Ich habe Dr. Fee Norden noch nicht erreichen können. Sie wird sich um den Kleinen kümmern wollen.«
Die Frau des Chefarztes war zugleich Leiterin der Pädiatrie in der Behnisch-Klinik. Und sie war eine ausgezeichnete Kinderpsychologin, genau das, was nun benötigt wurde, um Zugang zu Torben Wagner zu finden. Seit dem Unfall seiner Mutter hatte er kein Wort gesprochen. Dabei war er der einzige Augenzeuge.
Schwester Anna warf einen Blick in den Wartebereich, der sehr hell und nüchtern gehalten war. Die Menschen, die hier auf Nachricht aus den Behandlungszimmern warteten, brauchten kein gedimmtes Licht oder Grünpflanzen. Das Einzige, was jeder, der hier schon einmal Minuten als Stunden empfunden hatte, brauchte, war eine gute Nachricht.
Der kleine Torben saß wie verloren in einem Stuhl, ließ die Beine baumeln und den Kopf hängen. Dieser Anblick rührte Anna ans Herz. Sie besorgte einen Becher Kakao und setzte sich dann zu Torben, bis Fee Norden erschien. Es dauerte eine Weile, Anna bemühte sich, den Buben ein wenig zu trösten, doch er reagierte nicht. Der Kakao kühlte langsam ab.
Dr. Fee Norden war eine attraktive, schlanke Ärztin mit blonden Locken und erstaunlich blauen Augen. Sie fand stets intuitiven Zugang zu ihren kleinen Patienten, was wohl auch an ihrer sehr mütterlichen Art lag. Immerhin hatte sie selbst fünf Kindern das Leben geschenkt und aus allen das gemacht, was ihr Mann auf seine etwas trockene Art als ›vernünftige Erwachsene‹ bezeichnete.
Der kleine Torben hob den Blick, als sie ihm sacht übers Haar strich und leise sagte: »Deiner Mama wird geholfen, schon bald darfst du sie besuchen. Bis dahin werde ich mich ein bisschen um dich kümmern. Ich heiße Fee.« Sie streckte ihm die Hand hin. »Magst du mit in mein Büro kommen? Da ist es gemütlicher.«
Noch immer schwieg Torben, doch nach kurzer Bedenkzeit schob er seine kleine Rechte in die der Ärztin und trottete dann tapfer neben ihr her.
Schwester Anna schaute Fee Norden bewundernd nach. Sie schaffte es immer wieder, Zugang zu den verstörtesten kleinen Seelen zu finden. Das grenzte schon an Zauberei …
Während Fee Norden sich um Torben kümmerte, wurde Lisa mehrere Stunden lang operiert. Dr. Christina Rohde musste nicht nur zwei Rippen der Verletzten richten und neu fixieren, es galt auch, eine ganze Menge Knochensplitter sauber zu entfernen, die zum Teil in das seitliche Lungengewebe eingedrungen waren. Es war das, was Dr. Berger als ›Fizzelarbeit‹ bezeichnete. Eine wahre Sisyphusaufgabe, die Dr. Rohde alles abverlangte. Über einen so langen Zeitraum ein Höchstmaß an Konzentration zu halten, war alles andere als einfach und nötigte ihrem OP-Team Hochachtung ab. Als es geschafft war, wurde Lisa Wagner auf die Intensiv verlegt, denn ihr Zustand war nicht wirklich stabil.
Dr. Norden schaute nach der neuen Patientin und unterhielt sich bei einem starken Kaffee eine Weile mit Dr. Rohde. Dann wechselte er auf die Pädiatrie, um seiner Frau einen Besuch abzustatten. Fee war froh, ihren Mann zu sehen.
