Helen Perkins

Chefarzt Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman


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eine der schmalen, gelben Blüten und überreichte sie seiner Begleiterin.

      »Hamamelis, sehr gut für eine zarte Haut. Und der Duft … hm!« Dr. Gruber lächelte versonnen. »Während meines Studiums habe ich mich mit Naturheilkunde beschäftigt. Das ist immer noch mein Steckenpferd.«

      »Als Neuropsychologin?«

      »Das eine muss das andere nicht ausschließen. Die Grundlagen aller heute bekannten medizinischen Wirkstoffe sind Pflanzen. Im Grunde genommen kommt all das aus der Natur.«

      »Auch wieder wahr. Setzen wir uns einen Moment?«

      »Ach ja, unsere Brotzeit.« Sie reichte ihm eine Semmel.

      »Machen Sie das öfter? Picknick mit einem Patienten?«

      Dr. Gruber lachte. »Um Himmels willen, nein!«

      »Aber bei mir machen Sie eine Ausnahme. Und wenn ich mir nun etwas darauf einbilde?« Er betrachtete verliebt ihr ebenmäßiges Profil. »Wären Sie mir dann böse?«

      »Mark, ich …« Sie biss sich auf die Lippen, als ihr bewusst wurde, dass sie ihn beim Vornamen genannt hatte. Da legte er ganz behutsam seine Rechte auf ihre, drückte sie sacht und gab zu: »Ich habe bis jetzt nicht an das Schicksal oder die Vorsehung geglaubt. Aber mittlerweile bin ich fest davon überzeugt, dass ich nur aus einem Grund in diese Klinik gekommen bin. Nämlich um Ihnen zu begegnen, Amelie.«

      »Das wäre aber eine schmerzhafte Art und Weise, jemandem kennenzulernen«, scherzte sie spröde.

      »Nicht jemanden, Sie. Den einen Menschen für mich.« Er lächelte in ihr erschrockenes Gesicht. »Keine Sorge, ich falle jetzt nicht vor Ihnen auf die Knie, dazu bin ich noch nicht wirklich in der Verfassung. Aber ich werde Ihnen bald eine Frage stellen, die für uns beide sehr wichtig ist. Bereiten Sie sich schon mal seelisch und moralisch darauf vor.«

      »Das klingt bedrohlich.«

      Mark lachte. »Nur für Ihre Freiheit …«

      Eine Weile später kehrten die beiden auf die Innere zurück. Sie unterhielten sich leise und bemerkten nicht, dass ihnen Dr. Kreisler entgegenkam. Die junge Psychologin hatte an jeder Hand drei Kinder, sie unternahm mal wieder einen ihrer speziellen Rundgänge für kleine Patienten, die wenig Besuch bekamen und sich einsam fühlten. Auch Torben Wagner ging neben ihr her.

      Dr. Gruber nickte der Kollegin zu, Mark hob den Blick und schaute dann auf die Kinder, die die ungewöhnliche Erscheinung im Ärztekittel umschwirrten wie kleine Schmetterlinge. Im nächsten Moment hatte der junge Ingenieur das Gefühl, einen Schlag in die Magengrube erhalten zu haben. Ihm blieb einfach die Luft weg, als er in ein Paar großer, grauer Augen schaute, die ihn ebenso ungläubig anstarrten. Mark blieb abrupt stehen, Torben riss sich von Dr. Kreisler los und stürmte auf ihn zu. Automatisch ging er in die Knie und öffnete die Arme. Und dann hörte er den Jungen rufen: »Onkel Mark, Onkel Mark, warum hast du uns nicht abgeholt? Wir haben so gewartet …« Er flog dem jungen Mann um den Hals, warf ihn mit seinem Schwung um.

      Erschrocken starrte Torben auf seinen Onkel, der nun reglos vor ihm auf dem Boden lag. »Onkel Mark, was hast du denn? Sag doch was! Bist du krank? Bitte …«

      Dr. Gruber kümmerte sich um ihren Patienten. Wie es schien, hatte die Begegnung mit dem kleinen Jungen endlich die letzte Blockade in Mark Hansens Gedächtnis gelöst. Und zwar so plötzlich und unerwartet, dass ihn dies im wahrsten Sinne des Wortes umgehauen hatte.

