Gerhard Oberkofler

Arnold Reisberg. Jüdischer Revolutionär aus dem Königreich Galizien


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Friedrich Engel-Jánosi (1893–1978) ihr Vorsitzender.73 Wie überheblich das jüdische Bildungsbürgertum sein konnte, zeigt die Bemerkung von Engel-Jánosi über Bürgermeister Karl Seitz (1869–1950), man merke diesem „ehemaligen Volksschullehrer seine geringe Schulbildung in keiner Weise an“.74 Dopsch ließ seinen Schüler A. R. nachforschen, weshalb es im Vormärz nicht zu einem gemeinsamen Zollverein und gemeinsamen Postwesen von Österreich und Deutschland gekommen war. A. R. arbeitete gründlich, er lernte mit archivalischen Quellen umzugehen. Unter erstmaliger Heranziehung von Materialien im Haus-, Hof- und Staatsarchiv sowie des Finanzarchivs legte A.R. 1927 als Dreiundzwanzigjähriger seine maschinenschriftliche Dissertation Der wirtschaftliche Anschluss Österreichs an Deutschland in den Jahren 1840 bis 1848 (189 Seiten) vor.75 In den Wiener Archiven herrschte eine benutzerfreundliche Atmosphäre, worauf der Chefarchivar Ludwig Bittner (1877–1945), der sich früh den Nazis anschloss, Wert legte. Das Typoskript von A. R. umfasst 189 Seiten (Folioformat) und gliedert sich in zwei Hauptteile: Österreich und der deutsche Zollverein (Österreich und der Zollverein bis 1840 – Der Plan eines deutschen Schifffahrtsbundes – Die Krise des Zollvereines und die Zollreform in Österreich – Krakau und der Handelsvertrag mit Preußen), sowie Österreich und die Gründung des deutschen Postvereines (Die Agitation für die deutsche Postreform – Die österreichische Briefportoreform – Die Vorbereitung des Postvereines – Einzelverhandlungen mit den deutschen Staaten – Eine Ruheperiode – Ein süddeutscher Postverein? – Die erste deutsche Postkonferenz).

      Die deutschen Österreicher waren ein Teil des deutschen Volkes und mit diesem durch Geschichte, Sprache und Kultur verbunden. Auf diese Merkmale kommt A. R. nicht zu sprechen, weil die ökonomischen und politischen Faktoren für die kapitalistische Entwicklung entscheidend wirksam geworden sind. A. R. konzentriert sich auf politische Versäumnisse des österreichischen Regierungssystems, die den „großdeutschen“ kapitalistischen Nationalstaat verhinderten: „Die günstige Stimmung in Deutschland konnte nicht ausgenützt werden, die Krise des Zollvereines ging vorüber, ohne dass es Österreich gelungen wäre, irgendeinen Einfluss in Deutschland zu erreichen, oder auch nur einen handelspolitischen Vorteil zu erlangen. […] Nie mehr wieder ergab sich eine so günstige Gelegenheit, den Anschluss an Deutschland zu erreichen, wie sie diesmal so schmählich verpasst wurde. Srbik versucht die Schuld an dem Misslingen der Zollreform [Franz Anton von] Kolowrat [(1778–1861)] und [Franz von] Hartig [(1758–1865)] zu zuschreiben, die, von den Industriellen beeinflusst, Widerstand geleistet hätten. Dies ist jedoch unrichtig. Kolowrat und Hartig haben wohl, den Fabrikanteneinflüssen nachgebend, die Bedeutung der Zollreform abzuschwächen geholfen, dass aber nicht einmal diese verschlechterte Reform ins Leben getreten ist, dass sie die endgültige Ablehnung zugelassen haben, daran trifft sie nicht mehr Schuld, als die übrigen Mitglieder der Staatskonferenz, als Metternich und [Karl Friedrich von] Kübeck [(1780–1855)]. Die hauptsächlichste Schuld trug das österreichische Regierungssystem […].“

      Das Metternichsche System, dessen realpolitischer Zusammenhang sich auf die Person des Kaisers reduziert, verhinderte der Argumentation von A. R. zufolge den wirtschaftlichen Anschluss Österreichs an Deutschland. Die Geschichte Europas hätte einen anderen Verlauf genommen, doch welcher Verlauf dies gewesen wäre, kann und will A. R. hier gar nicht andeuten: „Aber der wirtschaftliche Anschluss Österreichs an Deutschland im vorigen Jahrhundert und der Anschluss Österreichs von heute haben miteinander nur mehr den Namen gemeinsam. Schon politisch hat sich das Bild ganz geändert. Damals war der Anschluss Österreichs an Deutschland eine rein deutsche Frage, deren Lösung nur durch die beiden deutschen Partner erfolgen sollte. Heute steht dem Anschluss, sei er auch nur rein wirtschaftlich, außer den inneren Hindernissen hier und in Deutschland, noch das harte Machtgebot der Sieger von 1918 entgegen. Aber der wichtigste Unterschied ist der wirtschaftliche. Heute ist Österreich ein armer Staat, der in dem Anschluss an Deutschland seinen letzten Rettungsanker sucht; damals war es wirtschaftlich eine achtungsgebietende Macht, deren Anschluss beiden Teilen zumindest den gleichen Vorteil gebracht hätte. Der Zusammenschluss zweier so mächtiger Wirtschaftsgebiete wäre ein Ereignis geworden, das imstande gewesen wäre, die wirtschaftliche Gestaltung Europas zu verändern. Heute würde der Anschluss höchstens die Rettung der Wirtschaft Österreichs bringen. Zweimal stand im vorigen Jahrhundert die Frage vor Österreich. Das erste Mal in der Metternichschen Periode zur Zeit der Gründung und Konsolidierung des Zollvereines, das zweite Mal nach der Revolution als ein Teil des Bruck-Schwarzenbergschen Planes76 des ‚70 Millionen Reiches‘. Beide Male scheiterte der Anschluss. War es in der zweiten Periode vor allem der durch den politischen Gegensatz Österreichs und Preußens hervorgerufene Widerstand des letzteren Staates gewesen, der den Anschluss verhindert hat, so hielt in der ersten Periode vor allem das Unverständnis der österreichischen Staatslenker Österreich von dem Anschluss ab. Als man in der Metternichschen Periode erkannte, wie notwendig der Anschluss gewesen wäre, machte das eingerostete Regierungssystem eine Umkehr und den Anschluss an den Zollverein unmöglich. Aber die Lehren aus den Niederlagen, die der Zollverein bereitet hat, suchte man auf dem Gebiet des Postwesens zu verwerten. Doch auch diese Reform verzögerte die ‚Staatskunst‘ Metternichs, so dass sie erst nach der Revolution vollendet wurde.“

