Thorsten Legat

Wenn das Leben foul spielt


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Eine Umschulungsmaßnahme der Berufsgenossenschaft nach meinem Karriereende auf Schalke. Als Co-Trainer im Jugendbereich und als Scout erwarb ich zuerst B- und A-Lizenz und arbeitete dann – wieder an der Weser – zusammen mit Dieter Eilts, meinem einstigen Mannschaftskameraden bei Werder.

      Er war es, der mich bat, nach Hannover zu fahren, um dort als Scout bei einem A-Jugendturnier Berichte über interessante Spieler anzufertigen. Ein Profil von jedem Nachwuchsfußballer anzulegen, das ist enorm aufwendig. Da ich alles immer einhundertprozentig erledigen wollte, habe ich mir in meinem Sharan, in dem ich an einem Tisch arbeiten konnte, die ganze Nacht um die Ohren geschlagen. Vielleicht schlief ich am Stück dann noch anderthalb Stunden im Wagen, kurzes Frühstück – hundemüde – an der Tanke, dann wieder ein paar Stunden Beobachtungen beim Turnier. Und schließlich mit dem Bleifuß los auf die Autobahn. Heute weiß ich: Das konnte eigentlich nicht gutgehen.

      Einen Horrorunfall, wie ich ihn erlebt habe, steckt man als Mensch nicht so einfach weg. Schon als mein Bruder mich aus der Klinik abholte, bemerkte ich, dass mich die Sache noch längere Zeit beschäftigen würde. Als ich ins Auto einsteigen wollte, konnte ich es nicht. Ich hatte schreckliche Angst.

      Nach Einschätzung der behandelnden Ärzte war ich dem Tod quasi von der Schippe gesprungen. Das Schicksal hatte mir eine zweite Chance gegeben. Und eine Zwangspause zum Nachdenken. Über meine Zukunft, aber auch über mein bisheriges Leben. Denn da gab es so einiges an Licht und an Schatten, auf das ich jetzt ehrlich zurückblicken wollte. Auch auf den großen schwarzen Fleck in meiner Kindheit. Davon werde ich nun zum ersten Mal berichten.

      Mein Vater war ein Schwein

      Unser Haus in Bochum-Werne lag »Auf den Holln«, ganz am Ende eines fast kilometerlangen schnurgeraden Straßenabschnitts. Solch eine Lage hatte den Vorteil, dass meine Geschwister und ich Besucher schon frühzeitig sehen konnten. Zum Beispiel meinen Vater, wenn er nach Hause kam. Ich erinnere mich, dass ein ziemlich breiter Bürgersteig neben der Straße entlangführte. Wir erkannten leicht, in welchem Zustand sich unser Vater befand: Benötigte er die ganze Breite des Gehwegs, dann war er wieder mal besoffen.

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       Die Straße »Auf den Holln« in Bochum-Werne heute. Ganz links das Haus, in dem ich aufgewachsen bin.

      Er hieß Gerhard Legat und hatte 13 Jahre lang unter Tage in den Zechen Shamrock 1 und 2 in Herne gearbeitet, ehe er nach deren Stilllegung zu einer Bochumer Firma wechselte, die Dämmstoffe herstellte. Er war ein großgewachsener Bergmann, kräftig und gutaussehend, besaß aber Charaktereigenschaften, die ich mit gewalttätig und tyrannisch beschreiben würde. Alkoholmissbrauch und Jähzorn steigerten sein asoziales Verhalten uns gegenüber ins Unermessliche. Ich habe immer Angst vor ihm gehabt – mein ganzes Leben.

      Was mich bis heute verfolgt und was ich nur schwer aus meinem Kopf bekomme, sind die Bilder der brutalen Prügelattacken. Er schlug meine Mutter, meine Geschwister und mich meistens mit zentimeterdicken Bambusstöcken. Mehrfach musste ich miterleben, wie er meine Brüder blutig schlug, so lange, bis der Bambus zerbrach. Er war schier unberechenbar und kannte keine Grenzen.

      Wenn er betrunken nach Hause kam, dann ließ dieser Choleriker seinen Aggressionen freien Lauf. Es begann immer damit, dass er wütend die Tür zuknallte, wenn er das Haus betrat. Mehr als einmal musste ich mitansehen, wie er zuerst meine Mutter und dann einen meiner Brüder windelweich schlug. Anschließend war ich an der Reihe.

      Es fällt mir schwer, Begriffe zu finden, die ihn treffend beschreiben. Familien-Diktator, brutaler Selbstdarsteller oder tickende Zeitbombe sind nicht mehr als verzweifelte Versuche. Er war einfach nur ein mieses Schwein.

