Paul Oskar Höcker

Der Preisgekrönte


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den Aschbecher. „Unrecht gegen wen? Wer wird geschädigt?“

      „Es war Bedingung, dass die Bewerber ihre Prüfungen abgelegt haben.“

      „Sie wissen, wie ich über Prüfungen denke, liebes Fräulein. Das Diplom sagt gar nichts.“ Er tippt sich an die Stirn. „Hier oben sitzt es, Fräulein, hier oben.“

      „Wenn ich nur nicht diese schreckliche Angst hätte, dass man dabei jemals gezwungen sein könnte, eine Lüge zu sagen.“

      „Würde Ihnen das so schwer fallen?“

      „Ich habe — wissentlich — in meinem ganzen Leben noch nie eine Unwahrheit gesagt.“

      „Ideal. Aber unpraktisch. Schlimmer. Nicht nur unpraktisch für Sie, sondern unter Umständen auch schädlich oder verderblich für andere Menschen, die Sie nicht schädigen oder verderben möchten. Man hat nicht ohne weiteres das Recht, Wahrheitsfanatiker zu sein.“

      Dodo seufzt leicht auf. „Freilich — von dieser Seite hab’ ich es noch gar nicht betrachtet.“

      Er hat nach Hut und Handschuhen gegriffen und steht auf. „Also hab’ ich Ihnen wenigstens ein bisschen mit meinen Erfahrungen aushelfen können. Ich wünsche Ihnen das Beste. Für Sie und für Ihren Bekannten, den Herrn —?“

      „Herrn A.“ Sie begleitet ihn auf den Gang hinaus. „Und ich wünsche Ihnen gute Überfahrt nach Südafrika.“

      „Wenn Sie in Hamburg wie in New York Vermittlergebühren bezögen, würde ich meine Schiffskarte gleich bei Ihnen bestellen. Halt, bitte, hier, das ist eine äusserst seltene Briefmarke ... Natürlich, Sammler sind Sie auch nicht ... Also ich danke Ihnen nochmals. Und leben Sie recht wohl, Fräuleinchen!“

      Jetzt, wo er den Hut aufgesetzt hat und man den mächtigen, lederfarbenen, kahlen Schädel nicht sieht, wirkt er noch fast jugendlich, dieser Herr Erb. Dodo sieht ihm lächelnd nach. Wenn sie nun wirklich die dreihundert Mark genommen hätte? Sie ist unschlüssig: soll sie Percy überhaupt etwas von dieser Begegnung sagen? Vielleicht lacht er sie aus.

      Seltsam, dass eine so kurze Unterredung imstande gewesen sein soll, ein Prinzip in ihr zu lockern, das sie von Kindheit an als eine Lebensnotwendigkeit angesehen hat.

      „Man hat nicht das Recht, Wahrheitsfanatiker zu sein, wenn man dadurch einen anderen Menschen schädigt.“ So oder ähnlich hat er zu ihr gesagt.

      „Ja, sie sieht ein, dass dies nun Gültigkeit auch für sie hat. Denn sie steht ja nicht mehr allein. Percys Schicksal ist mit dem ihren verbunden. Sein Leben ist hart genug gewesen, sein Daseinskampf soll ihm durch ihren Wahrheitsfanatismus nicht noch erschwert werden.

      Als sie nach Hause kam, teilte Percy ihr frohlockend mit, die vom Prüfungsausschuss nachgeforderten Zeichnungen seien fix und fertig. „Morgen früh fährst du mit mir nach Berlin, kleine Dodo!“

      „Ohne Urlaub? Du, das wäre zu gefährlich.“

      „Wirst eine ungefährliche kleine Erkrankung vorschützen; mal eine kleine Notlüge, Dodo. Mir zuliebe, Dodo. Oder ist es gar zu schwer?“

      „Was täte ich nicht dir zuliebe, Percy?“

      Und an diesem Abend entwickelt sie ihm allerlei Pläne über das Verfahren, das man den Preisrichtern gegenüber zu beobachten habe.

      Percy staunt. „Darauf wär’ ich in meiner Wildnis in der Rúa del Villar nie verfallen. Du bist ein juristisches Genie.“

      Sie nimmt die kleine Huldigung anscheinend gutgestimmt hin — ist innerlich aber doch ein wenig bedrückt und beschämt.

      *

      Auf dem Lehrter Bahnhof stehen sie in der engen Fernsprechzelle dicht aneinandergepresst. Die mächtige Zeichenrolle lässt sich hier nicht quer aufs Pult legen; sie steht aufrecht wie eine Fahne.

