Rainer Maria Rilke

Ausgewählte Dramen, Dichtung, Erzählungen, Romane & Beiträge


Скачать книгу

Doktor kam, sich jeden Tag eine Viertelstunde an ihrem Bett auszuruhen, putzte mich hochgezogenen Brauen seine runden Brillen und fragte einmal, wohl nicht ganz absichtslos, ob der Pfarrer im Haus verkehre. Man könne ja einmal zu dritt eine Partie Whist veranstalten. Zu Rosinens nicht geringem Erstaunen nickte Klothilde zu diesem Vorschlag, und der Pfarrer kam, sprach von der ewigen Seligkeit und wann die nächste Messe mit Gesang sein wird, und daß abends Saufest beim ›Roten Ochsen‹ sei, welches er keinesfalls versäumen dürfe.

      In der nächsten Nacht hatte Rosine drei Träume. Einen von der ewigen Seligkeit und dem Herrn Pfarrer. Das war ein schöner Traum. Einen von der ewigen Seligkeit und vom Herrn Pfarrer und von der Orgel, das war auch ein schöner Traum. Und einen von der Orgel, die doch eigentlich der Herr Pfarrer selbst war, und von der ewigen Seligkeit, in der es herging, wie beim Saufest. Das war ein unchristlicher, aber doch der schönste von den drei Träumen.

      Und als der dritte fertig war, packte Rosine alles, das Saufest und die Seligkeit nicht ausgenommen, in die ›Wertheimer‹ und trug die erträumte ›Wertheimer‹ im ganzen Hause umher. Dabei lag sie keuchend im Bett. Das war der vierte Traum oder das Fieber.

      Am anderen Tage war Rosine fieberfrei, aber sterbenstraurig. Sie wußte, daß der Pfarrer nicht wegen des Saufestes und nicht wegen der Kirchenmusik, sondern bloß von wegen der Seligkeit heraufgekommen sei. Und das war sehr arg; nun wußte sie, daß sie sterben werde und sterben ohne Vollbringung. Wie Moses. Eine namenlose Verzweiflung brach über sie herein. Den ganzen Tag hatte sie nur einen Gedanken: Aufspringen und alles, was in der Stube stand, lag oder hing, gegen den Deckel der ›Wertheimer‹ stemmen. Dabei lag sie mit bleiernen Gliedern in den Kissen und hätte nicht aufzustehen vermocht, selbst wenn die Gardinen zu brennen begonnen hätten. Sie wartete in einem fort, daß irgendwas geschehen sollte. Aber der Abend kam ganz mechanisch und mit ihm Klothilde, die die Lampe mit dem dunkelgrünen Schirm auf den Tisch setzte. Dann trat sie in zärtlichen Schritten näher.

      »Ist dir besser?« hörte Rosine fragen.

      Die Kranke antwortete nicht. Wer konnte sie zwingen, zu antworten?

      Klothilde hielt sie wohl für eingeschlafen und begann leise, ein paar Schritte zurück zu tun.

      Aber da fuhr Rosine in den Kissen auf. Die ärmliche Gestalt in dem gestreiften Barchentnachtleibchen wuchs empor.

      »So«, sagte sie heiser. »Fragst du nach meinem Befinden? Das ist rührend. Laß mir nur noch ein bißchen Zeit. Ich mach ja schon, was ich kann. Aber so schnell kann ich nicht sterben.«

      »Rosine!« sagte Klothilde erschrocken und besänftigend. Sie wollte die Hand auf die Stirne der Kranken legen. Aber die Kranke packte sie und warf sie zurück wie ein giftiges Tier.

      »Rühr mich nicht an, du Herzlose. Du hast mich ins Grab gebracht. Du, du …« Der Atem ging ihr aus. Sie hustete heftig und trocken und zitterte dabei. Als sie sich wieder erholt hatte, war sie wie ein Kind. Sie faltete die Hände und bettelte mit leiser, verschwimmender Stimme: »Klothilde, einzige, gute Klothilde, zeig mir die ›Wertheimer‹, zeig mir nur ein einzigmal die ›Wertheimer‹.«

      Klothilde schrieb alles dem Fieber zu. Sie schob die grüne Lampe näher an das Bett, holte die schwarze Kiste, die einem sachten Druck irgendwo gehorchte und aufschnellte. Gierig langte Rosine mit ihren abgemagerten Fingern tief hinein, und ihre Hände schöpften den Inhalt, wie ein Verdürstender die Quelle schöpft. Nichts übersah sie: alte Lose waren da, die vielleicht erst im Jenseits fällig wurden, und halbzerfallene Briefe mit unmöglichen Schriften und knatternde Blumen und seltsam duftende Heiligenbilder und blasse Photographien. Auf einer derselben stand an der Rückseite: »Der schönen Klothilde in treuer Liebe ihr Verehrer Jakob Gans.« Rosine hatte das schon viermal gelesen, ohne zu wissen, daß sie las, und sie las es noch dreimal, ehe sie ahnte, was sie eigentlich gelesen hatte.

