme war fremd und rauh, wie nach einem Schrecken.
Anne-Marie sagte ernst: »Weil das ein Fest ist.« Und ihr war auf einmal sehr bange.
Die Zeit war da, in welcher Anne-Marie eine Madonna brauchte. Werner schleppte sich auf seinen Krücken jeden Morgen in die Bodenkammer, um das geeignete Holz für die neue Arbeit zu wählen. Keines paßte, und er blieb dann immer, erschöpft vom Aufstieg und vom Suchen, in einem Winkel der kühlen Kammer sitzen und musterte langsam die zu vielen Marien, die so traurig waren, weil sie nie ein Kind beten gesehen hatten und weil vor keiner ein Licht brannte am Sonnabend. Er dachte dabei gar nicht an die müßigen, verstaubten Heiligen, sondern überlegte, daß Anne-Marie nun heiraten werde, und daß er ihr die eine Madonna schenken müsse zu ihrer Hochzeit.
Er hatte Anne-Marie lange nicht gesehen. Es war, als fürchte sie sich vor ihm seit jenem Abend. Sie schickte nun dann und wann die kleine Klara, ihr zehnjähriges Schwesterchen. Der Kranke gewann das Kind sehr lieb und nannte es Maus, weil es behend und naschhaft und niedlich war. Maus dagegen empfand eine gewisse sorgende Überlegenheit und gestand Werner einmal vertraulich, daß er ihr Kind und ganz dumm und ungeschickt sei. Die Kleine kam jeden Tag und brachte ihm eine Blume, einen Apfel oder einfach ihren frischen, kühlen Kindermund, der ihm das Liebste war.
Nach langer Wahl hatte Werner ein gefüges Holz gefunden und eine von den Madonnen, welche ihm als Vorbild nützlich schien, vor sich hingestellt. Das war eine von den großen, prächtigen, und Maus freute sich mit glänzenden Augen und offenem Mund an ihrer bunten Herrlichkeit.
Plötzlich