Gerhard Oberkofler

Arnold Reisberg. Jüdischer Revolutionär aus dem Königreich Galizien


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1927 nahmen 800 Personen in der Wiener Volkshalle an der Lenin-Feier teil. Diese von Johann Koplenig (1891–1968) eröffnete Veranstaltung war gleichzeitig der von Delegierten des Jung-Spartakusbundes besuchte I. Reichskongress der Roten Jungpioniere und wurde von der Roten Fahne als mächtige Kundgebung für die Einheit der Partei gewertet.113 Die kommunistische Frauentagsversammlung am 6. März 1927 im X. Wiener Bezirk wurde von 200 Personen besucht. Der IX. Parteitag der KPÖ im II. Wiener Bezirk brachte eine Klärung der Differenzen und, wie A. R. in seinen Archivexzerpten zur Geschichte der Partei resümierte, „ein bisher selten erreichtes Maß an innerer Geschlossenheit“. Frey war mit Unterstützung von Hornik ausgeschlossen worden. Der Parteitag beauftragte das Zentralkomitee, eine breite innerparteiliche Kampagne für den Austritt aus den Religionsgemeinschaften einzuleiten.

      Seit seinem Parteibeitritt erlebte A. R. selbst, wie die bürgerliche Klassenjustiz in der Wirklichkeit funktionierte. Er konnte die ärmlichen Lebensbedingungen des Wiener Proletariats sehen und zog den Schluss, dass die Sozialdemokratie gegen die Armut zu wenig tat. Die im Mai 1933 als Kommunistin verhaftete Edith Suschitzky (verh. Tudor-Hart, 1908–1973) von der Buchhandlung Suschitzky dokumentierte die Schattenseiten des roten Wiens in ihren Fotografien.114 Am 1. März 1926 begann in Wien der Schwurgerichtsprozess gegen Johann Koplenig als verantwortlichen Redakteur des „Roten Soldaten“ wegen einer Reihe 1924 und 1925 darin erschienener Artikel. Nach einer groß angelegten Verteidigungsrede, in der Koplenig prinzipiell jedes Sektierertum ablehnte und für die Herstellung einer breiten Einheitsfront eintrat, verneinten die Geschworenen zwei Hauptfragen und sprachen ihn nur wegen des Aufrufs zum 1. Mai 1925 schuldig. In diesem Aufruf waren die Soldaten aufgefordert worden, den Arbeitern und Arbeitslosen die Versicherung zu geben, sie hätten nichts von ihnen zu befürchten. Koplenig wurde zu drei Monaten Arrest mit dreijähriger Bewährungsfrist bedingt verurteilt.115 Der Freispruch der Mörder von Schattendorf (30. Jänner 1927) durch ein Geschworenengericht (14. Juli 1927) und das von Polizeipräsident Johann Schober (1874–1932) und Bundeskanzler Ignaz Seipel (1876–1932) zu verantwortende Blutbad vor dem Justizpalast, der, fälschlich, als Sitz der Klassenjustiz in Wien vermutet wurde, mit 84 toten und hunderten verletzten Arbeitern am 15. Juli 1927 waren der Start für die offene faschistische Offensive in Österreich. Die Mehrheit des am Nachmittag des 15. Juli 1927 tagenden sozialdemokratischen Parteivorstandes hatte den Vorschlag des Arztes Dr. Wilhelm Ellenbogen (1863–1951) und des Gewerkschaftssekretärs Johann Schorsch (1874–1952), die Demonstration der auch in den Außenbezirken kampfbereiten Arbeiter in den bewaffneten Aufstand überzuleiten, abgelehnt. Johann Koplenig verbreitete im Auftrag des ZK der Kommunistischen Partei noch am Abend des 15. Juli ein Flugblatt mit dem Aufruf, dass die Führung der Bewegung in den Händen der Arbeiter sein muss. Die Ausrufung eines eintägigen Generalstreiks in ganz Österreich und eines unbegrenzten Verkehrsstreiks durch den sozialdemokratischen Parteivorstand war eher eine Ablenkung von den revolutionären Möglichkeiten. Der Verkehrsstreik wurde am 18. Juli von der SP-Führung bedingungslos abgebrochen. Johann Koplenig, der sich aus den internen Zwistigkeiten der Wiener Kommunisten ziemlich heraushielt, hatte für das Sekretariat der KPÖ am 15. und 16. Juli 1927 Telegramme an die Provinzorganisationen abgesetzt: „wiener arbeiterschaft durch schuld sp-führer niedergeschlagen. Zentrale auffordert sofortige herstellung verbindung. organisiert massenkundgebungen. vorbereitet abwehr faschistischer provinzvorstösse“. Wilhelm Pieck (1876–1960) war in der Nacht zum 17. Juli nach Wien gekommen, um sich beim Zentralkomitee der KPÖ über die Ereignisse zu erkundigten. Er wird verhaftet und am 26. Juli „abreisend gemacht“. Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale schätzte die Juliereignisse als einen „spontanen Aufstand“ und als „ein Ereignis von größter Bedeutung in der Geschichte des Klassenkampfes der österreichischen Arbeiter und aller internationalen proletarischen Revolutionen“ ein. Das Exekutivkomitee verlangte: „Heraus mit der Bewaffnung des Proletariats! Heraus mit der Bildung von Arbeiterräten! Nieder mit der Seipel-Regierung! Es lebe der Sieg des roten Wiens und der Sieg der österreichischen Arbeiterklasse!“. Am 16. Juli 1927 verteilte die KPÖ in zehntausenden Exemplaren ihr nicht gezeichnetes Flugblatt mit dem Aufruf „Arbeiter und Arbeiterinnen! Die Regierung mordet weiter! ... Wehrt euch, Generalstreik bis zur Vernichtung des Faschismus! Bewaffnung!“. Die Staatsanwaltschaft ließ den Aufruf wegen Hochverrats beschlagnahmen. Am 20. Juli 1927 fand am Zentralfriedhof der Stadt Wien die Trauerfeier für die Juli-Opfer statt. Für den erkrankten sozialdemokratischen Bürgermeister Karl Seitz (1869–1950) hielten der sozialdemokratische Stadtrat Paul Speiser (1877–1947), Wilhelm Ellenbogen (1863–1951), Johann Koplenig (1891–1968) und Friedrich Adler (1879–1960) Grabreden. „Wir Kommunisten“, so Koplenig, „bekennen uns ohne Vorbehalt zum 15. und 16. Juli. Wir erklären uns solidarisch mit den auf der Straße gegen die mordende Staatsgewalt kämpfenden Arbeitern. … In diesem Kampf gibt es für die Arbeiter nur einen Weg, den Weg der russischen Revolution. Die Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes, die Vorbereitung der proletarischen Revolution. … Wir geloben, den Massenmord zu sühnen, durch die Vorbereitung der Revolution, zur Errichtung der proletarischen Herrschaft in Österreich“. Koplenig wurde am Tag danach verhaftet, dem Landesgericht eingeliefert und des Hochverrats angeklagt. Mit ihm wurden die am 15. Juli in Wien anwesenden Mitglieder des Zentralkomitees der KPÖ, Jakob Riehs (*1882), Alois Ketzlik (1886–1938), Genia Lande(-Quittner) (1906–1989), Siegmund Schlamm, Ludwig Schmidt (1913–1943), Gustav Schönfelder, Karl Graf und Alois Seveček angeklagt. Diesen schlossen sich den am 15. und 16. Juli 1927 nicht in Wien anwesenden Mitgliedern des Zentralkomitees an, und zwar Alfred Ziegler, Otto Benedikt (1897–1975), Anna Strömer-Hornik, Gottlieb Fiala (1891–1970) und Karl Tomann (1884–1950), und ersuchten um Erweiterung des Verfahrens auch auf sie.116 Der Name von Karl Tomann weist auf viele Probleme der KPÖ hin. Vor dem Weltkrieg Gewerkschaftssekretär spielte er nach Rückkehr aus der russischen Kriegsgefangenschaft eine bedeutende, aber, wie A. R., der die Fraktionskämpfe erlebte, feststellt, „nicht glückliche Rolle in der KPÖ“. Tomann war einer der Führer im Fraktionskampf, wurde ausgeschlossen, schloss sich den Nazis an und wurde nach der Befreiung von der Roten Armee verhaftet.117 Fiala, der 1915 in russische Kriegsgefangenschaft gekommen war und 1917 an der Seite der Bolschewiki gegen die Weißgardisten gekämpft hatte, war von 1924 bis 1927 Vertreter der KPÖ beim Exekutivkomitee der Komintern (EKKI) und legte im September 1929 alle Parteifunktionen zurück.118 Am 16. November 1927 fand der erste Schwurgerichtsprozess im Landesgericht Wien I. gegen Julidemonstranten wegen „Verbrechen des Aufstandes“ statt, alle Angeklagten wurden freigesprochen. Am 9. Jänner 1928 wurde gegen Koplenig verhandelt, er wurde von den Geschworenen wegen des Flugblattes der KPÖ vom 15. Juli und seiner Rede vom 20. Juli 1927 freigesprochen, auch die am 10. Jänner vor dem Schwurgericht stehenden elf Julidemonstranten wurden freigesprochen. Vor Gericht sagte Koplenig: „Die Geschichte kennt verschiedene Fälle, wo Arbeiter im Kampf Niederlagen erlitten und kurze Zeit später Kämpfe mit Erfolg beendeten. Im Juli 1917 haben die russischen Arbeiter ebenfalls erfolglos gekämpft, und im Oktober 1917 waren sie wieder auf die Straße gegangen und haben gesiegt! Bei uns wird diese Periode eine längere sein. Aber auch dem blutigen Freitag in Österreich wird ein Roter Oktober folgen“.119

