und er neigte sich mit wohlwollender Herablassung zu der Hundertjährigen, der er vor mehr als dreißig Jahren den letzten Rehbraten gereicht hatte. Vor dem alten Diener waren tausend Jahre wie ein Tag, und er war sehr erfreut, in dem Herrn Stanislaus von Wick Herrn Peter selbst zu erkennen und in so hohen Tagen recht rüstig zu finden. Bei jedem neuen Schritt erkannte er irgend ein Familienmitglied aus des Großvaters Tagen, und es verlor nun alles Erstaunliche, daß er den kleinen Oswald als Jugendbild des Onkel Stanislaus begrüßte. Die Schwankungen seiner Bratenschüssel bekamen etwas Zärtliches, Schmeichelndes, als er dieselbe um den spitzen Ellbogen des blassen Kindes lenkte. Mit besorgter Aufmerksamkeit folgten die meisten Blicke den Bewegungen des Alten, denn er war eine seltene Sehenswürdigkeit und gleichsam der Inbegriff der irdischen Überreste sämtlicher hochseliger von Wicks.
Auf schwanken Füßen hatte Johann die Tafel seiner teuren Toten umwandelt; nur vor der Französin hatte er ein wenig gezögert, da er augenblicks keine Besetzung für diese rotäugige Person finden konnte. Allein er tröstete sich mit dem häufigen Versagen seines Gedächtnisses und begnügte sich damit, der Mademoiselle die Bratenschüssel fortzuziehen, ehe sie sich hinreichend versorgt hatte. Die Französin sah sich etwas erstaunt um, vermied aber jedes Aufsehen und sagte zu Oswald:
»Bubi, tu as trop.« Dabei nahm sie ganz gelassen ein Stück Braten von dem Teller des Kleinen, der dem guten Bissen scheu und schwermütig nachschielte.
Tante Auguste erzählte währendher lauter geringfügigen Stadtklatsch, und nur ganz selten tat jemand, wie ein Almosen, ein Wörtchen dazu. Die Hausfrau fand es taktlos, an einem solchen Tage so profanes Zeug zu reden, und äußerte einiges darüber an die Majorin; diese nickte zustimmend und kam dadurch dem Rehbraten immer herzlicher entgegen. Friederike hörte gar nicht mehr auf die Universaltante, sondern ließ sich von der Französin zum elftenmale erzählen, daß sie die Absicht gehabt hatte, in ein Kloster zu gehen. Friederike fand das jedesmal ungeheuer interessant und hoffte beim zwölftenmale die Spuren des Romanes zu ergründen, welcher die bleichsüchtige Pariserin zu diesem verzweifelten Entschlusse hätte treiben können. Diesmal wurden sie indessen mitten in der Legende durch die gesteigerte Stimme des Onkel Stanislaus unterbrochen. Herr von Wick hatte sich bemüßigt gefühlt, den alten, getreuen Diener beim Rockschooß festzuhalten und ihm mit gütiger Herablassung zuzuflüstern: »Nun, wir werden nicht alt, mein guter Johann.« Johann konnte nicht antworten. Zuerst weil er zu gerührt war über die Gnade des Großvaters Herrn Peter von Wick, dann weil er bei seiner Harthörigkeit kein Wort der langen Anrede verstanden hatte. Herr Stanislaus wiederholte etwas hastig seine Frage. Sie blieb abermals unverstanden. Herr von Wick, der alles gern glatt erledigt hatte, fand, daß diese rein äußerliche und formelle Angelegenheit zu lange dauerte, und verlor alles Wohlwollen in der Stimme, als er den Alten nun anschrie:
»Na, Johann wie gehts?«
Alle waren jetzt aufmerksam geworden.
Friederike schwieg und die Französin und Tante Auguste und der kleine Oswald, der vor Spannung sogar eine Gabelvoll unterwegs vergessen hatte.
Und Johann hatte verstanden. Mit der verehrungsvollen Vertraulichkeit alter Diener neigte er sich über den weißen glatten Kopf des Herrn Stanislaus und sagte: »Zu viel Gnade, gnädiger Herr Peter.«
Er hatte im Jahre Einst den Großvater, zum Unterschied von dessen anderen, im Hause sich befindlichen Brüdern, stets so genannt. Seine Worte kamen in kleinen Pausen, als hätte er nach jedem mühsam suchen müssen, und der kranken Friederike war, als wäre eine lange unaufgezogene, alte Spieluhr irgendwo losgegangen. Vor »Peter« zögerte der alte Johann einen Augenblick; um so seltsamer und auffälliger Klang der Name in die allgemeine Aufmerksamkeit. Herr Stanislaus zuckte zusammen, wurde sehr blaß, und das gütige Lächeln erlosch auf seinen Zügen. Er fühlte die Blicke aller auf sich lasten und kam sich greisenhaft und hilflos vor; denn in diesen Blicken sah er vervielfacht, was er selbst dunkel empfand: Schrecken und Angst. Er schaute der Reihe nach alle an und fürchtete von irgendeiner Lippe zu lesen: »Herr Peter.« Aber sie schwiegen alle. Da wandte er scheu seine Augen nach rückwärts, und mit aller Kraft sagte er sich: Der Alte ist übergeschnappt. Allein es stand niemand mehr hinter ihm.
