selbst nicht wahrhaben wollte, war es ja, was ihn vorzüglich zu seinem widerhaarigen Betragen gegen die Weiblichkeit veranlaßte. Die Entdeckung, die er da machte, empörte ihn: Da wollen sie was Besseres sein und sind doch gerade wie unsereiner. Er fletschte gegen die ahnungslosen Beine, und plötzlich überkam ihn die Wut, daß er hineinbiß! Mit einem Schrei fuhr die Inhaberin empor: „Ein Tier! Ein Tier hat mich gebissen! Es war ein Hund!“ – Man machte ihr begreiflich, daß es keinen im Hause gab. – „Dann war’s eine Ratte!“ – Während die Großmutter mit schönen weißen Händen die gebissene Stelle untersuchte, rannte Fanny nach einem Stock, um die Ratte aufzustöbern. Bis sie zurückkam, fand Roderich in der Verwirrung Zeit, zwischen den Sofabeinen heraus und hinter den großen Ofen zu schlüpfen. Dort stand er an die Wand geklebt, während der Stock unter dem Kanapee herumfuhr, bis er die Gelegenheit ersah, durch die offene Tür zu entwischen. Es wurde niemals aufgeklärt, welches Tier es war, das die Spur seiner Zähne in Fräulein Hußwadels üppigem Fleisch gelassen hatte.
Aber wie man wohl eine Zeitlang ein Bärenjunges im Hause hegen und sich an seinen lustigen Streichen ergötzen kann, bis beim Größerwerden das wilde Tier erwacht und für die Umgebung bedrohlich wird, so war es mit dem Knaben gegangen. Wie er heranwuchs, trat etwas Fremdes an ihm hervor, etwas seltsam Wildes und Unzivilisiertes, das sich in plötzlichen Ausbrüchen äußerte, wobei er nicht mehr wußte, was er tat. Endlose Klagen liefen in der Schule gegen ihn ein, und sogar die Polizei hatte sich mit ihm zu beschäftigen. Zielsicherheit im Wurf, diese schätzbare Ausbildung von Hand und Auge, übte Roderich mit Steinen an den Nachbarfenstern. War irgendwo in der Stadt eine Laterne zerbrochen, so wurde die Tat ohne weiteres mit Recht oder Unrecht Folkwangs Roderich – so hieß der Knabe bei den Leuten – zugeschrieben. Gab es Streit, so rannte er blindlings auch die Stärksten um und fragte nicht nach den Löchern im Kopf, die er davontrug. Noch immer verfolgte er Vanadis mit seiner Bosheit. Wenn er sie aber eine Zeitlang mürrisch in Ruhe ließ, so war ihr dieser Zustand so fremdartig, daß sie ihrerseits den Stummen reizen mußte, indem sie ihn mit Büchschen voll Spielmarken wie mit Kastagnetten klappernd umtanzte: „Was kostet das Wort, Roderich? Ich kann’s bezahlen.“ – Bis er sie wild anschnaubte und sie mit Lachen davonstob. Bei all seinen Untugenden war er unter den Kameraden nicht unbeliebt, und die Folkwangschen Knaben traten für ihn ein, wie wenn er ihres Blutes wäre.
Auch sein Talent hatte etwas Besessenes, die Fratzenköpfe, die er überall hinschmierte, waren wie Einschläge innerer Entladungen. Sobald er wieder anfing Tiere zu zeichnen oder pflügende Bauern, wußte man, daß die Krisis vorüber war. Alle Wände des Hauses trugen die Spuren dieser Übungen, seine Hefte waren mit Gesichtern und Figuren vollgekritzelt, und sooft sie ihm in der Schule um die Ohren geschlagen wurden, er ließ sich von seinem Tun nicht abbringen. Jedes größere Stück Papier oder Pappe war ihm verfallen. Allerdings zog ihn seine Lust wie sein Widerspruchsgeist zum Derbnatürlichen, das unter seiner ungeübten Hand ins Häßliche ausartete. Aber Egon übertrieb, wenn er meinte, er suche mit Absicht, was das Auge abstößt. Anschauung von Kunstwerken und richtige Anleitung hätten Auge und Hand verfeinert, aber das Zeichnen in der Schule nach langweiligen Gipsköpfen trieb ihn immer mehr in den Gegensatz. Es gab wohl in der Stadt ein kleines Museum mit einigen guten Bildern älterer Schule, die Roderich nicht müde wurde sich einzuprägen, allein für eine junge Kraft, die nach Wachstum drängt, war damit nicht gesorgt. Baron Solmar, der Sammler und Mäzen, der mehr als einem jungen Talent den Weg zur Ausbildung erleichtert hatte, verkannte das seines eigenen Sohnes.
