Gerhard Oberkofler

Arnold Reisberg. Jüdischer Revolutionär aus dem Königreich Galizien


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der Akademie Oswald Redlich (1858–1944), dann auch jene von Alfred Francis Přibram (1859–1942), der in diesem Semester dreistündig über „Renaissance und Reformation“ vortrug und 1918 mit der Veröffentlichung von Urkunden und Dokumenten zur Geschichte der Juden in Wien begonnen hatte. Přibram, ein Freund von Sigmund Freud (1856–1939) und Josef Redlich (1869–1936), konnte 1939 nach England flüchten.60 Im Sommersemester 1924 besuchte A. R. die Vorlesung „Geschichte Europas“ (zweistündig) des deutschnationalen Viktor Bibl (1870–1947) und lernte erstmals, aber intensiv Alfons Dopsch in dessen sechsstündig angekündigten „Übungen für Anfänger“ kennen. Der Besuch des einstündigen „Philosophischen Seminars“ und der einstündigen Vorlesung über die Relativitätstheorie von Albert Einstein (1879–1955) bei dem 1922 als Nachfolger von Ernst Mach (1838–1916) von Rostock nach Wien berufenen, 1936 ermordeten Moritz Schlick (1882–1936) wird für A. R. ein Muss gewesen sein. Einstein hat die Darlegung seiner Theorie durch Schlick als ausgezeichnet empfunden. Der im Bereich der Geschichte vermittelte metaphysische Interpretationsmechanismus wurde von Schlick hinterfragt und versucht, die Welt materialistisch zu deuten. Walter Hollitscher (1911–1986), nach 1945 einer der führenden Intellektuellen in der KPÖ, war einer der Schüler von Schlick. Mit Mach, der auf den jungen Einstein großen Einfluss ausübte, und mit Schlick wurde als Aufgabe von wissenschaftlicher Erkenntnis gesehen, die Erfahrung in eine möglichst ökonomische Ordnung zu bringen.61 Vielleicht war A. R. zusammen mit Béla Juhos (1901–1971) in den Lehrveranstaltungen von Schlick. Der Pfeilkreuzler Juhos erinnerte zusammen mit Victor Kraft (1880–1975) nach 1945 an den „Wiener Kreis“. Im Wintersemester 1925/26 besuchte A. R. bei Schlick noch dessen einstündige „Philosophie der Mathematik“ und in seinem letzten Sommersemester 1926 dessen einstündige Vorlesung zu „Weltanschauungsfragen“. A. R. näherte sich Dopsch an, besuchte im Wintersemester 1924/25 bei ihm nochmals dessen sechsstündige „Übungen für Anfänger“ und führte mit ihm wegen einer Dissertation Gespräche. Bruno Kreisky (1911–1990) erinnerte sich, dass Dopsch sich im Gegensatz zu vielen anderen Wiener Universitätsprofessoren nie zu irgendwelchen antisemitischen Exzessen herabgelassen habe.62 Für das Philosophicum dachte A. R. an Robert Reininger (1869–1955), dessen vierstündige „Praktische Philosophie“ er in diesem Semester besuchte. Mit dem Sommersemester 1925 war A. R. mit seiner Umschau fertig. Er besuchte wieder die sechsstündigen „Übungen für Anfänger“ von Dopsch, dazu dessen dreistündiges Angebot „Soziologische Grundfragen“, und zur Vertiefung der Philosophie Reinigers einstündige Vorlesung über Gustav Theodor Fechner (1801–1887). Viele Jahre später wird sich A. R. an Fechner erinnert haben, als er den Brief von Marx an seinen Freund Ludwig Kugelmann (1828–1902) vom 27. Juni 1870 las,63 worin Marx feststellte, dass Fechner die Dialektik von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) überhaupt nicht verstanden habe, oder als er beim Studium von Lenins in Vorbereitung auf die Oktoberrevolution geschriebenem philosophischen Hauptwerk Empiriokritizismus und historischer Materialismus wieder darauf stieß. Da wird A. R. gelernt haben, was Dialektik der Geschichte bei Marx ist, nämlich eine immanente, nur menschengeschichtliche Dialektik, während bei Hegel die Dialektik der Geschichte eine solche des absoluten Weltgeistes ist und insofern doch eine säkularisierte, weil an die Stelle der Transzendenz Gottes eine absolute Metaphysik gesetzt ist. Aber es war doch bereichernd, dass A. R. einmal von Fechner und den mit diesem Namen verbundenen Anfängen der naturwissenschaftlich vorgehenden Psychologie und dem idealistisch-spiritualistischen philosophischen System und dessen panpsychistischem Charakter hörte.64 Im Wintersemester 1925/26 besuchte A. R. erstmals Vorlesungen des von Graz nach Wien gekommenen Heinrich Srbik, der im Einvernehmen mit Dopsch Zweitbegutachter seiner Doktorarbeit sein sollte. Srbik las dreistündig über „Reformation und Gegenreformation“. Hinzu kamen in diesem Semester ein „Repetitorium der Wirtschaftsgeschichte“ bei der eben von Dopsch habilitierten Wirtschafts- und Sozialhistorikerin Erna Patzelt (1894–1987) und eine Lehrveranstaltung bei dem 1919 habilitierten, aus dem galizischen Judentum stammenden Althistoriker mit byzantinischem Schwerpunkt Ernst Stein (1891–1945) über „Kirchenverfassung und Staatskirchenrecht bis zum Konzil von Chalcedon“. Die deutsche Studentenschaft hatte nicht vergessen, ihn in die Liste der Fakultätsmitglieder „nicht arischer Herkunft“ aufzunehmen.65 Zu dem studentenfreundlichen Ernst Stein pflegte Viktor Matejka (1901–1993), der 1919/20 mit dem Studium der Geschichte begonnen hatte, eine freundschaftliche Nähe.66 „Methodik des Geschichtsunterrichtes“ war in diesem Wintersemester 1925/26 eine weitere Lehrveranstaltung, die A. R. besuchte. Das ist verwunderlich, weil A. R. als Berufsziel nicht das Lehramt im Kopf haben konnte. Es wird der Vortragender Heinrich Montzka (1875–1941) gewesen sein, der A. R. veranlasst hatte, in diese Vorlesung zu gehen. Montzka, der ab dem Schuljahr 1923/24 von Innsbruck kommend Gymnasialdirektor am Sperlgymnasium in Wien II, war, galt als guter und erstaunlich fortschrittlicher Geschichtspädagoge. Er war ausgebildeter Historiker und hatte 1898 mit einer Arbeit „Über die Quellen zur chaldäisch assyrischen Geschichte in Eusebios von Caesareas Chronik“ 1898 in Wien promoviert.67 Montzka hielt Vorträge im Leopoldstädter Volksheim und vielleicht kannte ihn A. R. von dort her. Das 1931 von Montzka publizierte Buch über die Entstehung der Republik wurde von der Arbeiterzeitung der „proletarischen Jugend“ empfohlen, es sei „frei von jeder reaktionärer Heimtücke und ehrlich, demokratisch, republikanisch“.68 Im Sommersemester 1926 beendete er seinen regelmäßigen Besuch von Vorlesungen. Neben der schon erwähnten Lehrveranstaltung von Schlick besuchte er bei seinem Dissertationsvater Dopsch dessen dreistündige Übersichtsvorlesung „Die politischen Theorien des Mittelalters“ und bei Heinrich Gomperz (1873–1942) dessen einstündige Einführung in „Platons Ideenlehre“. Welche „Abschweifungen“ mag Gomperz vorgenommen haben? Er, der aus einer angesehenen und wohlhabenden jüdischen Familie stammte, gehörte einem sich in Jugendtagen gefundenen, elitären Diskussionsklub, Sokratiker, an und gestand mit dem Klubnamen „Simmias“ den geistigen Arbeitern eine selbständige Rolle in der Klassengesellschaft zu. Dabei war ihm die Rolle jener als „Demagogen, Volksredner und Zeitungsschreiber, die sich bei der Masse der Handarbeiter am erfolgreichsten einschmeicheln“, ein Gräuel.69 Erich Weinert (1890–1953) verfasste 1931 ein Gedicht „An die Geistesarbeiter“, welches für diesen Kreis nützlich gewesen wäre, um über die Kathederwelt hinauszukommen.70 Im Sommersemester 1926 ging A. R. zudem in die Vorlesungen des interdisziplinär forschenden, seine Ergebnisse popularisierenden und wegen der Diskussion über die Klimaveränderungen wieder entdeckten Geographen Eduard Brückner (1862–1927), der fünfstündig „Geographie von Mitteleuropa“ angekündigt hatte. Nur einstündig war die von der Pionierin der Entwicklungspsychologie Charlotte Bühler (1879–1963) angekündigte „Sozialpsychologie“, die bei A. R. aber erkennbaren Eindruck hinterließ. Dass A. R. sich auf die für den psychischen Lebenslauf wichtigen Daten von Lenins Jugend so intensiv konzentrierte und die Frage beantworten wollte, weshalb Lenin ein Revolutionär geworden war, kann mit den Anregungen von Charlotte Bühler zusammenhängen. Forschungsschwerpunkt von Charlotte Bühler, von dem sie in ihren Vorlesungen erzählte, war die Psychologie von Kindheit und Jugend und überhaupt die menschliche Biographie.71