      Endlich ist Verbindung da mit Herrn Professor Huth, dem städtischen Direktor des Dezernats, der den Vorsitz im Preisrichterkollegium führt. Er ist sehr erfreut, den Verfasser des preisgekrönten Entwurfs „Gott Pan“ kennenzulernen. „Sie kommen unmittelbar aus Santiago?“ Percy nickt Dodo verschmitzt zu. „Ich habe nur in Hamburg kurzen Aufenthalt genommen, um mich da zu verloben.“ Ein liebenswürdiges Lachen. „Gratuliere. Bringen Sie mir auch noch die Ausarbeitung 1 : 100 mit? Ich erwarte Sie also hier zwischen zwölf und ein Uhr im Rathaus. Im kleinen Festsaal sind alle Entwürfe aufgehängt, die in engere und engste Wahl gelangt sind. Die werden Sie gewiss interessieren, Herr Hartmann. Ist Ihr Fräulein Braut nach Berlin mitgekommen? Dann ist sie freundlichst eingeladen, an der Besichtigung teilzunehmen.“ Percy macht Dodo eine ersterbende Verbeugung. Arm in Arm verlassen sie dann den Bahnhof.

      „Allzu elegant wirken wir nicht!“ stellt Dodo fest, als sie an den Schaufenstern eines grossen Warenhauses entlanggehen. „Zunächst brauchst du eine neue Krawatte, Percy. Und neue Schuhe. Und dann lassen wir dir erst einmal die Haare schneiden.“

      „Dann sind die sechstausend Goldmark im Nu verputzt.“

      „Von meinen dringendsten Wünschen will ich gar nicht erst reden!“ Sie spielt die blasierte Weltdame. „Mein Gott, dafür reichen sechstausend Goldmark doch noch lange nicht hin. Pö!“

      Er lacht, er findet sie allerliebst, wie sie so ein fabelhaft vornehmes Schnütchen zieht und die Nase in die Höhe hebt, so dass sie beinahe über seine Schulter hinwegsehen kann auf powere Berliner, die keine sechstausend Goldmark in der Tasche haben.

      „Ach, du süsser kleiner Aff’! Wart’ nur, jetzt wird dir der Herr Professor deinen Hochmut gleich austreiben! Was, sechstausend Mark wollt ihr zwei haben? Du spanischer Speisbub du? Und du knitze Krott?“

      „O Gottchen, das hast du wohl in Landau auf der Klippschule gelernt?“

      „Speis, so nennen die Maurer dort den Mörtel. Aber Mörtelknabe klingt doch lange nicht so intim wie Speisbub.“

      „Und knitze Krott hast du neulich schon ’mal zu mir gesagt. Das ist auf deutsch eine nichtsnutzige Kröte, wie? Du kniest jetzt sofort hier vor dem Rathaus hin und bittest mich demütig um Verzeihung.“

      „Santa Madre, vergib ihr! Die sechstausend Mark haben den Grössenwahn in ihr ausgelöst!“

      Unter Lachen, Arm in Arm, die grosse Zeichenrolle als Standarte zwischen ihnen, ersteigen sie die Freitreppe zum Rathaus.

      Im kleinen Festsaal ist ziemlicher Verkehr. Den verdrossenen Mienen mehrerer Herren, die die hier aufgehängten Bewerbungsarbeiten besichtigen, sieht man sofort an, dass sie nicht zu den Preisgekrönten zählen.

      In der geöffneten Tür, die zu einem grösseren Büro führt, steht in lebhaftem Gespräch ein schlanker, grosser Herr mit feinen Gesichtszügen und klugen Augen. Als Percy ihn nach Professor Huth fragt, gibt der ihm sofort die Hand. „Ich nehme an, dass Sie Herr Hartmann aus Santiago sind. Und dies ist Ihr Fräulein Braut — darauf geh ich jede Wette ein. Treten Sie ein, lieber Herr Hartmann. Bitte, gnädiges Fräulein. Wissen Sie, dass Ihre Arbeit sofort mit in die allerengste Wahl gezogen worden ist? Ich entsinne mich keiner einzigen Stimme, die sich dagegen erklärt hätte.“ Er wendet sich der nächsten Gruppe zu und stellt den jungen Preisgekrönten vor. „Sie waren ja alle meiner Meinung, meine Herren. Wie die Sport- und Spielplätze hier richtig verteilt sind, wie die Grünfläche auch für den Autoverkehr, für die grossstädtischen Zufahrtsstrassen benutzt ist, das geht alles so weit heraus aus der schrecklichen alten und veralteten Grünpolitik! Famos ist das!“

      Percys Augen leuchten. Heimlich fasst er Dodos Hand. Sie gibt den Druck aufmunternd zurück. „Ja, ich sagte mir: früher waren die grossstädtischen Parkanlagen doch bloss ein Luxus für die behäbigen Bürger, die da spazierenfuhren oder promenierten oder beschaulich auf bequemen Bänken Herumsitzen wollten; heute heisst die Forderung: Nicht nur Spiel- und Tummelflächen für die Jugend schaffen, sondern auch den reiferen Männern und Frauen, dem geistigen wie dem Werkarbeiter wirklich lockende Sportplätze bieten; und all’ die Sportarbeitssäle, Erfrischungsräume, Ankleide- und Ruhehallen dürfen nicht mehr den nüchternen, trockenen Kasernenstil der alten Zeit zeigen,