Gerhard Oberkofler

Arnold Reisberg. Jüdischer Revolutionär aus dem Königreich Galizien


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Thomas Kuczynski für die Aufmunterung, diese Biografie zu schreiben. Mario Kessler, Ilko-Sascha Kowalczuk, Günther Grabner, Wilfried Bader, Charlotte Rombach und Willi Weinert haben Materialien zur Verfügung gestellt und nützliche Hinweise gegeben. Während des Lockdowns und der altersbedingten Quarantäne in Wien haben mir aus dem Universitätsarchiv Wien Thomas Maisel, aus dem Stadtarchiv Wien Stefan Spevak, aus dem Archiv des Wiesenthal Institute for Holocaust Studies René Bienert und aus dem Bundesarchiv Berlin Brigitte Fischer in sehr entgegenkommender Weise Aktenkopien übermittelt. Victoria Eisenheld hat mein Typoskript mitgelesen, Ilona Mader hat mich im Verlag initiativ und kompetent betreut. Die freundschaftliche Verbundenheit mit Markus Hatzer hat mir auch diesmal ermöglicht, auf vorauseilende Selbstzensur zu verzichten.

      Gerhard Oberkofler, Wien

      Das Ehepaar Ruchel Laja (auch Lea) Reisberg geborene San (Sann) (geboren in Obzanica, 3. April 1882) und Berl Reisberg (geboren in Mikulince, 23. Juni 1880) wird wegen seiner ostjüdischen Religiosität und wegen seines Aussehens alle möglichen Vorurteile von Polen, Ukrainern, Russen oder Deutschen auf sich gezogen haben. Berl Reisberg war zuerst Volksschullehrer im heute ukrainischen Borislau (Borislav, Boryslaw), dem Geburtsort seines erstgeborenen Sohnes Arnold (*17. Februar 1904), das – inmitten einer bettelarmen Bauernregion gelegen – durch seine Naphthawerke in der Monarchie bekannt war, weniger durch das immense, durch Grubenunglücke verschärfte Arbeiterelend.1 Polnische Schriftsteller wie Józef Rogosz (1844–1896) oder der unter dem Pseudonym Sewer schreibende Ignacy Maciejowski (1835–1901) haben über die galizische Naphtha-Hölle geschrieben.2 Im Februar 1919 sollen von dort „ernste Arbeiterunruhen ausgegangen (sein), die besonders in Borislav bolschewistischen Charakter angenommen haben“.3 1941 bis 1944 begingen Österreicher und Deutsche an Einwohnern von Borislav mörderische Verbrechen.4 Wiener Polizisten waren in und um Borislav so wie in ganz Polen als „Liquidatoren“ der jüdischen Bevölkerung eingesetzt, was 1946 in der Österreichischen Presse durch ein paar Verhaftungen bekannt wurde.5 Berl Reisberg unterrichtete an in Galizien institutionalisierten „Baron Hirsch Volksschulen“, zuletzt in Horodenka und Kolomea (Kolomyja). Der sagenhaft reiche jüdische Bankier Moritz (Maurice de) Hirsch (1831–1896) ermöglichte in Galizien wie in Palästina den Bau jüdischer Volksschulen. Er bemühte sich auf Wunsch seiner Ehefrau Clara Hirsch geb. Bischoffsheim (1833–1899) mit der 1891 gegründeten Jewish Colonization Association um die massenhafte Ansiedlung osteuropäischer Juden in Lateinamerika, insbesondere in Argentinien und Brasilien, um ihnen dort ein freieres Arbeiter- und Bauernleben zu ermöglichen.6 Vielleicht war Hirsch von Legenden über die Zufriedenheit der Einwohner im „Missionsland“ des Jesuitenordens im Süden Paraguays inspiriert. Das im Gefolge der Affäre um Alfred Dreyfus (1859–1935) von dem ungarischen Juden Theodor Herzl (1860–1904) geschriebene Buch über den Judenstaat wurde 1896 veröffentlicht, der Erste Zionistische Weltkongress fand im Sommer 1897 in Basel statt. Auch Herzl wollte den Ostjuden eine Heimat geben. Für den unbeirrbaren Kriegsgegner Karl Kraus (1874–1936) war Herzl nicht mehr als ein nicht ernst zu nehmender Utopist und hochstapelnder Journalist. Ein gemeinsames Territorium von Juden schien vielen Juden in Anbetracht des immer wieder abrufbaren Antisemitismus mit seinen Pogromen eine bessere Lösung als Assimilation zu sein. In Horodenka und Kolomea ging Arnold Reisberg (A. R.) in die Volksschule. Es waren typisch kleinbürgerlich galizische, schmutzige Städte mit einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil. Aus bettelarmen jüdischen Familien der galizischen Städte und Dörfer wurden nicht zu verheiratende Mädchen oft jüdischen Händlern gegeben, die sie als Prostituierte bis in die Bordelle nach Argentinien verkauften. Nach der Volkszählung 1910 hatte Horodenka 92.033 Einwohner, Kolomea 124.850 Einwohner. Philosemitisch wird oft vom Shtetl (d. i. Städtchen) in Galizien gesprochen, verklärend, weil sich diese Städte und Dörfer mit ihrer eigenen Sprache vom polnischen, analphabetischen Umfeld durch Synagoge und Markt als eigener Kosmos abhoben.

