zum Rektor der Deutschen Universität Prag für das Studienjahr 1922/23. Die sudetendeutschen Studenten hatten in Prag unter Führung von Kleo Pleyer (1898–1942) den rassistischen Antisemitismus auf ihren völkischen Fahnen vorangetragen und viel Aufmunterung von Seiten der deutschen Professoren erhalten.46 Der Akademische Senat der Innsbrucker Universität gab seinen Dekanaten 1923 nicht veröffentlichte Richtlinien, wonach es den Dekanen frei stehe, die Aufnahme von Ausländern „ohne Angabe von Gründen“ abzulehnen. Das war vor allem gegen die Ostjuden aus Polen, der Ukraine, Rumänien, Russland, Ungarn und der Tschechoslowakei und Juden aus anderen Staaten, die einen numerus clausus für ihre jüdischen Studenten eingeführt haben, gerichtet. Und, so der Akademische Senat mit seinen Theologen, es sei auch die Neuaufnahme jüdischer Inländer nach Möglichkeit zu vermeiden. Innsbruck konnte diesen Rassismus ohne jedes Aufsehen praktizieren, Wien musste sich noch etwas gedulden, obschon es nach Auffassung des 1916 aus Prag nach Wien gekommenen Wenzeslaus Graf Gleispach (1876–1944) ein Vorposten deutscher Kultur gegen den Osten war.47 Ende 1914 hatte er in der Wiener Urania über „Die strafrechtliche Rüstung Österreichs“ einen Vortrag gehalten, in dem er die Gemeinsamkeit von Krieg und Strafrecht betonte: „Beides ist Kampf, das Strafrecht ein Kampfrecht, Strafgesetz und Strafverfahren die rechtliche Ordnung für den Kampf, den der Staat tagtäglich gegen das Verbrechen zu führen hat“. Und weiter: „Für das Verbrechen des Staates gibt es nur eine Methode der Strafrechtspflege und das ist der Krieg. … Sie muss in der Vernichtung des verbrecherischen Subjektes bestehen, in dem Tode des Staates Serbien“.48 Gleispach lancierte als Rektor der altehrwürdigten Wiener Universität, unterstützt von seinem Kollegen Karl Gottfried Hugelmann (1879–1956), der stellvertretender Vorsitzender des Bundesrates war, und anderen deutschvölkischen Professoren eine rassistische Studentenordnung, die am 8. April 1930 rechtsverbindlich in Kraft gesetzt wurde. Diese wurde aber vom korrekt agierenden Verfassungsgerichtshof mit der Begründung aufgehoben (20. Juni 1931), sie sei, weil nicht in den autonomen Bereich der Universität fallend, rechtswidrig. Die Mehrheit der Universität musste sich noch bis 1938 gedulden, ehe sie sich von ihren jüdischen, sozialistischen oder kommunistischen Angehörigen befreien konnte. Das alles war aber ein Schritt hin zum rassistischen Recht des Nationalsozialistischen Staates mit allen mörderischen Konsequenzen.
A. R. war sportlich, er trat der Wiener Fußballmannschaft des Vereins Bar Kochba bei. Das war für Wiener Jugendliche nicht ungewöhnlich, denen sich viele Jugendverbände von den Pfadfindern bis hin zu Zionisten anboten. Der Fußball begann in der jungen Republik, viele junge Männer zu begeistern. Der Name Bar Kochba (Sohn des Sterns) leitet sich vom Führer des letzten großen Aufstandes der palästinensischen Juden gegen die Römer ab (132–135 n. u. Z.). Kaiser Hadrians (76–138 n. u. Z.) Feldherr Severus hatte aus Britannien kommend die aufständischen Juden in ihrem letzten Bollwerk Bethar (auch Better, Festung westlich von Jerusalem) eingeschlossen. Bar Kochba war dort mit allen getreuen Aufständischen gefallen. Jüdische Fußballer hätten sich so wie die Tschechen, Ungarn, Polen oder Jugoslawen in der Buntheit von Wien heimisch fühlen können, es wäre nicht notwendig gewesen, einen eigenen jüdischen Fußballklub zu gründen.49 Die Veränderungen von Wien seit Kriegsende waren allerdings massiv. „Die Zeiten ändern sich und mit den Dingen auch die Menschen“, sagt ein altes Sprichwort, dessen Wahrheit sich immer wieder bestätigt. Der Zionismus gewann unter jungen Juden an Boden, doch besuchte A. R. keine zionistischen Kongresse oder Sommerlager so wie der seit 1918 (bis 1934) in Wien III, Landstraßer Hauptstraße mit seiner Familie wohnende Teddy Kollek (1911–2007).50 A. R. war in seinen studentischen Jahren Funktionär seines Bar Kochba Fußballvereins. Am 22. Juni 1921 sollten sich gegnerische Jungmannschaften, zu denen die Jungmannschaft von Rapid gehörte, bei ihm für ein Sonntagsspiel am 26. Juni melden.51 Um Ostern 1922 wurde in der Wiener Morgenzeitung von einer Reorganisation des Bar Kochba Fußballvereins mit A. R. berichtet.52
Seine Nationalien an der Universität füllte A. R. ab seinem ersten Semester, also ab dem Wintersemester 1922/23, handschriftlich in der Rubrik „Religion, welcher Ritus oder Konfession“ mit „mosaisch“ aus und gab in der Rubrik „Muttersprache, Alter“ „polnisch, 18J“ an. In der Rubrik „Heimatzuständigkeit (Ort und Land)“ schrieb er „Mikulince (Galizien) Polen“, in jener zur „Wohnadresse des Studierenden“ „II Wolmutsstraße 19/22“, zur Rubrik „Vorname, Stand und Wohnort seines Vaters“ „Berl, Lehrer, ebenda“ und zu jener „Staatsbürgerschaft“ „polnisch“. Das Nationale von A. R. erhielt am Kopf im 3. Semester von Seiten der Universitäts-Quästur Wien den Stempel „Ausländer“, ab dem Sommersemester 1924 wurde die Rubrik „Muttersprache, Alter“ mit dem Stempel „Volkszugehörigkeit“ ergänzt und A. R. schrieb „jüdisch“ hinein. Ab Sommersemester 1926 druckten die Nationalien in der Rubrik „Muttersprache, Alter“ die Frage „Volkszugehörigkeit“ schon mit, welche von A. R. stets mit „jüdisch“ beantwortet wurde. Das blieb so bis zu seinem achten und letzten Semester 1927. Durchgehend gab A. R. in der Rubrik „Staatsbürgerschaft“ „polnisch“ an. Seine Eltern waren in den Meldeunterlagen von Wien als Österreicher ausgewiesen. Von der Zahlung des Kollegiengeldes war A. R. nicht befreit.