      Die Diskussionen innerhalb der KPÖ mit ihren Fraktionsbildungen, die Juli-Ereignisse und der Beginn der, wie das Zentralkomitee der KPÖ am 16. September 1927 formulierte, „Bourgeoisie-Offensive“ standen am Beginn des Weges von A. R. als Parteikommunist. Die Sowjetunion war präsent. Von der Roten Hilfe wurden im September 1927 Transporte für die während der Juli-Ereignisse verwundeten Arbeiter zur medizinischen Versorgung in Kurorten in der Nähe von Leningrad organisiert. A. R. war dabei, als die Wiener Parteiarbeiterkonferenz am 21. und 28. November 1927 mit 400 gegen acht Stimmen und zwei Stimmenthaltungen eine Resolution gegen die in der Sowjetunion ausgeschlossenen Leo Trotzki (eigentl. Bronstein) (1879–1940) und Grigori Jesejewitsch Sinowjew (eigentl. Radomilsky) (1883–1936) annahm. Koplenig leitete die jungen Genossen an, alles aus der Sicht der nationalen und internationalen Arbeiterklasse zu beurteilten. Das war für A. R. ein gutes Vorbild, dem er begann nachzueifern. „Ich diene der Arbeiterklasse“ – diese Lebensmaxime von Koplenig hat A. R. seiner biografischen Skizze über Koplenig vorangestellt.

      In der Republik Österreich breiteten sich nach den Juliereignissen die den herrschenden ökonomischen Kräften entsprechenden faschistischen Kräfte begleitet vom „Rechtsstaat“ aus. Die Weltwirtschaftskrise erfasste Österreich mit voller Wucht.