Als Tarzan Olgas Heim erreichte, erwartete Jaques ihn am Eingang.
Kommen Sie hier herein, mein Herr! sagte er und führte ihn die breite Marmortreppe hinauf. Im nächsten Augenblick hatte er eine Tür geöffnet, und indem er einen schweren Vorhang beiseite zog, geleitete er Tarzan in einen matt erhellten Raum. Dann verschwand er.
Am Ende des Zimmers sah Tarzan Olga vor ihrem kleinen Schreibtisch sitzen, auf dem ihr Telefon stand. Sie klopfte ungeduldig auf die polierte Tischplatte. Sie hatte sein Eintreffen nicht bemerkt.
Olga, sagte er, was ist geschehen?
Erschrocken aufschreiend, wandte sie sich nach ihm um.
Jean! schrie sie. Was tun Sie hier? Wer ließ Sie herein? Was soll das heißen?
Tarzan war wie vom Blitz getroffen, aber in einem Augenblick erriet er einen Teil der Wahrheit.
Haben Sie mich denn nicht rufen lassen, Olga?
Sie rufen lassen? Um diese Zeit – mitten in der Nacht! Mein Gott, Jean, glauben Sie denn, dass ich verrückt bin?
François telefonierte mir, ich möchte sofort kommen; Sie wären in Verlegenheit und verlangten nach mir.
François? Wer in aller Welt ist François?
Er sagte, er wäre Ihr Diener. Er sprach, als ob ich ihn kennen müsse.
Ich habe keinen Diener, der François heißt. Es hat jemand sich einen Scherz mit Ihnen erlaubt, Jean! Und Olga lachte.
Ich fürchte, dass es ein sehr böser Scherz ist, Olga, antwortete er.
Was meinen Sie? Sie denken doch nicht etwa, dass … Wo ist der Graf? unterbrach er sie.
In der deutschen Botschaft.
Das ist wieder ein Streich Ihres ehrenwerten Bruders. Morgen wird der Graf es erfahren. Er wird die Dienstboten befragen. Alles lässt darauf schließen, dass – nun, dass der Graf denken wird, was Rokoff wünscht. Der Schurke! rief Olga. Sie war aufgestanden und nahe an Tarzan herangetreten. Ängstlich schaute sie zu ihm hinauf. In ihren fragenden Augen war ein Ausdruck, wie ihn der Jäger in denen eines armen, gehetzten Rehes sieht. Sie zitterte, und um sich aufrechtzuhalten, griff sie nach seinen breiten Schultern. Was sollen wir tun, Jean? sagte sie leise. Es ist schrecklich! Morgen wird ganz Paris es lesen, – er wird schon dafür sorgen.
In ihrem Blick, ihrer Haltung, ihren Worten lag der beredte Hilferuf des bedrängten Weibes an seinen natürlichen Beschützer, den Mann. Tarzan nahm eine der kleinen, warmen Hände, die an seiner Brust lagen, in seine eigenen, starken Hände. Das geschah ganz unwillkürlich, und ebenso legte er seinen schützenden Arm um die Schultern der jungen Frau.
Das Ergebnis war elektrisch. Niemals war er ihr so nahe getreten. Wie überraschte Schuldige sahen sie einander plötzlich in die Augen. Wo Olga de Coude hätte stark sein sollen, war sie schwach, denn sie drückte sich fester in des Mannes Arme und schlang ihre eigenen um seinen Hals. Tarzan aber nahm die schweratmende Gestalt in seine mächtigen Arme und bedeckte ihre heißen Lippen mit Küssen.
*
Raoul de Coude entschuldigte sich eilig bei seinem Gastgeber, nachdem er das Billett gelesen hatte. Er gab irgendeinen Grund für sein Fortgehen an. Es war ihm alles wie verschleiert vor den Augen bis zum Augenblick, wo er auf der Schwelle seines Hauses stand. Dann aber wurde er kaltblütig und ging ruhig und vorsichtig voran. Aus einem ihm unerklärlichen Grunde hatte Jaques die Türe schon geöffnet, ehe er noch die Treppe halbwegs erstiegen hatte. In dem Augenblick fiel es ihm allerdings nicht weiter auf, doch erinnerte er sich dessen später.
