Isolde Kurz

Vanadis


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sie ihm wert war. Auf dem Stabe, der sie trug, setzte er sie mitten hinein in das Feuer.

      „Balder, weißer Gott, laß dir dieses Opfer gefallen, das schön und weiß ist wie du.“

      Jetzt kam Gunther an die Reihe. Seine großen blauen Augen leuchteten. Er hatte ein in roten Saffian gebundenes Büchlein in der Hand, sein vorjähriges Geburtstagsgeschenk, es war ganz vollgeschrieben mit seinen Versen. Keinem fremden Auge hatte er sie je gezeigt, aber er schätzte sie für das Schönste auf Erden und ihr Gewand des Inhalts würdig. Schlicht und ernst trat er heran und legte sie in die Glut.

      „Für Balder“, sagte er. „Möge er bald zu uns zurückkehren.“

      Was wird Vanadis dem Gotte geben, den sie liebt? Sie hat der Kinkerlitzchen viele, aber keines dünkt ihr würdig zum Totenopfer für Balder, denn sie hängt an keinem, alle kann sie ohne Schmerz lassen und folglich auch ohne Lust opfern. Und die Bernsteinkette kann es nicht sein, die ist in der Verwahrung der Großmutter. Aber einen Gegenstand besitzt sie doch, den hinzugeben wohl und wehe tut. Auch ein Geschenk von Egon, oben in der Kommode liegt es, die ganz davon duftet. Es ist ein Fläschchen echtes Rosenöl mit schönen türkischen Goldbuchstaben im Kristall, die niemand lesen kann, und mit einem Wohlgeruch, der mitten in die Wundergärten von Tausendundeiner Nacht versetzt. Dieses Fläschchen holt sie herbei und legt es im geöffneten blauseidenen Kästchen in die Flamme. Das Glas zerbirst und ergießt seinen Inhalt in die Glut, die von dem Öl höher aufleckt und den Abend mit unbeschreiblichen Düften tränkt. Vanadis atmet Wonne, und alles berauscht sich an dem Wohlgeruch.

      Unter den jüngeren Knaben, deren Schatzkammer nicht so reich gefüllt ist, entsteht ein Streit, was der eine und der andere spenden soll.

      „Halt! Niemand darf gezwungen werden“, sagt der Vater, „nur ein freiwilliges Opfer kann Balders Herz erfreuen.“

      Nun einigen sich die beiden, und jeder bringt das Seine dar. Roderich allein will nichts geben, die gerührte Anwandlung vom Morgen wurmt ihn noch in der Seele, wenn auch niemand sie unter dem Grunzlaut bemerkt hat.

      „Ich habe nichts“, murrt er unter dem Drängen der Kinder. „Was soll ich denn geben? Von meinen Sachen ist kein Stück mehr ganz.“

      „Weil du alles zerschlägst, was in deine Hände kommt“, sagte Vanadis.

      „Meinen Schulranzen hab’ ich noch“, höhnte er. „Den kann Balder haben, wenn er ihn mag.“

      „Das könnte dir passen, du fauler Bursch!“ rief Tante Fanny und schwang drohend ein Reisigbüschel gegen ihn.

      „Loke, Loke!“ fauchte ihn das Mädchen an. „Du bist er selbst, der Böse, der den Tod des Balder verschuldet hat!“

      „Ruhe, Kinder, keinen Streit!“ gebot der Vater. „Jetzt ist die Glut gesunken, jetzt darf jedes von euch hindurchspringen. Laßt sehen, wer es am schönsten macht. Gunther voran! Dann Roderich! Einer nach dem andern! Es geht dem Alter nach. Vorwärts!“

      Das war ein Jubeln und Springen und Röckeflattern, denn unmittelbar hinter den größeren Knaben sprang die Schwester und tat es diesen gleich. Nur Esther und die Großmutter fehlten. Letztere war nach dem Tode ihres Gatten so leidend gewesen, daß man eine Zeitlang geradezu fürchtete, sie möchte ihm nachsterben, wie es zuweilen bei langen Ehen geht, auch wenn sie sich nicht durch großen Einklang ausgezeichnet haben, daß ein Teil den andern nachzieht. Aber eine Erkrankung Esthers rief ihre Liebes- und Opferkraft wieder auf und gab sie dem Leben zurück. Jetzt saß sie am Bette des Kindes, das früh zur Ruhe gehen und laute Freuden meiden mußte.