      Wie kraftlos sanken ihre Hände, alles entfiel ihnen, und Klothilde raffte rasch allen Tand zusammen und hob das schwere Kästchen von ihren Knieen. In diesem Augenblick hatte Rosine das Gefühl, daß man ihr das Leben aus ihren Gliedern nehme. Ein Leichtsein war in ihr, und ein schwebendes Taumeln berauschte sie. Sie atmete tief. Aber eine Weile, nachdem Klothilde aus dem Zimmer gegangen war, sah sie auf, blickte bang und hastig um sich und gab sich dann einem Weinen hin, das erst leise war, aber allmählich wie ein entfesselter Wildstrom ihren schwachen Körper hinriß und zerrte und rüttelte. Und sie trieb dahin ins Uferlose. Sie fühlte dunkel: Sie hatte dreißig Jahre an der schwarzen Kiste gebohrt, um endlich drin die Trümmer ihres Traums zu finden.

      Sie weinte wie ein Kind, und Klothilde stand ratlos an ihrem Bett. Später kam der Arzt. Er ließ den Herrn Pfarrer sofort bitten, und zwar nicht zur Whistpartie. Und der Herr Pfarrer kam und sprach diesmal nur von der Seligkeit. Denn es war an der Zeit.

      Rosinchen hatte das Geheimnis gelöst. Es war nun nicht mehr nötig, daß sie mit Klothilde zusammen hinter den roten Geranien wohnte. Sie konnte jetzt allein sein. Ganz am Rande des Städtchens sollte sie wohnen. Ihr Umzug war seltsam genug: Sie fuhr mit vier weißen Pferden, alle guten Karbacher, die seit dreißig Jahren Rosinchen sagen mußten, wenn sie Klothilde sagten, gingen mit, und die Schulknaben sangen ein heiliges Lied.

       Inhaltsverzeichnis

      Herr Peter Nikolas hatte mit seinen fünfundsiebzig Jahren eine ganze Menge vergessen: die traurigen und guten Erinnerungen, die Wochen, die Monate und die Jahre. Nur von den Tagen hatte er noch eine leise Ahnung. Und wenn er mit seinen schwachen und immer schwächeren Augen auch jeden Sonnenuntergang wie verblaßten Purpur und jeden Morgen wie vieux rose schimmern sehen mußte, den Wechsel empfand er doch. Im allgemeinen störte er ihn, und der Alte hielt diese Anstrengung für überflüssig und töricht. Der Wert von Frühling und Sommer war ihm auch entschwunden. Schließlich fror er immer, wenige Augenblicke ausgenommen. Dann war es ihm aber vollständig gleichgültig, ob er deren Glut dem Kaminfeuer oder der Sonne dankte. Nur daß letztere bedeutend billiger kam, wußte er. Deshalb humpelte er an jedem Tag, da er die Sonne fand, in den Stadtpark und setzte sich auf die lange Bank unter der Linde zwischen den alten Pepi und den alten Christoph aus dem Armenhaus.

      Seine täglichen Banknachbaren waren wohl noch älter wie er. Sobald Herr Peter Nikolas sich niedergelassen hatte, krächzte er und nickte dann. Und rechts und links von ihm nickte es mechanisch wie aus Ansteckung. Dann stemmte Herr Peter Nikolas den Stock in den Sand und legte die Hände auf dessen krumme Krücke.

      In einer Weile legte er noch sein rundes, glattes Kinn hinzu und blinzte zum Pepi nach links. Er beobachtete, so gut er konnte, den roten Kopf, der, wie welk, von dem feisten Nacken hing und abzufärben schien; denn der breite weiße Schnauzbart war an seinen Wurzeln ganz schmutziggelb. Der Pepi saß vornübergeneigt, hatte die Ellenbogen auf die Kniee gestemmt und spuckte von Zeit zu Zeit durch die gefalteten Hände hindurch auf den Sand, wo sich schon ein kleiner Sumpf staute. Er hatte zeitlebens sehr viel getrunken und schien dazu verurteilt, wenigstens die Zinsen der verbrauchten Flüssigkeit ratenweise an die Erde abzuzahlen.

      Als Herr Peter nichts Neues an Pepi bemerkte, schob er sein Kinn auf dem Handrücken mit halber Wendung nach rechts. Christoph hatte gerade geschnupft und knipste mit sorgsamen gotischen Fingern die letzten Anzeichen dieser Beschäftigung von dem fadenscheinigen Rock. Er sah unglaublich gebrechlich aus, und zur Zeit, da Herr Peter noch gewohnt war, sich ab und zu mal zu wundern, hatte er oft gedacht, wie es der dürre Christoph überhaupt zustande gebracht hat, so auszuhalten ohne sich irgendwas abzubrechen ein ganzes Leben lang. Am liebsten stellte er sich den Christoph vor, als dürres Bäumchen, mit dem Halse und den Fußgelenken an eine tüchtige gesunde Stützstange gebunden. Christoph fand sich nun nett genug, rülpste ein wenig, welches entweder ein Zeichen von Zufriedensein oder von schlechter Verdauung war. Dabei zermahlte er ohne Unterlaß etwas zwischen den zahnlosen Kiefern, und seine schmalen Lippen schienen sich aneinander scharf gerieben zu haben. Es war, als mochte sein träger Magen auch die Minuten nicht mehr verdauen, und Christoph mußte nun jede einzelne kauen, so gut das eben ging.