Ein Vorfall solcher Art, der sich eben jetzt ereignete, trieb den Groll des Knaben aufs höchste. Seit einigen Jahren zeigte sich regelmäßig zu Ende des Sommers ein junger italienischer Gipsfigurenhändler in dem Städtchen, wo er leidlichen Absatz fand. Die besseren Bürgersleute, zum guten Teil Katholiken, kauften ihm zu niederen Preisen kniende Engel oder kleine Madonnen ab, womit man Gräber schmückte oder um die Weihnachtszeit auswärtige Freunde, die keine solche Gelegenheit hatten, beschenken konnte. Es war ein hübscher Junge, ein paar Jahre älter als Roderich, braun und geschmeidig, mit dunklem Krauskopf und beweglichen Augen und Gliedern. Auch im Hause Folkwang pflegte er sich einzustellen, wo man ihn gut leiden mochte und jedesmal zum Vesperbrot der Kinder einlud. Sein gesittetes Betragen und gebrochenes, aber angenehm klingendes Deutsch erwarben ihm die Zuneigung der ganzen Familie. Dort brachte er mit der frühen Menschenkenntnis, die sich solche wandernden Knaben erwerben, statt der kitschigen Engel kleine Nachbildungen nach Antiken zum Vorschein. Im Vorjahr hatte sich Vanadis in eine von diesen, eine im Flattergewand hineilende Diana mit Hund, verliebt und sie gegen ihre ganze verschlossene Sparbüchse von ihm erhandelt. Sie wußte selber nicht, wieviel die Büchse enthielt, der Betrag war aber so hoch, daß der Junge sich bewogen fühlte, ihr bei seiner heurigen Wiederkehr noch ein weiteres Figürchen zum Geschenk zu bringen, das er sie selber aussuchen ließ, weil er so anständig war, sich der Überzahlung zu schämen. Sie wählte einen kleinen gipsernen Napoleon, denn durch Béranger, den ihr die Großmutter vorlas, war sie durch die Napoleonlegende verzaubert worden, und öfters hörte man sie zu Gunthers Verdruß vor sich hin sagen:
„Il portait petit chapeau
Avec redingote grise ...“
Auch jetzt wurde der Bruder über ihre Wahl ungehalten: „Weißt du nicht, daß er ein Feind Deutschlands war? Hast du nie von der Schlacht bei Leipzig gehört?“
„Nun, so freue dich, daß er uns Gelegenheit gab, auch etwas zu tun.“
O Mädchenkopf! Sie bringt es fertig, den großen Friedrich und Napoleon gleichzeitig zu lieben!
Aber da war nichts zu machen, wo sie liebte, liebte sie. Und endlich fand sie das für ein Kind fast zu wahre Wort: Helden sind alle von einer Nation.
Das hinderte aber nicht, daß schon an einem der nächsten Tage der kleine Napoleon von ihrer Lade verschwunden war, und Gunther allein hätte sagen können, wo er geendet hatte.
Egon kam dazu, wie der Lucchese seinen Korb zusammenpackte, und redete ihn in der Sprache seiner Heimat an. Der Knabe strahlte und erzählte mit dem natürlichen Anstand seiner Rasse, daß er einen Bildhauer zum Vater gehabt und nach dessen Tode sich schon als kleiner Junge auf den Handel mit Gipsfiguren geworfen habe, um die Mutter zu entlasten. Diese, an der er sehr zu hängen schien, sei in die Stadt gezogen und diene tagsüber in einem Gasthof. Egon fand Gefallen an dem Jungen und fragte weiter. Er erfuhr, daß seine Mutter Deutsche sei und mit ihm von klein auf ihre Sprache gesprochen habe und daß auch der Rat, mit seinen Sächlein in Deutschland zu handeln, von ihr stamme, weil dort die Menschen weitherziger seien. Vom Vater aber, der Florentiner war, hatte er sein wundervolles Toskanisch, das für jede Tönung gleich das rechte Wort findet und womit er Egons Ohren entzückte. Nun begann dieser ihn nach Lucca auszufragen, mit welcher Stadt ihn eine unvergeßliche Erinnerung verknüpfte. Dort hatte er einst die hinreißende Eugenie van der Mühlen mit ihren Eltern kennengelernt, bevor sie die Gattin seines Freundes Folkwang wurde. Durch Wochen hatten sie denselben Gasthof bewohnt, er war ihr Führer durch Stadt und Umgebung gewesen und hatte sein Herz hoffnungslos an die junge Schönheit verloren. Sein Gefühl fand volle Erwiderung, und die Eltern warteten täglich darauf, daß er sich erkläre. Egon litt Höllenqualen zwischen dem Vorwärts und dem Zurück, denn er war heimlich an eine andere gebunden, von der er nicht loskam, dieselbe, die später Roderichs Mutter wurde. Er schied, nachdem er sich mit Eugenie auseinandergesetzt hatte, und ließ dem Freunde die Braut. Aber die Tage von Lucca glänzten mit unbeschreiblicher Leuchtkraft in seiner Seele nach.
„Ich habe viele Städte auf der Welt gesehen“, sagte er leutselig zu dem Knaben, „aber keine hat mir jemals besser gefallen als deine Vaterstadt.“
„Ja, Herr“, sagte der Knabe mit bescheidenem Eifer, „das kommt davon, daß alles dort geblieben ist, wie es in den Tagen der großen Kunst entstand, man hat gar nichts verändert und verdorben.“
Egon wunderte sich über die Richtigkeit dieses Gedankengangs. „Ist der schöne Wall mit seinen Ulmen und Platanen rund um die Stadt noch erhalten? Blüht dort noch immer der Krokus so früh im Jahr?“
Der Knabe bejahte mit leuchtenden Augen.
„Es gab zu meiner Zeit einen Gasthof dort, wie hieß er nur? – Er lag nicht weit von San Michele mit dem Blick auf ein kleines Palmengärtchen. Besteht er noch? Man war dort gut