      Zu Beginn des zweiten Teiles seiner Dissertation resümiert A. R.: „War das Verhalten Österreichs gegenüber der deutschen Handelseinigung keineswegs einem Range als deutsche Großmacht entsprechend, verhinderten hier diplomatische Unfähigkeit, durch die Augenblicksinteressen beschränkter Horizont seiner Regierungsmänner sowie Nachgeben gegenüber dem Geschrei profitsüchtiger Kapitalisten einen Anschluss an den deutschen Zollverein, so spielte es doch auf einem anderen wichtigen Gebiete der materiellen Interessen Deutschlands eine rühmlichere Rolle. Österreich ist der Vorkämpfer und der Initiator der Einigung Deutschlands auf dem Felde der Postverhältnisse gewesen“.

      Die Niederlage der bürgerlich demokratischen Revolution 1848/49 und die Festigung der preußischen Hohenzollern-Monarchie wie der österreichischen Habsburgermonarchie separierten die deutsche Bevölkerung Österreichs von der sich rasant entwickelnden deutschen Nation. Mit seiner Einschätzung der historischen Langzeitfolgen des überholten politischen Systems und mit seiner Betonung der gestaltenden ökonomischen Geschichtskräfte geriet A. R. in Widerspruch zu Srbiks Interpretation der Metternichschen Ära. Srbik kommentiert in dem in der Nationalbibliothek überlieferten Typoskript von A. R. eigenhändig: „Wenn Sie schon polemisieren, dann bitte ehrlich! Srbik“. Es spricht für Srbik, dass er A. R. keine Steine in den Weg legte, was mit dem universitätsinternen antisemitischen Netzwerk „Bärenhöhle“ möglich gewesen wäre.77 Nach Approbation seiner Dissertation bereitete sich A. R. auf die Ablegung der strengen Prüfungen vor und promovierte am 23. Mai 1928 zum Dr. phil. Die Drucklegung seiner Doktorarbeit unterblieb, doch findet sie sich im 1954 (!) erschienenen dritten Srbikschen Metternich-Band annotiert.78

      Gutachten von Alphons Dopsch und Heinrich Srbik über die Doktorarbeit von Arnold Reisberg (1927)

      Die vorgelegte Arbeit hat außer der gedruckten Literatur, über welche das Verzeichnis am Schlusse (S. 177 ff u. bes. 188 f) Aufschluß gibt, archivalische Quellen der Wiener Staatsarchive verwertet. Sie gibt eine übersichtliche Darstellung der Bestrebungen Österreichs, den wirtschaftlichen Anschluß an Deutschland, will damals sagen den deutschen Zollverein, zu gewinnen. Das Scheitern dieser Versuche, für welche mit der Krise des Zollvereines Anfangs der 40er Jahre, zunächst günstige Vorbedingungen auftraten, wird wohl zu einseitig beurteilt (vgl. S. 53) u. dabei zu wenig auf die politischen u. verfassungsrechtlichen Auswirkungen Rücksicht genommen. Die zweite Phase stellen die Wirtschafts-Verhandlungen mit Preußen nach der Einverleibung Krakaus in die Habsburgische Monarchie (S. 55 ff) dar.

      Als Kernpunkt der Arbeit kann die Geschichte der Gründung des deutschen Postvereines bezeichnet werden (S. 72 ff), welche durch Österreich angeregt worden ist u. bisher keine entsprechende Behandlung gefunden hat, obwohl derselbe als Vorläufer des Weltpostvereines zu betrachten ist.

      Der Verf. hätte vielleicht an verschiedenen Stellen etwas mehr Zurückhaltung in der Äußerung subjektiver Urteile beobachten sollen, da dies die persönliche politische Einstellung zu deutlich erkennen läßt. Im ganzen bekundet er aber eine zureichende Vertrautheit mit den Grundsätzen historischer Methodik u. hat es auch verstanden, das vielfach spröde Quellenmaterial zu einer lesbaren Darstellung