Bis hin zur Wahl eines Dissertationsthemas im Einvernehmen mit dem Wirtschaftshistoriker Alfons Dopsch (1868–1953)53 neigte A. R. eher dem noch im August 1918 für eine Professur in Czernowitz vorgesehenen Historiker Wilhelm Bauer (1877–1953)54 zu. A. R. besuchte in seinen ersten beiden Semestern die zweistündige „Einführung in das Studium der Geschichte“ von Wilhelm Bauer, im zweiten Semester dazu auch dessen zweistündige „Geschichtliche Übungen“. In den ersten Wochen des 3. Semesters von A. R., im Wintersemester 1923/24, zeichneten sich antisemitische Exzesse der völkischen, von ihren christlichen Kommilitonen unterstützten Studenten ab. Am 20. November 1923 musste die Universität vorübergehend ganz geschlossen werden. Die Vorlesungen des Mediziners Julius Tandler (1869–1936) und des Juristen Carl Grünberg (1861–1940) wurden mit den Rufen „Juden hinaus!“ blockiert. „Hinaus mit den Juden!“, diese Parole wurde durch „Hinaus mit den Marxisten“ erweitert. A. R. blieb zeitlebens damit konfrontiert. In diesem seinem 3. Semester (WS 1923/24) belegte er bei Bauer dessen einstündige Vorlesung „Die theoretischen Grundlagen der Geschichte“. Es lässt sich nicht feststellen, inwieweit Bauer seinen rassistisch politischen Eifer in seinen Vorlesungen und Übungen zum Ausdruck brachte. Er rühmte sich jedenfalls, „Juden auf den ersten Blick zu erkennen“55. Über Josef II. (1741–1790) räsonierte Wilhelm Bauer 1938 in einem zu Ehren von Heinrich Srbik (1878–1951)56 geschriebenen Beitrag, dieser habe mit seiner Toleranz nicht geahnt, „dass er mit seinen Maßnahmen schicksalhaft in das Leben nicht nur der Juden, dass er fast noch mehr in das der deutschen Nation griff, indem er durch den Zwang zu deutschem Unterricht mit Gewalt jüdische Geistigkeit in die abendländische Kultur pumpte“. Über Ludwig Börne (1786–1837) und Heinrich Heine (1797–1856) schrieb er: „Wanderer zwischen zwei Welten, litten diese Bastarde des Geistes an Heimatlosigkeit und verdeckten diese Leere bisweilen mit geradezu satanischen Ausfällen wider das Christentum, wie man sie in Heines Briefen finden kann, mit Ausfällen gegen alles Deutsche, oft auch mit grausamer Selbstzerfleischung. Von dem allen merkte das liberal gesinnte Deutschland nichts, merkte nichts und wollte nicht merken, dass da gesamtdeutsche Interessen von schicksalhafter Größe auf dem Spiel standen.“57 Für Adolf Hitler (1889–1945) war Josef II. ein „Freund der Menschen“, der in seiner nur zehn Jahre dauernden Regierungszeit als „römischer Kaiser der deutschen Nation“ noch einmal versucht habe, sich „gegen die Fahrlässigkeit der Vorfahren“ zu stemmen.58
Im ersten Semester 1922/23 konnte A. R. noch die vierstündige „Einleitung in die Philosophie“ von Wilhelm Jerusalem (1854–1923) besuchen und interessierte sich für die Darstellung des eben erst habilitierten Arthur Winkler-Hermaden (1890–1963) über die „Ostalpen im Jungtertiär“, jedenfalls hatte er diese Veranstaltung inskribiert. Wichtig war ihm, seine Kenntnisse in der Stenografie zu verbessern. Er nahm am wöchentlich zweistündigen Kurs des schon 76-jährigen Universitätslektors der Stenografie, Johann Flandorfer (1846–1931),59 der viele Jahre Reichsratsstenograph gewesen war, teil und hörte wahrscheinlich auch das eine oder andere über das Funktionieren und die Mitglieder des Reichsrats. Im zweiten Semester 1923 und am Beginn des Wintersemesters 1923/24 lernte er noch den sozialdemokratischen Politiker und