      Ich wuchs auf in einer sechsköpfigen Familie. Zusammen mit drei älteren Brüdern lebte ich in einem recht einfachen Haus. Ein dreistöckiger Altbau, der in schmutziggrauem Putz gekleidet war, aus dem Jahre 1880. Die Toilette war auf dem Flur. Eine Dusche gab es nicht, wir wuschen uns im Keller, in dem auch eine alte Zinkbadewanne stand. Wenn man so will, war das unser Bad, inklusive Bollerofen oder – wie man auch sagen könnte – Heizkessel. Da wir nicht so viele Zimmer besaßen, mussten wir immer improvisieren. So schlief ich als jüngstes Kind noch bei den Eltern. Das nutzte mein Vater aus. Jahrelang.

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       Ein Ort schlimmer Erinnerungen: das Bett meiner Eltern, in dem ich schlief, solange ich ein Kind war. Mein Vater nutzte das aus.

      Das Bett war – wie früher üblich – zweigeteilt. Ganz rechts lag meine Mutter, neben ihr mein Vater, während ich auf der linken Seite schlief. Es begann immer damit, dass mein Papa an mich heranrückte, wenn ich mich in der Tiefschlafphase befand, aus der ich dann verwirrt erwachte. Zuerst spürte ich die Hände, dann schlug er das Bein über mich, um sich an mir zu reiben. Oder er begann mich im Intimbereich zu streicheln. Wenn mir endlich klar wurde, was er da trieb, rief ich panisch nach meiner Mutter. Sie versuchte dann verzweifelt, ihn von mir wegzuziehen. Es war das reinste Horrorszenario. Sequenzen davon verfolgten mich noch sehr lange – mitunter sucht sich die verdrängte Scheiße von damals auch heute noch einen Weg an die Oberfläche. Aber wie wehrt man sich gegen ein Ohnmachtsgefühl?

      Für ein Kind, das sich normalerweise bei den Eltern geborgen fühlen sollte, war dieser Vertrauensbruch das schlimmste Vergehen. Der Missbrauch durch meinen Vater blieb nicht ohne psychische Auswirkungen. Er veränderte mich total. Ich lebte meine Aggressionen auf der Straße aus. Ich wurde ohnehin gehänselt, weil unsere Familie arm und mein Vater ein Säufer war. Ich hatte nichts, selbst ordentliche Schuhe fehlten mir manchmal, und ich musste im Sommer sogar mit Gummistiefeln herumlaufen, während die anderen Kinder Sandalen trugen. Ich dachte immer: Säufer, ja, das ist er. Aber das ist nur die Hälfte der bitteren Wahrheit.

      Was kann man als Kind dagegen tun, wenn der Mensch, der es beschützen soll, zum Missbrauchstäter wird? Ich habe versucht, es zu verdrängen, doch das ist nicht so leicht. Weil immer wieder etwas passierte. Manchmal hat mich mein eigener Papa – als er wieder einmal betrunken war – sogar angepinkelt. In mir spürte ich die allgegenwärtige Angst – aber auch Hass, Ekel und Wut. Ich wünschte ihm den Tod.

      Meine Jugend war ein nicht enden wollendes Martyrium. Mein Vater schreckte nicht davor zurück, mich ständig zu demütigen. Es störte ihn nicht einmal, dass meine Freunde anwesend waren. Als seine Füße schmerzten, sollte ich ihn massieren. Als ich es tat, zwang er mich, ihn auch im Genitalbereich anzufassen – vor den Augen meiner Freunde.

      Es gibt auch heute noch Situationen, in denen diese Bilder plötzlich wieder durch meinen Kopf spuken. Dann habe ich mit Tränen zu kämpfen und empfinde dieses Ohnmachtsgefühl, das mich damals als kleinen Jungen erfasste. Behütete Kindheit, Familie als sicherer Zufluchtsort, liebende Eltern, die stolz auf dich sind – für mich damals Begriffe aus einer fremden Welt. Vielleicht habe ich deshalb heute Angst, meine eigenen Kinder nicht sehen oder vor Unheil behüten zu können. Ich möchte immer für sie da sein.

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       »Trinkzeiten« – Was auf dem Schild hinter meinem Vater (rechts) und einem seiner Bekannten steht, hätte auch sein Lebensmotto sein können. Allerdings ohne Zeitlimit.

      Möglicherweise fragt man sich jetzt, warum bei derartigen Missständen die Polizei nicht eingriff. In den sechziger und siebziger Jahren gehörte körperliche Bestrafung zu den üblichen Erziehungsmaßnahmen in Deutschland. Der Vater verkörperte in den Familien den Chef, der meistens unantastbar war. Die Polizei hatte nichts zu suchen in den Bergmannsfamilien, in denen Stockschläge zum Alltag zählten. Aber Missbrauch?

      Nun, dieses Th ema wurde tabuisiert, man sprach nicht darüber. Dabei spielte die Scham eine entscheidende Rolle und natürlich die Angst vor dem Haustyrannen, der stark war wie ein Bulle. Wer sollte also meinem Vater etwas nachweisen, solange die Familie schwieg?

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