      1925 erschien Heinrich Ritter von Srbiks (1878–1951) Darstellung über den Staatsmann und Menschen Metternich72 und enfachte unter Historikern eine lebhafte Diskussion. Metternich galt in allgemeiner Wahrnehmung bis dahin als Feind aller liberalen und nationalen Bewegungen in Europa, als Repräsentant des feudalabsolutistisch gesetzmäßigen Zustandes. Srbik ließ die spezifisch „österreichische Note“ Metternichs, der sich um den Bestand Österreichs als eines stabilisierenden Faktors in Europa gesorgt habe, deutlich werden. Der Srbik des Metternich-Buches erinnert da und dort an ironische Passagen in Robert Musils (1880–1942) „Der Mann ohne Eigenschaften“ über den eher zu Depressionen als zu hysterisch nationalistischen Ausfällen neigenden österreichischen Patriotismus, weniger an den von Karl Kraus geschilderten aggressiv-tödlichen Habsburgerchauvinismus. Dopsch mag bei der Lektüre des Srbik-Buches aufgefallen sein, dass die ökonomischen Zusammenhänge des Vormärz in ihrem Bezug auf das Verhältnis der Habsburgermonarchie zu Deutschland separat herausgearbeitet werden müssten. Vielleicht wurde Dopsch durch A. R. an den aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie stammenden und vielfältig deutschnational tätigen Historiker Heinrich Friedjung (1851–1920) erinnert, der ein Bündnis zwischen Österreich und Deutschland favorisierte. Es gab eine eigene, von Přibram