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Das Anthropozän lernen und lehren


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Menschen mit Umweltveränderungen umgehen? Haraway (2015) argumentiert in diesem Zusammenhang, dass der Begriff „Kapitalozän“ treffender wäre, da er impliziert, dass nicht alle Gesellschaftsformen, sondern hauptsächlich das kapitalistische System die Natur nachhaltig modifiziert. Diese Perspektiven betonen, dass das Anthropozän ein Resultat historischer und globaler Ungleichheiten ist (Chua & Fair 2019) und dass Anthropos kein passiver Akteur, sondern ein moralisches und politisches Wesen ist, das für seine Handlungen Verantwortung trägt (Latour 2017: 39).

      Aus der Sicht der Anthropologie ist das Anthropozän also ein paradoxes Konzept, das sowohl dem Menschen eine dominante Rolle gegenüber der Umwelt zuschreibt und somit den Menschen konzeptuell von der Natur abgrenzt, als auch die Möglichkeit birgt, ebendiese konzeptuelle Trennung zwischen Gesellschaft und Natur aufzulösen.

      Fallbeispiel: Svalbard im Anthropozän

      Svalbard ist eine norwegische Inselgruppe in der hohen Arktis und in vielerlei Hinsicht ein Ort, an dem die menschliche Modifikation der Umwelt besonders sichtbar wird. Spitzbergen, die größte Insel des Archipels, kann als „anthropozäne Insel“ (Pugh 2018) bezeichnet werden, eine Insel „humbled within the vast multidimensional forces of a rapidly changing planet” (Pugh 2018: 96). Während Svalbard oft als „unberührte Natur“ dargestellt wird, als „one of the world’s best-managed wilderness areas“ (Ministry of Justice and Public Security 2015–2016: 56), ist es gleichzeitig einer der Orte in der Welt, an dem die anthropogen verursachten Klimaveränderungen am stärksten ausgeprägt sind. Die Inselgruppe hat in den letzten 50 Jahren eine extreme Temperatursteigerung erlebt, was zu umfassenden Umweltveränderungen führt (Hanssen-Bauer et al. 2019; Norsk Klimaservicesenter 2019). Das Meereseis um Svalbard ist markant zurückgegangen, es gibt öfters extreme Wetterereignisse, und es regnet stärker und öfter im Winter. ForscherInnen prognostizieren ein wärmeres und nasseres Klima auf Svalbard in Zukunft. Dies führt zu Permafrost-Tau (eine tiefere aktive Schicht, d.h. die Schicht, die im Sommer auftaut), Fluten, Küsten- und Flussbetterosion. Mehr Schnee- und Schlammlawinen werden erwartet. Eine tiefere aktive Schicht des Permafrostbodens in Kombination mit mehr Regen führt zu instabilen Hängen, mit erhöhter Erdrutschgefahr. Svalbards scheinbar „unberührte Natur“ wird also vom Menschen – durch anthropogen verursachten Klimawandel – stark modifiziert, und diese klimabedingten Umweltveränderungen beeinflussen wiederum das menschliche Leben auf der Inselgruppe. Die Grenzen zwischen „Natur“ und „Gesellschaft“ verschwimmen, und es wird zunehmend unmöglich, die „lokale“ und die „globale“ Umwelt auseinanderzuhalten.

      Während der Klimawandel in vielen Teilen der Arktis indigene Lebensformen beeinträchtigt, die für ihre teilweise auf Subsistenz beruhende Wirtschaft stark auf Naturressourcen und Umweltbedingungen wie Meereis angewiesen sind, ist Longyearbyen, die größte Siedlung Svalbards, eine nicht-indigene, hoch-industrialisierte Gesellschaft, die sich inmitten einer Umstellung von einer auf Kohleminenindustrie beruhenden Wirtschaft zu einer post-industriellen Ökonomie basierend auf Tourismus, Forschung und Serviceindustrie befindet. Der Klimawandel bedroht also nicht grundlegend die Lebensweise und Subsistenz der in Longyearbyen lebenden Menschen, bringt jedoch neue Herausforderungen, aber auch neue Möglichkeiten, in Bezug auf die gebaute Umwelt, Mobilität, Tourismus und Forschung.

