das bedeutete, für ein Visum anstehen und nochmals anstehen und Schikanen aushalten zu müssen. Der österreichische Schriftsteller Erich Hackl (*1954) hat diese Situation am Schicksal des ostgalizischen Juden und Wiener Kohlenhändlers Leopold Klagsbrunn (1888–1957) literarisch realistisch geschildert.18 Wovon lebte das Ehepaar Reisberg? Mit Unterstützung der Fürsorge-Zentrale der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Auswanderungsabteilung, die für ihn ein Katasterblatt angelegt hatte, gelang es Berl Reisberg nach langem und nervenzermürbendem Hin und Her mit seiner Ehefrau, die Bewilligung für die Ausreise nach Argentinien zu erhalten. Am 11. Jänner 1940 überschritt er mit seiner Ehefrau bei Arnoldstein die Grenze. Bis dahin waren sie in der Wolmutstraße 19–21/40 gemeldet. Was die Ummeldung von der Wolmutstraße 19/22 in Wolmutstraße 19–21/40 am 27. September 1939 bedeutet hatte, lässt sich nicht rekonstruieren. Die Reisbergs reisten am 2. Februar 1940 in Argentinien ein und konnten sich in Buenos Aires niederlassen. Vielleicht waren ostjüdische Verwandte der ersten oder zweiten Generation behilflich. Seine mit Walter Karolyi verheiratete Tochter Gisa (Gisela) konnte auch dorthin flüchten. Viele, viele Jahre später erhielten die alten, kranken und verarmten Reisbergs aus dem Fonds zur Hilfeleistung an politisch Verfolgte, die ihren Wohnsitz und ständigen Aufenthalt im Ausland haben (Hilfsfonds), auf ihren Antrag Ende des Jahres 1956 eine Zuwendung aus Österreich, die ihnen das nackte Überleben etwas erleichterte. Eine solche Zuwendung erhielt der mit viel Glück die Mordmaschine der deutschen Faschisten überlebende Sohn Ignaz Reisberg (*8. Jänner 1913, Kolomea). Ignaz Reisberg war Ende März 1938 in der Lassallestraße verhaftet und, nachdem ihm von der Polizei die Frontzähne ausgeschlagen worden waren, nach Dachau gebracht worden. Dort und später in Buchenwald war er bis zum 15. Februar 1939 inhaftiert. Nach Entlassung floh er über Italien nach Shanghai. Nach Ende des Kriegs glückte ihm die Emigration in die USA und Niederlassung in Los Angeles, von wo aus er im Oktober 1977 zu seinen alten Eltern in Argentinien ziehen konnte.19
II Kindheit und Jugend
„Nicht zwingt der Schöpfer den Menschen, nicht beschließt er
über sie, dass sie Gutes oder Böses tun, sondern alles ist ihnen überlassen.“
Moses ben Maimon (12. Jh)20
II.1 Kinder- und Schuljahre. Matura am Akademischen Gymnasium Wien I.
Curriculum vitae
Ich, Arnold Reisberg, bin am 17. Februar 1904 in Borislau, Polen als Sohn des Volksschullehrers Berl und seiner Gattin Rosa geboren. Die Volksschule habe ich in Horodenka und Kolomea in Polen besucht. Vom Jahre 1914 bis 1918 habe ich in Wien öffentlichen, sodann bis zum Jahre 1922 privaten Unterricht in den Mittelschulfächern genossen und im Oktober 1922 habe ich die Reifeprüfung am Akademischen Gymnasium in Wien I abgelegt. Im Oktober 1922 habe ich an der philosophischen Fakultät der Wiener Universität inskribiert und während meiner Studienzeit Vorlesungen aus Geschichte, Geographie und exakter Philosophie gehört.