      Nach Kriegsbeginn flüchtete das Ehepaar Reisberg mit seinen drei kleinen Kindern Arnold, Klara (*1906) und Ignaz (*1913) wie so viele Juden aus Galizien und der Bukowina aus Sorge vor Pogromen in das imperiale Wien, von wo aus mit Deutschland gemeinsam der Krieg angezündet worden war. Wien war übervölkert, es war eine Weltstadt mit über zwei Millionen Einwohnern. Zwei Drittel davon waren Immigranten der ersten und zweiten Generation, ihre Umgangssprachen waren Tschechisch, Polnisch, Ruthenisch, Slowenisch, Serbokroatisch, Rumänisch, Ungarisch und Italienisch, Jiddisch wurde nicht gezählt. 1910 wohnten in Wien rund 175.000 Juden.7 Das Verbindende dieser multinationalen Gesellschaft war die deutsche Sprache in ihrer Wiener Färbung. Der zehnjährige Judenbub A. R. war, weil es Kontinuität des psychischen Lebens eines Volkes gibt, bei seiner Ankunft schon „alt“. Franz Kafka (1883–1924) dachte als Jude die Zeitlichkeit des Individuums über die biologische Zeitlichkeit hinaus: „Wir Juden werden aber schon alt geboren“.8 Was wie ein Bonmot erscheint, ist ein tiefgehender, von Ignacio Ellacuría erläuterter philosophischer Gedanke zu Unterscheidungen vielfältiger Zeiten und zu den tiefer liegenden Phänomenen des Alters.9 Das Individuum wird von der Geschichte umhüllt. Viel später wird A. R. mit Blick auf seine Herkunft vielleicht berührt haben, dass Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924) in Galizien vom Sommer 1912 bis nach Kriegsbeginn 1914 zwei fruchtbare Jahre verbrachte, ehe er nach seiner Verhaftung wegen Verdachts der Spionage für Russland dank der Hilfe von Freunden und Interventionen wie jener von Victor Adler (1852–1918) über Wien in die Schweiz fahren konnte. Zu den wichtigsten in Krakau geschriebenen Publikationen von Lenin gehören Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus und Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen.10 Aus Krakau hat Lenin an seine Mutter geschrieben: „Die Juden hier ähneln den russischen, die russische Grenze ist 8 Werst entfernt (mit dem Zug sind es von Granica etwa zwei Stunden, von Warschau 9 Stunden), barfüßige Frauen in bunten Kleidern – ganz wie in Russland.“11

      Die Reisbergs konnten in Wien zuerst in einer Flüchtlingsunterkunft in der Nordbahnstraße 20/27 unterkommen, dann wohnten sie in der Vorgartenstraße 130/1 (7. Oktober 1914–7. Dezember 1914), in der Schiffmühlenstraße 76/5 (7. Dezember 1914–17. Juli 1915) und am Sterneckplatz 21/16 (19. Juli 1915–11. März 1920) und ab 11. März 1920 in der nach dem Baumeister Bonifaz Wolmut (1505–1579) benannten Wolmutstraße 19–21/Tür 40.12 Der II. Wiener Bezirk war der Heimatsbezirk der Familie Reisberg, die 1918 mit Gisela auf vier Kinder angewachsen war. Von der Bevölkerung wurden diese ostjüdischen Flüchtlinge als fremde Bedrohung mehrheitlich abgelehnt. Die emanzipierten und assimilierten Wiener Juden sprachen, wie sich Eric Hobsbawm erinnert, von „Ostjuden“, als ob es sich um eine andere Spezies handeln würde.13 Die Spannungen waren, wie sich der aus einer jüdischen Familie in Wien kommende Karl Popper (1902–1994) im Rückblick erinnert, zum Greifen, zumal viele Juden „deutlich anders“ aussahen als die ansässige Mehrheit der Wiener Bevölkerung.14 Vom Schtetl in Galizien auf die Mazzesinsel von Wien – die Realität des Ghettos war dieselbe. Vielleicht waren es Verwandte, die den Reisbergs bei der Wohnungssuche behilflich waren, vielleicht die 1914 im II. Wiener Bezirk, Zirkusgasse 5, gegründete „Zentralstelle der Fürsorge für die Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina“, die, 1915 in „Zentralstelle der Fürsorge für Kriegsflüchtlinge“ umbenannt, von Rudolf Schwarz-Hiller (1876–1932) geleitet wurde.15 Die meisten der jüdischen Flüchtlinge wussten nicht, was sie essen sollten. Der wie A. R. aus dem galizischen Judentum nach Wien gekommene und mit ihm fast gleichaltrige Manès Sperber (1905–1984) erzählt davon.16 An einer Flüchtlingsschule in Wien war der Deutsch, Polnisch, Ukrainisch und Hebräisch sprechende Berl Reisberg Volksschullehrer. Nach 1918 musste er für seine jetzt sechsköpfige Familie mit vier Kindern als Schuhvertreter, seit 1930 als „Handelsangestellter“ in der Schuhbranche in der Millionenhauptstadt der kleinen Republik Deutsch-Österreich, die 1919 den Staatsnamen Republik Österreich annehmen musste, irgendwie über die Runden kommen. 1928 konnte Berl Reisberg, Schuhwarenhändler in Wien II, Molkereistraße 2, den Privatkonkurs gerade noch abwenden, indem seine Gläubiger einem Ausgleich mit 35 Prozent in zehn Monatsraten zustimmten.17 Irgendwie war er dann Vertreter im Schuhhandel.

      Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich (12. / 13. März 1938) war die seit langem vorbereitete Annexion Österreichs durch Hitlerdeutschland Wirklichkeit