      »Es geht ihm gut, keine Sorge«, sagte sie zu Torben, in dessen Augen sich Tränen gesammelt hatten. »Du kannst gleich mit ihm reden. Sagst du mir, wie du heißt?«

      Der Bub blickte noch immer auf den Bewusstlosen, als er leise erwiderte: »Torben Wagner.«

      *

      Verwirrt öffnete Mark Hansen die Augen und blickte in das vertraute Gesicht von Dr. Gruber. »War das eben ein Traum?«

      Die junge Ärztin schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, war es nicht. Und ich gebe zu, dass Sie recht hatten, Mark. Diese Sache mit der Vorsehung, dem Schicksal, die scheint tatsächlich zuzutreffen. Erstaunlich, aber wahr.«

      Der junge Mann setzte sich in seinem Krankenbett auf. »Was wollen Sie mir damit sagen? Dass ich eben tatsächlich meinem Neffen begegnet bin?«

      »Genau das. Torben wollte sie unbedingt hierher begleiten. Er ließ sich das einfach nicht ausreden. Nun wartet er draußen.«

      »Mein Neffe …«

      Er bedachte Amelie Gruber mit einem verwirrten Blick.

      »Was ist passiert? Ist der Junge krank?«

      »Seine Mutter hatte einen Unfall. Er ist der einzige Augenzeuge und hat geschwiegen. Ein schwerer Schock. Erst das Wiedersehen mit Ihnen hat das Trauma gelöst. Nun redet der Junge sozusagen wie ein Buch. Und was er zu berichten hat, ist sehr, sehr schlimm.«

      »Ich muss mit ihm sprechen, bitte…«

      »Einen Moment. Sagen Sie mir zuerst, woran Sie sich erinnern.«

      Er dachte kurz nach, sagte dann: »Ich bin nach München gekommen, um Lisa und den Jungen abzuholen. Sie hat ihren Mann verlassen, weil er sie immer wieder misshandelt hat. Diese Ehe war die Hölle für meine Schwester. Wir hatten verabredet, uns in der Pension Mecking am Stachus zu treffen. Als ich nach München kam, das war schon am späten Abend, haben mich drei Kerle überfallen.«

      »Sie erinnern sich also auch wieder an den Überfall?«

      Er nickte langsam. »Ja, diese Visagen, die werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Ich erinnere mich jetzt wieder an alles. Was ist mit Lisa? Wie geht es ihr?«

      »Ihre Schwester ist in der Pension Mecking eine Treppe herunter gefallen. Sie hat sich mehrere Rippen gebrochen und liegt noch auf der Intensivstation.«

      »O Gott. Kai …«

      »Torben sagt, dass Ihr Schwager schuld sei. Wie es aussieht, gab es einen Streit und Handgreiflichkeiten. Die Polizei ist schon informiert. Sie werden Ihren Schwager vernehmen.«

      »Es ist meine Schuld.« Mark sackte richtig in sich zusammen, denn nun wurde ihm bewusst, wieso er die ganze Zeit das Gefühl gehabt hatte, etwas Wichtiges zu verpassen und jemanden im Stich zu lassen. »Ich habe sie im Stich gelassen. Kai hat sie gefunden und … Das hätte nicht passieren dürfen.«

      »Es ist nicht Ihre Schuld, Mark. Sie sind überfallen wollen«, erinnerte Amelie ihn geduldig.

      »Lisa hat sich auf mich verlassen, und ich habe sie im Stich gelassen. Das kann ich mir nicht verzeihen.« Er seufzte schwer. »Ich möchte zu meiner Schwester. Geht das?«

      »Ja, natürlich. Ich begleite Sie.«

      Er warf ihr einen dankbaren Blick zu. Torben stürmte auf seinen Onkel zu, als dieser erschien. Mark nahm ihn auf den Arm, drückte ihn und sagte leise: »Jetzt wird alles gut, ich verspreche es dir.«

      »Ja, ich weiß, Onkel Mark. Die Mama hat gesagt, dass du uns hilfst. Sie hat so auf dich gewartet …«

      Der junge Mann strich Torben sacht über den Rücken, dabei machte er ein sehr unglückliches Gesicht. Die Befreiung, sein Gedächtnis wieder zu haben, wog das Gefühl der Schuld und Unzulänglichkeit bei Weitem nicht auf. Er fühlte sich einfach nur mies. Und dieses Empfinden steigerte sich noch, als er am Bett seiner Schwester stand. Umgeben von unzähligen Schläuchen, Kabeln und Geräten lag Lisa wie leblos da, nur ein Schatten ihrer selbst. Vorsichtig nahm Mark ihre Hand und blieb dann lange bei ihr sitzen.

      Dr. Gruber hatte in der Zwischenzeit mit den Nordens Rücksprache gehalten und auch dafür gesorgt, dass Mark so lange bei seiner Schwester bleiben konnte, wie er wollte.

      Am späten Nachmittag erschien Kommissar Müller in Begleitung eines Kollegen, der die Phantombilder der drei Räuber anfertigen sollte. Mark machte nun eine detaillierte Aussage und erzählte dem Polizisten auch alles, was er über die Vorgänge in der Pension Mecking von Torben wusste, um dem Buben eine Vernehmung zu ersparen. Der Kommissar zeigte sich kooperativ.

      »Wir