Leise ging er die Treppe hinauf bis zum Boudoir. In der Hand hatte er einen schweren Spazierstock. Er war entschlossen, den Räuber seiner Ehre niederzuschlagen.
Olga sah ihn zuerst. Mit einem Schrei des Entsetzens riss sie sich aus Tarzans Armen, und der Affenmensch drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um einen schrecklichen Hieb, den de Coude nach seinem Kopfe ausführte, abzuwehren. Einmal, zweimal, dreimal sauste der Stock mit Blitzesschnelle auf ihn nieder, aber jeder Schlag trug dazu bei, den Affenmenschen mehr in das Leben seines Dschungels zurückzuversetzen.
Mit dem Knurren eines Riesenaffen sprang er auf den Mann. Den Stock riss er ihm aus der Hand und zerbrach ihn, als ob es ein Streichholz wäre, und dann sprang er ihn wie ein rasendes Tier an.
Olga de Coude schaute entsetzt der schrecklichen Szene zu; dann aber sprang sie auf Tarzan zu, der im Begriff stand, ihren Gatten zu erwürgen und ihn schüttelte wie ein Terrier eine Ratte schütteln würde.
Sie riss wie wahnsinnig an seinen großen Händen. Heilige Mutter Gottes! schrie sie, Sie töten ihn, Sie töten ihn! O Jean, Sie töten meinen Mann!
Tarzan war taub vor Wut. Plötzlich schleuderte er den Körper auf den Boden, und dann erhob er das brüllende Siegesgeschrei, das er im Urwald stets angestimmt hatte, wenn er ein wildes Tier erlegt hatte. Als diese schrecklichen Töne im Palast des Grafen de Coude erklangen, wo sie bis in den Keller und unters Dach drangen, erblassten und zitterten die Bedienten. Die Gräfin aber sank bebend neben dem Körper ihres Gatten auf die Knie.
Langsam schwand die rote Vision vor Tarzans Augen. Die Dinge nahmen wieder Gestalt an, und er selbst fing wieder an, wie ein zivilisierter Mensch auszusehen. Sein Blick fiel auf die Gestalt der knienden Frau.
Olga! flüsterte er.
Sie schaute auf; aber während sie geglaubt hatte, in die wahnsinnigen Augen eines Mörders zu sehen, erblickte sie Tarzan traurig und zerknirscht.
O Jean! rief sie. Sehen Sie, was Sie getan haben! Er war mein Mann. Ich liebte ihn, und Sie haben ihn getötet!
Tarzan hob den schlaffen Körper des Grafen de Coude behutsam auf und trug ihn auf ein Ruhebett. Dann legte er sein Ohr an des Mannes Brust.
Etwas Kognak, Olga! sagte er.
Sie brachte ihn und flößte dem Grafen etwas davon zwischen die Lippen ein. Jetzt kam ein schwacher Hauch aus seinem Munde. Der Kopf drehte sich, und de Coude stöhnte.
Er wird nicht sterben, sagte Tarzan. Gott sei Dank! Warum taten Sie das, Jean? fragte sie.
Ich weiß es nicht. Er schlug mich und da ergriff mich die Wut. Ich habe es so bei den Affen meines Stammes gesehen. Ich habe Ihnen meine Geschichte niemals erzählt, Olga. Es wäre besser gewesen, Sie hätten sie gekannt. Dann wäre dies nicht so gekommen. Ich habe meinen Vater nie gesehen. Die einzige Mutter, die ich je gekannt habe, war eine wilde Menschenäffin. Bis zu meinem fünfzehnten Jahre habe ich nie ein menschliches Wesen gesehen. Ich war zwanzig Jahre alt, als ich den ersten weißen Menschen sah.