Herr von Wick fuhr sich mit der Hand ein paarmal über die schmale Stirne. »Ist dir etwas, Stanislaus?« sagte die Majorin, die sich ein wenig Unbefangenheit bewahrt hatte.
»Nein, Karoline«, gab Herr Stanislaus tonlos zurück. Dann legte er seine Serviette mit krampfhafter Entschlossenheit neben den Teller, erhob sich, indem er beide Arme an den Tischrand stemmte, und ging mit unsicheren Schritten auf die dunkle Ecke zu, in welcher die beiden Lehnstühle neben dem kleinen Tischchen standen. Ermattet ließ er sich in jenen Sessel fallen, in welchem noch kein von Wick gestorben war. Das war ein Akt der Gerechtigkeit. Alle saßen wie gebannt und blickten auf Herrn Stanislaus. Nur Frau Irene, verwitwete Horn, wagte: »Onkel?«
Herr von Wick aber winkte leise ab. Er wollte nicht gestört sein. Er wußte, daß dies sein letzter Lehnstuhl sein werde, heut oder morgen; aber über sein letztes Wort war er noch im Zweifel.
Das Geheimnis (1897)
Es ist wohl bald dreißig Jahre her, seit jeder echte Karbacher, der einmal Rosine gesagt hat, auch Klothilde sagen muß und umgekehrt. Das kommt so: Klothilde und Rosine wohnten in Karbach seit den sogenannten undenklichen Zeiten beisammen, und jeder gute heimische Bürger, der an den Fenstern der beiden alten Damen vorüberging, hätte viel weniger erstaunen müssen, wenn die alte Kirche, des Städtchens Wahrzeichen, plötzlich einen ihrer Türme verloren hätte, als wenn einmal neben dem weißen, flüchtig gescheitelten Kopf Rosinchens nicht die strengen, straffen, seltsam schwarzen Scheitel Klothildens hinter den roten Geranienstücken aufgetaucht wären. Man war es gewohnt, die beiden als Eines zu betrachten, was für die gesprächigen Damen hinter den Kaffeetassen kein geringes Opfer war, da durch dieses Sesostristum Klothildchens und Rosinchens eigentlich eine Person weniger zu bekritteln war. Aber einmal war es wirklich schwer, die Pläne unter dem weißen Scheitel gesondert zu betrachten von den Gedanken, die der schwarze Scheitel beschützte, und man fand einen unausgesprochenen Trost darin, daß aus diesem Wechselverhältnis vielleicht mehr am Kaffeetisch ›Verwendbares‹ entstünde, als wenn jede von den alten Jungfern so ganz allein wie eine vergessene Kerze in sich zusammengebrannt wäre.
Die Leute im Hause wußten, daß es hinter den roten Geranien auch Gewitter gäbe und daß bei diesen Anlässen Fräulein Rosine den Blitz und Fräulein Klothilde den Donner mache, wie das so zu jedem echten gesunden Gewitter gehörte. Sie wußten überdies, daß die Zahl dieser Gewitter viel größer war, als der galligste Wetterfrosch sonst zu prophezeien wagte, und schüttelten nun seit fast dreißig Jahren die Köpfe, so, daß mancher weiß weiterschüttelte, der noch ganz blond angefangen hatte. Sie wunderten sich darüber, was eigentlich die beiden Damen, die weder verwandt, noch besonders an einander gebunden waren, bewogen hatte, aus der Residenz, wo sie gewiß nicht zusammenwohnten, gemeinschaftlich nach Karbach zu ziehen und in dem fast dreißigjährigen Krieg den Beweis zu erbringen, daß sie sich mit Recht Freundinnen nennen durften.
Das Rätsel war schwer zu lösen. Denn hinter die Geranien durften nur ganz wenige lugen, und was die wenigen dahinter sahen, war das Bild einer arkadischen Eintracht. Außerhalb des Hauses sah man das Zweigespann bloß auf dem Markt und in der Kirche. Und während die schwarze Klothilde sich trefflich auf fette Hühner verstand, hatte Rosinchen viel Mitgefühl für fette Messen und tauschte bei jedem »Dominus vobiscum« einen Blick frommen Verstehens mit dem von heiliger Hast triefenden Pfarrer. Und wie bei Rosinchen das Fingergefühl für die Rosenkranzkugeln zur fast überfeinerten Vollendung gediehen war, so konnte Klothilde die Reife der Erbsen am bloßen durch die Fingerrollenlassen erkennen.
So muß der oberflächliche Leser zu der Meinung kommen, er sei doch viel klüger als alle Karbacher zusammen; denn das Rätsel, an dem die guten und unbescholtenen Bürger nun schon so lange ihre Zangen anlegen, glaubt er just mühelos mit dem kleinen Finger geknackt zu haben. Nämlich: Es herrscht eine so wohltätige Ergänzung zwischen den geistigen