des Protokolls über die Generalversammlung der Reederei, die sie als Nebenarbeit übernommen hat, gar nicht vorwärtsgehen. Dodo ist zerstreut. Sie denkt an den einsamen Kajütenpassagier auf dem Frachtschiffchen. Jetzt muss die „Melusine“ doch schon im Kanal schwimmen, wie? Sie blättert in der Zeitung nach dem Datum.
... Und da klammert sich ihr Blick plötzlich an eine Sperrdruckzeile mitten in einem Telegramm aus Berlin ... Da steht nämlich der Name: Architekt A. Hartmann, zurzeit Santiago.
Sie liest zweimal, dreimal. Die Preisrichter haben die Prüfung der 1187 Wettbewerbarbeiten, die für den Plan zur Erbauung des Volkspark-Stadions an der Havel gegenüber Pichelswerder eingelaufen sind, beendigt und soeben ihre Entscheidung verkündigt. Der erste Preis in Höhe von zwölftausend Goldmark ist dem bekannten Architekten Geh.-Rat Prof. Dr.-Ing. Nathusius, Darmstadt, zuerkannt worden; sein Plan ist sehr grosszügig und sieht eine völlige Neugestaltung des östlichen Ufers vor. Den zweiten Preis in Höhe von sechstausend Mark hat ein allerseits unbekannter Architekt namens A. Hartmann, zurzeit Santiago, erhalten. In den dritten Preis von dreitausend Mark müssen sich zwei Bewerber, da auf sie die gleiche Stimmenzahl entfiel, teilen: Reg.-Baumeister Krumme, Berlin, und Dipl.-Ing. Prof. Leyser, Hannover. Lobende Erwähnung haben ausserdem siebenundzwanzig Arbeiten erhalten. Das Kuratorium wird in der nächsten Sitzung Beschluss über die Ausführung des an erster Stelle preisgekrönten Planes fassen; das Werk soll beschleunigt in Angriff genommen werden, um das Volkspark-Stadion bereits im übernächsten Sommer, wenn nicht schon im Frühjahr, der Öffentlichkeit zu übergeben. Man hofft auf äusserstes Entgegenkommen von seiten der Staats- und städtischen Behörden, weil ein grosser Teil der zu vergebenden Arbeiten ihrem Charakter nach als Notstandsarbeiten gelten kann und so geeignet ist, die mächtig angewachsene Ziffer der Erwerbslosen wesentlich herabzudrücken.
Dodo schiebt die Übersetzung beiseite, holt aus dem Kleiderschrank ihre Lederkappe und den englischen Regenmantel — denn es ist hässliches Aprilwetter, Regen mit Graupeln gemischt —, sie läuft auf die Strasse und überlegt sich erst hier, was sie eigentlich will. Noch eine Zeitung kaufen! Noch ein paar Zeitungen kaufen! Sie muss doch Genaueres erfahren. So schüchtern sie sonst ist: heute wagt sie sich ins Alster-Café und setzt sich in die Nähe des Zeitungstisches. Einen wahren Kampf hat sie auszufechten mit einer Art Zeitungstiger, einem kahlköpfigen, lederfarbenen, kurzsichtigen Manne, der die noch ungelesenen Zeitungen auf dem leeren Stuhl neben sich aufhäuft, ja er hat die Zeitungshalter sogar zum Teil unter seinen Sitz geschoben. Stück für Stück muss sie die Freigabe erbetteln. Der unangenehme Patron lässt dabei etwas fallen wie: „Aha, Heiratsannoncen!“
Der Bericht über die Entscheidung des Preisrichterkollegiums ist in allen Blättern gleichlautend.
„Um fünf Uhr früh kommen die Morgenausgaben aus der Druckerei, die Berliner kommen dann mit dem Flugzeug“, unterrichtet sie hernach der Zeitungskellner.
Für den Sonnabend hat sie nun also diese Riesenüberraschung für Percy!
Über ein Dutzend Zeitungsausschnitte hat sie im Verlauf der letzten beiden Tage gesammelt und aufgeklebt. In jeder einzelnen Notiz ist von ihr der Name A. Hartmann, zurzeit Santiago, rot unterstrichen.
Ach, wenn doch nur das schreckliche Graupelwetter aufhörte! Wie soll so ein armer kleiner Achthunderttonnendampfer bei dieser Unsichtigkeit ohne Unfall durch die graue Nordsee nach Kuxhaven finden!
*
Aber endlich ist er da. Freilich nicht Sonnabend, sondern Sonntag.
Und Percy kann am Sonntag natürlich nicht im Kontor anrufen, weil dieses ja am Sonntag geschlossen ist.
Also lässt er sich in der Nähe des Bahnhofs von einem Briefträger, der soeben von der Morgenbestellung zurückkehrt, Anweisung geben, wie man von hier aus zu der recht komplizierten Adresse gelangt.
Es ist früh zehn Uhr. Von mehreren Kirchen klingen die Glocken.
Die Pensionsmutter ist nicht zu Hause, sonst würde sie um diese Stunde selbst an die Entreetür kommen; Minna, das Hausmädchen, hat genug damit zu tun, die sieben Zimmer fertigzumachen. Als er das zweite Mal klingelt, eilt Dodo den Gang entlang. Es könnte ja der Depeschenbote sein.