      Beim Abendessen wurde nichts mehr gesprochen, aber die Kinder saßen mit glänzenden Augen da und dachten Balders Totenfeier nach. Nur Vanadis war nicht mit sich zufrieden. Sie schlüpfte vor dem Schlafengehen noch einmal aus dem Haus und stand lange vor der Glut, die noch nicht erlöschen wollte. Ihr Herz war so voll von Balder, daß es sich weiter und weiter ausdehnte, wie um die ganze Welt in sich aufzunehmen und daran zu zerspringen. Sie weinte vor Freude und vor Schmerz, daß er so schön war und so früh sterben mußte. Und das Opfer, das sie ihm dargebracht hatte, dünkte ihr viel zu klein. Gunther, ja, der hatte gewußt, wie man Balder ehren mußte, er hatte sein Bestes gespendet, seine Gedichte. Sie war zu arm, sie hatte nichts Gleiches zu geben. Aber etwas mußte sie doch noch darbringen, etwas, das besser war als eine Flasche Rosenöl, und nun wußte sie plötzlich, was. Jedes der Kinder besaß ein eigenes Stückchen Gartenland zur Bebauung und Wartung, worauf es pflanzen konnte, was es wollte. Vanadis hatte Lilien gezogen, ein ganzes Beet Feenkinder, und sie liebte es, im Mondschein schnell noch in den Garten zu schlüpfen, um mit ihren Lilien allein zu sein. Niemand hatte sich noch erlaubt, eine zu brechen, nicht einmal der böse Roderich. Sie kannte und liebte jede einzelne besonders, hatte sie alle mit feenhaften Namen geschmückt und behauptete, jede auch mit geschlossenen Augen an ihrem besonderen Dufte zu erkennen. Die Lilien wollte sie opfern, wie Nanna ihren Frühlingsschmuck opferte. So wie heute hatten die weißen Feenleiber noch nie im Mondlicht geleuchtet. Sie standen hochgestreckt mit weitoffenen, dem Monde zugekehrten Kelchen und strömten ihm verzückte Düfte entgegen, deren stumme Liebeslaute das Kind verstand. Sie sprach noch mit einer jeden und tröstete sie über ihr Los:

      „Alle müssen wir einmal sterben, auch ich. Und den Menschen tut es weher. Wenn doch auch ich einmal für Balder sterben dürfte.“

      Das war aber nur der Anfang. Als die abgeschnittenen Lilien beisammenlagen, wandte sie die Schere gegen ihr eigenes Haupt. Die dicke schwere Flechte, die ihr gelöst schon bis über das Knie herabwallt, ist der Stolz der Großmutter. Morgen wird die alte Frau, die ja nicht beim Balderfest zugegen war und auch seine Begeisterungen nicht verstanden hätte, weinen über den verstümmelten Hauptschmuck ihrer Enkelin. Aber daran kann diese jetzt nicht denken, und sie weiß auch nicht, daß sie mit dem kurzen Haar noch reizender sein wird als zuvor. Sie umwickelt den Arm voll Lilien mit dem Haar und weiht alles zusammen in der warmen stillen Nacht der Sommersonnenwende dem glühenden Kohlenrest von Balders Scheiterhaufen. Das Haar flammt auf, und die Lilien bräunen sich, des Kindes ganzes Ich aber floß aus in ein stummes Gebet, rein und edel zu sein wie die Flamme, die für Balder emporstieg, keinen Winkel in ihrem Herzen zu haben, wohin sein Sonnenauge nicht blicken dürfte.

      „Ich habe ihn anerkannt und werde immer danach handeln, aber ich gestehe dir, daß ich meine Zweifel habe – und wenn ich ihn ansehe ...“

      Diese Worte hörte die kleine Vanadis Baron Solmar eines Tages mit gedämpfter Stimme zu ihrem Vater sagen. Mit frühreifer Spürkraft ahnte sie dahinter etwas Besonderes und schämte sich wie ein Dieb, daß sie Zeugin eines Gesprächs geworden, das augenscheinlich nicht für ihre Ohren bestimmt war. Denn als sie aus der Ecke hervortrat, in die sie sich gestellt hatte, um ihren Freund vorübergehen zu sehen, war dieser plötzlich verstummt, und die beiden Herren hatten einen raschen Blick getauscht. Sie gab ihrem Reifen einen Schwung, als ob sie ihn eben aus der Ecke geholt hätte, und flog damit vorüber. Aber als sie außer Hörweite war, blieb sie nachdenklich stehen. Worüber hatte er seine Zweifel, und was erschütterte ihn so? Brennend gerne hätte sie das gewußt, und es schien ihr so halb und halb, als komme ihr auch ein Anteil an seinen Sorgen zu; aber nicht um die Welt hätte sie ohne sein Wissen länger zuhören mögen.

      Egon fuhr inzwischen gegen den Freund fort:

      „Ich weiß nicht, ob es eine Stimme des Blutes gibt. Jedenfalls habe ich sie nie gespürt, und er spürt sie noch minder. Wer sich im Hause am wenigsten über meine Ankunft freut, das ist jedesmal mein Sohn. Der ganze Groll seiner Mutter gegen mich scheint zusamt ihrer Unbezähmbarkeit in ihm Fleisch geworden zu sein. Da ist keine feinere Ader. Nur eben, als ich vorbeiging, hing er mit einem Arm an dem hohen Buchenast und schwenkte sich in der Luft, gelenk wie ein Affe und ebenso häßlich. Er läßt mich nicht vergessen, daß er Seiltänzer unter seinen Vorfahren hat. Es ist mir immer ein Stachel, daß ich dein Haus mit dieser Aufgabe belaste, aber in einer Erziehungsanstalt würde er mir mit Sicherheit zum Taugenichts gemacht.“

      „Die Sache ist viel einfacher, als du dir denkst“, antwortete Folkwang. „Kinder erziehen sich gegenseitig, indem sie sich aneinander schleifen, und wo schon zuvor ein Häuflein wilder Jungen rauft, kann auch der deinige mitraufen. Roderich ist kein verderbtes Kind, nur rauh und störrisch.