Isolde Kurz

Vanadis


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eine innere Verletzung fest. Mit großer Lebenszähigkeit wehrte sich der arme, schwache Körper, den sein Geistiges schon lange zuvor verlassen hatte, noch mehr als vierzehn Tage, während die Großmutter nicht von seinem Lager wich. Dann trugen sie einen Toten hinaus.

      Der Gast war gleich nach dem Unfall abgereist. Vanadis ging stille, wie schuldig, um die Großmutter her, die sich in der Pflege des nie geliebten Mannes fast aufgezehrt hatte und jetzt untröstlich war, als ob sie den besten Inhalt ihres Lebens hingeben sollte, während die Geschwister unter der Tür standen und dem schwarzen Zuge nachsahen, bei dem sie sich schlechterdings nichts denken konnten.

      Aber ein seltsamer Spuk ließ das Haus Folkwang nicht zur Ruhe kommen. Am Abend nach dem Begräbnis, als alle aus Ermüdung ganz früh zu Bette lagen, mit Ausnahme Vater Folkwangs, den ein Geschäft nach auswärts gerufen hatte, wurden sie plötzlich durch ein starkes Gepolter auf der Treppe aufgeschreckt. Man hörte das Herunterkollern eines Körpers von Stufe zu Stufe und ein hartes Aufschlagen auf dem Grund. Alles lief halbbekleidet zusammen, überzeugt, daß ein neues Unglück geschehen sei. Da war jedoch nichts zu sehen, kein Tier, kein gefallener Gegenstand, und keines von den Hausgenossen fehlte: sie standen alle staunend und ratend umher, die Kinder drückten sich zusammen und bebten. Am nächsten Abend dasselbe Poltern, derselbe Aufschlag und wieder niemand gefallen, kein Anlaß des Lärms zu entdecken. Schon begannen die Dienstboten zu raunen, daß sich der alte Herr „anzeige“, er habe noch immer die Absicht nicht aufgegeben, seine Enkelin zu sehen, und müsse, solange ihn die Sehnsucht treibe, jede Nacht den Todessturz wiederholen. Diese litt unaussprechliche Ängste, sie getraute sich nicht mehr in die Wohnung der Großmutter hinauf, von wo das Geräusch seinen Ausgang nahm, sie meinte, der Großvater sitze dort oben mit seinem Mützchen auf dem Kopf und erwarte sie. Glücklicherweise kam der Vater schon am dritten Tag zurück und ließ alsbald eine starke windgeschützte Lampe an der steilen Treppe anbringen, die bis dahin jedes mit der eigenen Kerze erstiegen hatte. Die Beleuchtung vertrieb den Spuk: das Fallgespenst ließ sich nicht weiter vernehmen.

      An einem strahlenden Sommermorgen kam Heinrich Folkwang gegen seine Gewohnheit ins Kinderzimmer herab, wo die Jugend des Sonntags wegen noch vollzählig beisammen am Frühstück saß, und sagte:

      „Wißt ihr, Kinder, was heute für ein Gedenktag ist?“

      Keines antwortete.

      „Nun besinnt euch. Denkt daran, daß wir den längsten Tag des Jahres haben, den Tag, wo die Sonne sich in ihrem Laufe wendet, der schon morgen wieder abwärts führt.“

      Gunther erhob den Kopf aus dem Buche – er hatte immer eines neben sich liegen – und sagte:

      „Heute ist Balders Todestag.“

      „Du hast es getroffen. Er war der lichte, der milde Gott, der beste und schönste der Asen, der von allen geliebte. In ihm war vorgebildet, was der germanische Stamm als Wunschziel im Herzen trägt: die Lauterkeit, die Güte, die Wahrheit. Und er war die frühe nordische Spiegelung dessen, der zu Bethlehem in der Krippe lag und der der Menschheit die Mahnung zurückließ: ‚Seid vollkommen!‘ Auch Balder war vollkommen, er konnte kein Böses tun. Wißt ihr, wie es zuging, daß er sterben mußte? Wer es weiß, soll es erzählen.“

      Alle redeten durcheinander, aber keiner im Zusammenhang, nur Vanadis schwieg.

      „Gunther soll allein sprechen, er weiß es am besten.“

      Gunther erzählte vom bösen Traume der Frigga, und wie sie allem Lebenden und selbst den Pflanzen und den toten Steinen den Schwur abnahm, Balder nicht zu schaden, einzig der schwachen kleinen Mistel nicht. Und wie die Götter ein Freudenfest anstellten, wobei sie alle im Wettkampf nach Balder warfen und schossen, jubelnd ob seiner Unverletzlichkeit, bis der blinde Hödur, durch den bösen Loke geführt, den unvereidigten Mistelzweig warf, der des Gottes Verhängnis ward. Und wie sie den Herrlichen auf das Schiff Ringhorn legten und zu ihm, ehe sie es hinausschoben, seine Nanna, die Blumengöttin, der beim Anblick des toten Gemahls das Herz zersprang. Und wie die Sonne dunkel ward und nichts mehr zu sehen als der Widerschein des brennenden Schiffes auf dem Weltmeer. Dann von Wotans Gebot an den Hermodr, daß er den toten Balder von der Hel zurückhole.