Wie sich das abgespielt hat, das weiss keines von beiden hernach genau anzugeben. Ja, soviel ist sicher: Percy hat beide Arme ausgebreitet und gesagt: „Na, meine kleine Dodo —!“ Es sollte wohl heissen: Na, der gute August hat nun ausgelitten, da hilft nun nichts, aber ich bin ja da, und ich bringe Ihnen doch seinen letzten Gruss, nicht? Und Dodo wieder fühlt sich so schutzbedürftig, und da ist dieser Mensch mit den blauen, leuchtenden Lotsenaugen, und sie sieht die ausgebreiteten Arme, und mit einem kleinen Aufschrei, der halb Schluchzen ist, halb Jauchzen, presst sie das Gesicht an zwei Hornknöpfe seiner Düffeljacke ... Hernach stellen sie beide unter Lachen fest, dass Dodo auf Nase und Wange dunkelrote Flecken hat, die sie ganz komisch entstellen.
Sie hat ihn in ihr Stübchen eintreten lassen. Da sitzt er nun auf dem mit Antimakassars versehenen Sofa und starrt den grossen Papierbogen mit den aufgeklebten Zeitungsausschnitten an. Er begreift sonst sehr schnell, aber in diesem Augenblick versagt sein Vertrauen in sein eigenes Begriffsvermögen. Unter 1187 Bewerbungsarbeiten hat die seinige den zweiten Preis erhalten? Das ist ja fast wie das grosse Los!
„Heiliger Himmel, warum hat das August nicht noch miterlebt! Ach! Dodo, wie wir uns dabei noch in die Haare geraten sind, als die Unterlagen eintrafen! Mach du’s, sagt’ ich, es ist ja nur für geprüfte deutsche Architekten ausgeschrieben, nicht für vogelfreie spanische Bauhilfsarbeiter. — Zum Donner, nein, du wirst es machen, Percy, denn die Sache verlangt einen Kerl wie dich. — Aha, geb’ ich ihm zurück, einen Phantasten, einen halben Malermeister. — So ging es hin und her, bis er sich hinsetzte und in seiner umständlichsten Art anfing. So recht schulmässig, um mich zu reizen. Na, mein Plan stand im rohen ja schon nach ein paar Tagen fest. Und als ich fertig war, korrigierte er mir richtig wieder ein paar akademische Zöpfe hinein. Wir stritten uns darum bis zum letzten Tag, an dem die Arbeit abgehen musste. Dem Namen nach ist er der Einlieferer und damit auch der Preisgekrönte. Ich höre ihn ordentlich: Junge, Junge, wenn du auf deine vermaledeite neue Sachlichkeit verzichtet und mir gehorcht hättest, dann wäre jetzt nicht der zweite, sondern der erste Preis fällig geworden!“
Nun lachten sie beide, Percy und Dodo, über den bockbeinigen alten August. Und Dodo erinnert sich, wie Onkel August ihr damals schmunzelnd verraten hat: dass er über eine Preiskrönung gar nicht so masslos erstaunt sein würde — und dass natürlich Percy das ganze Geld zufallen müsse.
„Aber was stellen wir nun an?“ fragt Dodo.
„Du bist Augusts Erbin, also fällt das Geld dir zu.“
„Aber die Arbeit stammt doch von dir, Percy. Das muss man den Preisrichtern doch alles erst sagen.“
„Ich bin kein Jurist, weiss nicht, wie die Leute darüber entscheiden werden. Jedenfalls haben wir beide Grund, uns zu freuen. Ich gratuliere dir also, Dodo. Halt, so geht das nicht, einfach shakehands, nein, das müssen wir feierlicher machen.“
Er will sie um die Schultern nehmen und abküssen, hat nur noch nicht so den rechten Mut dazu. Aber jetzt öffnet sie beide Arme. Und schlingt sie um seinen Nacken. „Dir wünsche ich Glück. Dir, dir, dir. Lieber, lieber Percy. Ach, ich bin ja so stolz auf dich.“
Sie haben sich lange in den Armen gelegen und einander geküsst, mit geschlossenen Augen, selig hingegeben. Erst eine ganze Weile danach, als sie Arm in Arm auf dem kleinen Sofa sitzen, von dem die Antimakassars herabgerutscht sind, merken sie, dass sie schon lange vor dieser Umarmung du zueinander gesagt haben. Wie das bloss gekommen sei, fragen sie sich.
„Bettelarm bin ich aus Santiago davongelaufen — und hab’ nun hier so ein unbändiges Glück. Weisst du, kleine Dodo, es ist viel zu gross und zu ungewöhnlich und zu stürmisch, als dass unser wackerer August dulden würde, dass wir’s durch eine Landestrauer schmälern. Wenn es uns mal packt, Dodo, dann wollen wir uns gelegentlich mal gründlich ausheulen. Aber schwarze Fingernägel gibt’s nicht. Keinen Trauerflor. Und keine schwarzen Strümpfe, Dodo. Ich will dich in all deiner Helligkeit und Lebendigkeit haben. Mit lachendem Mund und glücklichen Augen. So wie jetzt eben. Liebe,