anderes. Und er fragte sich, ob er ihr das geben konnte, geben durfte. Würde sie ihm erlauben, ihr aus der schweren seelischen Krise zu helfen, in die sie das Unglück an Kai Wagners Seite gestürzt hatte?
Lange hatte Simon gezögert. Als er nun noch am späten Abend über Akten in seiner Kanzlei saß, empfand er unvermittelt den Wunsch, zu Lisa zu fahren, mit ihr zu reden. Er fragte sich, ob es nicht schon zu spät war, doch ein innerer Drang hatte von ihm Besitz ergriffen, der sich nicht erklären und auch nicht unterdrücken ließ. Er musste einfach zu ihr, sie sehen.
Ohne lange darüber nachzudenken, setzte der junge Mann sich ins Auto und fuhr zu der Klinik, die gut eine Stunde entfernt war. Als er ankam, herrschte dort schon Nachtruhe. Vermutlich war die Besuchszeit längst vorbei, und man würde ihn nicht mal zu Lisa lassen. Er dachte daran, einfach umzukehren, als er etwas sah. Eine schmale Person in einem schwarzen Mantel, die wie ein Schatten aus dem Gebäude huschte und im dunklen Klinikpark verschwand. Obwohl Simon sie auf diese Entfernung und bei der Dunkelheit nicht erkennen konnte, war er doch überzeugt, dass es sich um Lisa handelte. In seinem Kopf begannen alle Alarmglocken zu schrillen. Da stimmte etwas nicht!
Der junge Anwalt griff ins Handschuhfach, nahm eine Taschenlampe heraus und verließ rasch seinen Wagen. Dann folgte er Lisa, die bereits verschwunden war.
Die Nacht war empfindlich kalt, am klaren, samtdunklen Himmel flimmerten unendlich viele Sterne, der zunehmende Mond schickte sein silbernes Licht zur Erde und schälte die Umrisse der Parkbäume schemenhaft aus der Dunkelheit. Simon folgte dem kiesbestreuten Weg, der zu einem großen Weiher führte. Glatt wie ein Spiegel lag die Wasserfläche vor ihm, spiegelte den Mond und die Sterne und wirkte wie verwunschen. Der junge Anwalt schaute sich suchend um. Wo war Lisa? Hatte er sich getäuscht? War das, was er gesehen hatte, vielleicht nur eine Schwester auf dem Heimweg gewesen? Es war völlig still, kein Geräusch drang an sein Ohr. Niemand war hier. Er musste sich getäuscht haben.
Simon drehte sich um und wollte zu seinem Wagen zurückkehren, als er leise Schritte hörte. Sie waren ganz in seiner Nähe aufgeklungen und dann wieder verstummt. Er lauschte, ließ den Strahl der Taschenlampe wandern. Dann sah er Lisa. Sie saß auf einer Bank am Ufer des Weihers und starrte mit blassem Gesicht auf das Wasser. Reglos saß sie da, fast wie eine Figur.
Der junge Mann steuerte auf sie zu. Die letzten Meter legte er nur zögernd zurück. Lisa schien in tiefe Gedanken versunken. Er wollte sie nicht erschrecken. Vorsichtig leuchtete er in ihre Richtung. Und dann sah er, dass sie etwas in der Hand hielt. Es sah aus wie ein Tablettenröhrchen …
Die junge Frau zuckte erschrocken zusammen, fuhr hoch und ließ das Medikament, das sie festgehalten hatte, fallen.
Simon machte eine beschwichtigende Geste und sagte: »Keine Angst, Lisa, ich bin es. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«
»Simon?« Sie blinzelte ungläubig. »Was tust du mitten in der Nacht hier?«
»Wie gesagt, ich habe mir Sorgen gemacht.« Er bückte sich und hob das Medikament auf, das sich bei näherem Hinsehen als Schlafmittel entpuppte.
Ohne zu zögern ließ er es in seiner Manteltasche verschwinden. Lisa hatte es gar nicht bemerkt.
»Ich wollte nur etwas frische Luft schnappen«, behauptete sie wenig glaubwürdig. »Ich konnte nicht schlafen.«
»Wollen wir ein bisschen spazieren gehen?«
Sie zögerte, ahnte aber, dass sie ihn nicht so schnell wieder los werden würde, deshalb stimmte sie zu. Eine Weile liefen sie durch den Park, schließlich blieb Lisa stehen und stellte klar: »Ich wäre jetzt lieber allein, Simon. Sei mir nicht böse.«
»Und wenn doch?«
»Was … meinst du? Ich verstehe nicht …«
»Komm einmal mit.« Er fasste ihre Hand und zog sie hinter sich her zu seinem Wagen. »Steig ein.«
»Ich wüsste nicht …«
Er deutete auf die Klinik. »Wir können uns auch drinnen unterhalten, wenn dir das lieber ist.«
Widerwillig stieg sie auf den Beifahrersitz. Simon musterte sie aufmerksam. »Was ist los mit dir, Lisa? Warum tust du das, was nötig ist, nicht?«
Sie schwieg sich aus und schaute ihn auch nicht an.