Wien, 21. Juli 1927
Arnold Reisberg
Mit diesem knappen, handschriftlich geschriebenen Lebenslaufs und unter Vorlage seines Reifezeugnisses wie seiner mit der Schreibmaschine samt Durchschlag getippten Doktorarbeit (s. u.) meldete sich A. R., wohnhaft in Wien II, Wolmutstraße 19/22, am 21. Juli 1927 zur „Ablegung der strengen Prüfungen behufs Erlangung des philosophischen Doktorgrades aus Geschichte (Mittelalter und Neuzeit) in Verbindung mit Geographie“ an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien an. Aber was sagt ein solches Curriculum eines 23-jährigen aus Galizien stammenden Ostjuden aus? A. R. war kein von Bertolt Brecht charakterisierte Herr Puntila, dessen Heimatliebe Unheil bedeutet, für A. R. ist Galizien Herkunftsland. „Die Heimat ist ihm nix“, weil er im Alltag mit Matti fragt: „Wer wen?“21
Der aus Czernowitz stammende zionistische Jurist Salomon Kassner (1881–1942) unterschied scharf zwischen den Juden von Galizien und jenen der Bukowina, wohl weil bei den ersteren der Zionismus aufgrund der materiellen Bedingungen sich besser ausbreiten habe können. Die Juden der Bukowina seien, so Kassner, zwischen Ost- und Westjudentum stecken geblieben: „Keine Spur von jenem östlichen Judentum, wie es in Galizien pulsiert und zum unversiegbaren Quell jüdischen Lebens für die ganze Welt geworden ist“.22 A. R. war ein beschnittener galizischer Jude und erstgeborener Sohn. Als solcher bedeutete er die „Heiligung der ganzen Familie“, von ihm wurde viel erwartet.23 Im Alter von fast 70 Jahren erforschte A. R. mit viel Empathie die Jugend von Lenin und stellte nach Darstellung von dessen Eltern, dessen Heimat und Kinder- und Schuljahren die Frage, „Wie wird man Revolutionär?“.24 Jüdische Lesetexte, mit denen A. R. in seiner religiösen Familie von klein auf aufgewachsen war, enthalten viele Geschichten von der „Elternehrung“ und von der „Gestaltung des Kindes“. Der Besuch der Synagoge wird ebenso Pflicht gewesen sein wie der Erwerb von Kenntnissen, um auf dem „Meer des Talmuds“ zu fahren. Der „Gottesdienst“ am Versöhnungstag (27. / 28. September, Jom Kippur) wird in der Familie Reisberg üblich gewesen sein, die Demonstration am Kampftag der Arbeiterklasse am 1. Mai eher nicht. So wird A. R. vielleicht jene Erinnerung an den pharisäischen Rabbiner Hillel (110 v. u. Z. – 9. n. u. Z.) mit auf seinen Weg erhalten haben, der bei den chassidischen Juden in Galizien viel beachtet wurde und von dem die Worte überliefert sind: „‚Wenn nicht ich für mich bin, wer ist für mich?‘ Wenn ich nicht meinen Dienst tue, wer wird ihn für mich tun? Jeder muss seinen Dienst selber vollbringen. Und weiter spricht er: ‚Und wenn nicht jetzt, wann denn?‘ Wann wird das Jetzt sein? Das jetzige Jetzt, der Augenblick, in dem wir reden, war doch von der Erschaffung der Welt an nicht, und es wird nie wieder sein. Früher war ein anderes Jetzt, später wird ein anderes Jetzt sein, und jedes Jetzt hat seinen eignen Dienst; wie es im heiligen Buch Sohar heißt: ‚Die Gewänder des Morgens sind nicht die Gewänder des Abends‘.“25 Proletarische Kinderliteratur bekam A. R. nicht in die Hände, seine Kinder- und Jugendbücher vermittelten Tugenden wie Sparsamkeit, Fleiß, Wissen in Geographie und Naturwissenschaft. Zu der von der gymnasialen Welt verachteten, aber dennoch von den heranwachsenden Buben gerne gelesenen Literatur gehörte Karl May (1842–1912), dessen Abenteurerromane den Blick auf Gerechtigkeit, Frieden und Achtung vor dem Anderen öffnen konnten.26
Ein Erlass des Landesschulrates für Wien ermöglichte A. R. die Zulassung zur mündlichen Reifeprüfung am 12. Oktober 1922 nachmittags im Akademischen Gymnasium Wien, als dessen Direktor in den Jahren 1919 bis 1924 der über Graz, Pola und Triest nach Wien gekommene Professor für deutsche Sprache Gustav Wilhelm (1869–1949) amtierte. A. R. war „Altösterreicher“, hatte aber nicht mehr die österreichische Staatsbürgerschaft, sondern die polnische, weil am 5. November 1916 Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich Polen wieder als eigenen Staat proklamiert hatten. Geprüft wurde A. R. in den Gegenständen israelitische Religionslehre (sehr gut), Lateinische Sprache (Übersetzung Deutsch Latein genügend, Übersetzung Latein Deutsch gut), Griechische Sprache (gut), Naturgeschichte (gut), Physik (genügend), und Philosophische Propädeutik (sehr gut). In der deutschen Sprache betraf die im Prüfungsprotokoll ausgewiesene erste Frage die Szene III / 7 aus dem Drama Nathan der Weise von Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), was A. R. als Einstiegsfrage wegen der „Ringparabel“ vielleicht sogar willkommen war. Die von Lessing vermittelte Hoffnung der Französischen Aufklärung auf ein friedliches, gleichberechtigtes Zusammenleben von Menschen, Völkern und Religionsgemeinschaften gab auch ihm Hoffnung. In der „Ringparabel“ wird dieses gegen Antisemitismus und Antiislamismus gerichtete Denken durch das Gespräch zwischen Sultan Saladin und Nathan besonders deutlich. Der Mythos des legendären islamischen Sultan Saladin hat in der kurdischen Befreiungsbewegung der Gegenwart noch Bedeutung.27 Damals wie heute war „Die Lessing-Legende“ (1893) von Franz Mehring (1846–1919), die ein Bild vom kämpferischen Bürger Lessing entwarf, weit davon entfernt, Schulkindern bekannt gemacht zu werden. Die deutsche Sprache nahm bei der Maturaprüfung eine zentrale Rolle ein. Nach der Frage über den Blankvers im deutschen Drama musste A. R. noch Auskunft geben können über das dramatische Schaffen von Franz Grillparzer (1791–1872) und seine Zeitgenossen. In Vorbereitung darauf wird A. R. die Selbstbiographie von Grillparzer28 gelesen haben. Das Wien des mit Klemens Wenzel Lothar von Metternich (1773–1859) identifizierten Regimes galt Grillparzer