      „Und Hermodr sprengte auf dem Rosse Sleipnir über die Brücke der Unterwelt, daß sie erbebte“, fuhr Gunther mit blitzenden Augen fort, „und er trat vor die Hel, seinen Bruder zurückzufordern. Der saß mit Nanna auf der Ehrenbank, aber sein Antlitz war blaß und er war traurig.“

      Hier unterbrach Roderich in seiner derben Weise den Erzähler, weil ihm plötzlich auch etwas einfiel:

      „Sie war scheußlich zu sehen, am ganzen Leibe schwarz und weiß gestreift, und fraß Leichen. Da schlug Hermodr mit der Faust auf den Tisch, daß die Hölle dröhnte.“

      „Nein, Roderich“, verwies der Vater lächelnd, „so darf kein Abgesandter auftreten, wenn er eine Gunst erbitten will. Erzähle du weiter, Vanadis.“

      Diese erzählte weiter. Aber sie gab ihrer Stimme möglichst wenig Ausdruck, um sich nicht zu verraten. Denn sie liebte den strahlenden Balder, und sein Tod war der frühe und große Schmerz ihres Lebens, von dem niemand wußte, weil es ein heiliger Schmerz war. Als sie die Worte des bösen Riesenweibes sprechen mußte: „Thök wird weinen mit trockenen Augen, Hela behalte, was sie bekam“, ging ihr die Stimme aus, und sie blieb unbeweglich sitzen, daß sie selber wie die Thök aussah, die um Balder nicht weinen wollte, denn im ganzen Kinderkreis waren nur ihre Augen trocken. Gunther blinzelte und blickte zu Boden, um seine Tränen nicht sehen zu lassen, Bruno und Enzio weinten laut, und Roderich drehte sich mit einem widerwillig grunzenden Tone weg. Fanny blickte mißbilligend auf die Nichte und sagte halblaut zu ihrem Bruder: „Dieses Mädchen hat am wenigsten Herz von allen deinen Kindern.“

      Am Abend entwickelte sich, was der Vater mit seiner Anrede vom Morgen eingeleitet hatte. Auf dem Wiesenhang gegen den Fluß hinab war ein Holzstoß aufgeschichtet, den hatten die Kinder mit unermüdlichem Eifer zusammengeschleppt. Dürre Äste und Reisig aus dem Forst, Bretter und Balken, alles kunstvoll aufgeschichtet. Im Augenblick, wo die Sonne glühend hinter dem Hügel versank, schlug der Vater mit einem Feuerstein den heiligen Funken, der Balders Scheiterhaufen entzünden sollte; der Eindruck blieb unvergeßlich in den Kinderseelen haften. Das war ein anderer Leichenbrand als das Feuerchen, das die Lumbell verzehrt hatte, er spiegelte sich glührot im Fluß und stieg als breiter schwarzer Rauch zum Himmel. Daneben stand der Vater und sprach noch einmal von Balder, der das Licht und die Liebe gewesen und der nun bei der Hel wohnen müsse, weil der Neid eines einzigen ihm die Rückkehr gewehrt habe. Und wie arm die Welt ohne ihn geworden sei – daß er aber einstmals wiederkehren werde und versöhnt und friedlich neben seinem Mörder wohnen und daß er die goldenen Tafeln wieder im Grase finden werde, worauf die Ursatzungen der Gerechtigkeit geschrieben seien. Er sprach noch mehr von diesen Täfelchen, die einst in der Frühzeit den Asen nur zum heiteren Spiele gedient hätten, deren Inhalt aber von nun an die Welt regieren sollte. Wenn die Kinder ihn auch nicht alle verstanden, so fühlten sie sich doch insgesamt von etwas Erhabenem angerührt und hörten in großer Bewegung zu. Das war die besondere Erziehungsweise Heinrich Folkwangs: er kümmerte sich nicht um die Unarten seiner Kinder und ließ sie machen, was sie wollten. Aber von Zeit zu Zeit trat er unter sie und hielt in einer Form, die ihre Mitwirkung verlangte, eine neue und ungewohnte Feier ab, die zugleich Freudenfest für die Kinder war und eine unausrottbare Lehre in ihre Seelen brannte.

      „Balder ist tot“, sagte er am Ende, „der Frühling ist dahin. Seine Gefährtin hat ihm alle ihre Blumen als Opfer in den Leichenbrand gelegt, ihren ganzen Frühlingsschmuck und zuletzt sich selber. Wißt ihr, Kinder, was das Wort ‚Opfer‘ bedeutet? Etwas Geliebtes hingeben, um etwas noch Geliebteres, etwas Heiliges zu ehren. Wollen wir heute nicht auch dem toten Balder ein Opfer bringen? An dem, was ein Mensch opfern kann, erkennt man seinen Wert. Ein jedes lege, was ihm von seinen Sachen besonders lieb ist, in Balders Flammengrab. Wir wollen sehen, wer am schönsten für Balder opfert. Ich selber will den Anfang machen. – Aber zuvor noch ein Wort, verstehen wir uns recht. Es kann keine Rede davon sein, daß euch jemals von den Großen das ersetzt wird, was ihr heute hergebt. Ein Opfer muß endgültig sein, sonst ist es keines. Wer sein Eigentum nicht verschmerzen kann, soll es nicht hergeben. Und jetzt beginnen wir.“

      Auf