Er seufzte, nahm die Tabletten und drückte sie ihr in die Hand. »Das habe ich damit nicht gemeint.«
Kurz blitzte es böse in ihren Augen auf. »Wie kommst du dazu …«
»Nun hör mir mal zu. Ich bin nicht vom Mond gefallen. Ich weiß, was du durchgemacht hast. Es ist unmöglich, so etwas einfach wegzustecken und weiterzumachen wie bisher. Du hast deine Rippen heilen lassen. Warum gestattest du das deiner Seele nicht? Soll es denn so weitergehen?«
Sie betrachtete die Tabletten und murmelte: »Nein.«
»Aber das ist keine Lösung. Willst du Torben ganz allein lassen? Hat er nicht schon genug gelitten?«
»Und was ist mit mir?«, brach es da aus ihr heraus. Sie starrte ihn an, wütend und verzweifelt. Und dann geschah etwas, womit sie gar nicht mehr gerechnet hatte, sie fing an zu weinen. »Ich ertrage es nicht mehr, jede Nacht diese Träume. Kai ist tot, aber in meinen Träumen lebt er. Er verfolgt mich, alles ist wie immer, nur noch schlimmer. Es wird niemals aufhören, niemals!«, schluchzte sie verzweifelt.
»Doch, das wird es«, widersprach Simon ihr geduldig. »Du musst es nur zulassen.«
»Aber wie? Wie denn?«
»Du brauchst eine Therapie. Dr. Norden hat schon so etwas angedeutet. Mark wollte dich damit nicht belasten, als es dir körperlich noch so schlecht gegangen ist. Aber jetzt musst du selbst es doch spüren. Es geht so nicht. Du brauchst Hilfe!«
»Ich habe Angst.« Lisa wimmerte leise. »Ich habe solche Angst. Ich kann das alles nicht noch einmal durchmachen, das ertrage ich einfach nicht.«
»Es ist der einzige Weg. Nur wenn du ihn gehst, wirst du irgendwann frei sein. Möchtest du denn nicht wieder glücklich sein, dein Leben genießen, Torben eine gute Mutter sein, so wie früher? Es gibt so vieles, für das es sich lohnt zu leben.«
»Oh, Simon, ich wünschte, ich könnte dir glauben. Aber ich schaffe es nicht mehr. Ich habe nur noch Angst. Ich bin nicht die Frau, die du vor dir siehst. Tief in mir, da sitzt ein kleines Häuflein Elend, ausgeliefert, zerfleddert, zerschunden. Und jede Nacht wird dieses Häuflein wieder zerfetzt von Hass und Wut und Gemeinheit. So lange, bis nichts mehr von ihm übrig ist. Ich wünsche mir nur, dass das endlich aufhört.«
»Du warst sehr tapfer, die ganze Zeit. Aber jetzt solltest du deinen Schutzpanzer ablegen, Lisa. Du musst all das Böse, das dir angetan wurde, hinter dir lassen. Lass mich dir dabei helfen. Mark ist auch noch da. Und Torben. Der Kleine hat einen starken Willen. Da sind viele Hände, die dich halten können. Du musst ihnen nur trauen. Willst du es versuchen?«
»Ich kann nicht.«
»Dann soll Kai Wagner am Ende über dich siegen? Willst du das, Lisa? Soll es wirklich so enden?«
Sie schaute ihn aus tränennassen Augen fragend an. »Was kümmert es dich, Simon? Was geht dich das alles an?«
»Ich möchte dir helfen, Lisa. Wenn du mich lässt.«
Sie schwieg eine ganze Weile, schließlich gab sie ihm die Tabletten und bat: »Besuch mich in den nächsten Tagen. Es gibt hier einen Therapeuten, mit dem ich bis jetzt nicht reden wollte. Ich werde wohl doch mal einen Versuch wagen und lege Wert auf deine Meinung.«
Er lächelte ihr jungenhaft zu und versprach: »Ich werde da sein. Soll ich Mark und Torben mitbringen?«
Lisa nickte, dann lächelte sie ebenfalls, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und stieg ohne ein weiteres Wort aus. Simon wartete, bis sie in der Klinik verschwunden war. Er ließ sie ungern gehen, aber er hatte nun keine Angst mehr um sie.
Sein Instinkt sagte ihm, dass er etwas erreicht hatte. Der erste Schritt in die richtige Richtung war getan. Auch wenn noch ein