      Auffassungen des Klimawandels in Longyearbyen

      Die in Longyearbyen lebenden Menschen erleben und beobachten, dass die Natur, das harte Klima und die kalten Winter, was für viele ein Grund ist, um nach Svalbard zu ziehen, sich verändern. In der Klimaanthropologie werden zunehmend lokale Beobachtungen komplementär zu Klimadaten herangezogen, um Umweltveränderungen und ihre Auswirkungen auf die Menschen zu dokumentieren (Krupnik & Jolly 2010; Savo et al. 2016). Während in indigenen Gesellschaften dadurch weit zurückgehende Datenreihen erstellt werden können, ist Longyearbyen eine Stadt mit relativ kurzer Erinnerung. Nur ca. 500 Personen von den insgesamt 2400 EinwohnerInnen leben seit mehr als zehn Jahren auf Svalbard, und nur 130 seit länger als 20 Jahren. Die Fluktuation in der Bevölkerung ist extrem hoch: Ca. 20 Prozent der Bevölkerung werden jedes Jahr ausgetauscht (Statistisk Sentralbyrå 2016: 11). Somit haben nur die wenigsten lange genug dort gelebt, um die Veränderungen über einen längeren Zeitraum beobachten zu können. Trotzdem berichten viele von Umweltveränderungen. Die „Svalbardveterane“ erzählen, wie Gletscher sich zurückgezogen haben und die Winter wärmer und nässer geworden sind. Eine Veränderung, über die oft gesprochen wird, ist der Rückgang des Meereises. Der Isfjord („Eisfjord“), das große Fjordsystem, in dem sich Longyearbyen befindet, war seit dem Winter 2004/2005 nicht mehr zugefroren (dieses Jahr könnte es zum ersten Mal seit 15 Jahren wieder zufrieren [UNIS 2020]). Für die Lokalbevölkerung war der zugefrorene Fjord vor allem für ihre Mobilität und Freizeitaktivitäten von Bedeutung: Sie konnten mit dem Schneemobil den Fjord entlang fahren und überqueren, was die Fahrten unkomplizierter und die Abstände deutlich kürzer machten. Diejenigen, die lange genug in Longyearbyen leben, um das erlebt zu haben, erinnern sich gerne an diese Zeit zurück und erzählen nostalgisch von legendären Ausflügen mit perfekten Schneemobilbedingungen.

      Es wäre vielleicht naheliegend zu denken, dass an einem Ort wie Svalbard, wo die Klimaveränderungen sehr stark und deutlich erkennbar sind, die Leute sich bezüglich der Rolle von Anthropos in diesen Veränderungen einig seien. Während die meisten der Meinung sind, dass die Veränderungen im globalen Klima Auswirkungen auf die lokale Umwelt auf Svalbard haben, scheiden sich jedoch die Geister, ob dies eine Konsequenz natürlicher Variation oder anthropogener Einflüsse sei. Die Feststellung der Veränderungen bedeutet also keinesfalls eine Übereinstimmung bezüglich der Zuschreibung ihrer Ursache. Dennoch reflektieren viele Menschen auf Svalbard, sowohl Zureisende, die meilenweit fliegen, um die arktische Wildnis zu erleben, bevor sie schmilzt, als auch BewohnerInnen, über die Tatsache, dass menschliche Aktivität die Natur Svalbards modifiziert, und drücken ein Dilemma aus, dass das Erleben von und Leben auf Svalbard nicht nachhaltig sein kann. Haraway et al. sprechen in diesem Zusammenhang von der „Tragik des Anthropozäns“ (Haraway et al. 2016: 535): Im Anthropozän sind die Menschen, in ihren Anstrengungen, die Welt zu beherrschen, zu ihrer größten Zerstörungskraft geworden. Reflexionen über dieses Dilemma führen wiederum zu kleinen und größeren Veränderungen der Lebensweise auf Svalbard. Longyearbyen war lange eine Kohleminenstadt, eine „Company Town“, für die Kohleminenindustrie gebaut und aufrechterhalten. Aufgrund von Krisen am Kohlemarkt und dem mangelnden politischen Willen, in Zeiten des Klimawandels den Kohleabbau in der hohen Arktis zu unterstützen, wurde in den letzten Jahren die Kohleminenindustrie eingestellt; zurzeit operiert nur noch eine Mine, die Longyearbyen mit Energie versorgt.

      Die gesellschaftlichen Auswirkungen des Klimawandels in Longyearbyen

      Während die wenigsten EinwohnerInnen die Klimaveränderungen als große persönliche Herausforderung wahrnehmen, werden sie weitgehend als gesellschaftliche Herausforderung aufgefasst. Für Menschen, die sich viel in der Natur aufhalten, seien es ForscherInnen, Touristenguides oder JägerInnen, bedeutet der Klimawandel, dass man sich nicht mehr auf „altes“ und bewährtes Wissen und Erfahrungen verlassen kann. Umweltbedingungen sind unvorhersehbarer geworden, was eine Herausforderung für die Sicherheit bei wissenschaftlicher Feldarbeit und auf Tourismusexkursionen darstellt. Die Mobilität mithilfe von Schneemobilen ist aufgrund von weniger Meereis eingeschränkt, und Erosion führt zur Sperrung von Straßen und Wanderwegen. Es werden aber auch potenzielle Möglichkeiten mit dem sich verändernden Klima verbunden. Svalbard ist ein Zentrum für naturwissenschaftliche Forschung über die Auswirkungen des Klimawandels sowie eine Destination für „last chance tourism“ (Lemelin et al. 2010) geworden, die TouristInnen besuchen, um die Arktis zu erleben, bevor sie schmilzt. In einer weitgehend meereisfreien Arktis würde der Hafen von Longyearbyen entlang der Nordost-Passage eine bedeutende Rolle spielen und wärmere Meeresströmungen könnten Fischereiindustrie auf Svalbard ermöglichen.

      Eine zentrale Schnittstelle zwischen Menschen und ihrer natürlichen Umwelt stellt die gebaute Umwelt dar, und diese wird in der Arktis erheblich durch die das Anthropozän charakterisierenden Umweltveränderungen beeinflusst (Ford et al. 2010; Melvin et al. 2016). Das veränderte und wärmere Klima hat große Auswirkungen auf Gebäude