»Was ist eigentlich los in dieser Stadt?«, seufzte sie mit einem Blick auf Torben, der im Nebenraum ihres Büros erschöpft eingeschlafen war. »Wie oft werden bei uns Verbrechensopfer eingeliefert? Ein, vielleicht zweimal im Monat, wenn überhaupt. Und nun gleich zwei. Zuerst dieser Ingenieur mit der Amnesie, nun die junge Frau, deren Kind durch einen Schock verstummt ist. Da liegt es doch nahe anzunehmen, dass er etwas Schlimmes gesehen hat. Nicht nur, wie seine Mutter einen Unfall hatte.«
»Ich kann dir nicht widersprechen, Liebes«, gestand Daniel ihr zu. »Und ich mag es, ehrlich gesagt, nicht, wenn die Polizei ständig hier aufkreuzt. Zumal es da seltsame Parallelen gibt.«
»Was meinst du, Dan?«
»In beiden Fällen gibt es keine Zeugen. Es heißt, Frau Wagner sei in einer Pension am Stachus eine Treppe herunter gefallen. Aber sie war nicht betrunken, stand nicht unter Drogen. Und ihr Sohn, der alles gesehen hat, steht unter Schock. Ich bin da, ehrlich gesagt, auch ratlos.«
»Frau Wagner wird sich erinnern, oder?« Fee bedachte ihren Mann mit einem unsicheren Blick. »Sie hat doch wohl nicht ebenfalls ihr Gedächtnis verloren?«
»Sie hat ebenfalls eine Gehirnerschütterung. Aber wir sollten positiv denken, Schatz.«
In diesem Moment hörten sie leises Reden aus dem Nebenzimmer. Fee erhob sich, drückte die Tür leise auf und lauschte. Der kleine Torben sprach im Schlaf.
»Lass meine Mama in Ruhe! Wir lassen uns scheiden«, nuschelte er. »Dann darfst du uns nie wieder hauen, nie wieder!«
Daniel Norden trat neben seine Frau, sie tauschten einen beklommenen Blick. Behutsam schloss sie die Tür und stellte fest: »Sieht mir nach einem häuslichen Drama aus. Da wartet wohl eine Menge Arbeit auf mich …«
*
Dr. Heike Kreisler arbeitete erst seit kurzem als Kinderpsychologin in der Behnisch-Klinik. Fee Norden hielt große Stücke auf die junge Kollegin, die in jedem Fall einen anderen Zugang zu dem kleinen Patienten wählte und unkonventionell arbeitete. Sie schreckte nicht davor zurück, mit einem Kind durch Pfützen zu springen oder sich als Ronald MacDonald zu verkleiden, wenn es sie weiterbrachte. Als die schlanke, junge Frau mit den brandroten Zöpfen und dem aparten Piercing in der rechten Augenbraue an diesem Morgen Fees Büro betrat, erinnerte Heike sie mal wieder ein wenig an Pipi Langstrumpf. Sie brachte wirklich Farbe in den Klinikalltag. Das war zunächst auch für Fee Norden gewöhnungsbedürftig gewesen. Doch mittlerweile mochte sie Heike und schätzte ihre fachliche Kompetenz.
»Morgen, Chefin, was liegt an?«, fragte sie locker.
»Ein neuer Fall, bei dem ich allein nicht weiterkomme.« Sie reichte der jungen Kollegin die Krankenakte, die diese eine Weile konzentriert studierte. »Der Junge verweigert sich völlig. Er schweigt, seit er mit ansehen musste, was seiner Mutter zugestoßen ist. Was immer es auch gewesen sein mag.«
»Das sollten wir herausfinden.«
Fee stimmte zu. »Machen Sie sich mit Torben bekannt, ich warte erst mal ab, wie es zwischen Ihnen beiden läuft.«
Dr. Kreisler nickte und erhob sich. »Okay.«
Torben hockte im Nebenzimmer auf der Couch und starrte trübsinnig vor sich hin, als Heike Kreisler hereinkam. Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich mit etwas Abstand zu dem Jungen hin. Zunächst wartete sie ab, ob vielleicht von ihm etwas kam. Und da sie sehr geduldig war, dauerte dies eine Weile.
Ihr Handy meldete sich. Sie hatte mal wieder vergessen, es auszuschalten. Eigentlich konnte sie es nicht leiden, bei der Arbeit unterbrochen zu werden, doch nun nahm sie den Anruf entgegen, denn er kam von ihrem Freund. Jo Braun arbeitete als Pfleger in einem Heim für Schwerstbehinderte.
Heike liebte ihren ›Bären‹, wie sie ihn nannte, denn der Hüne hatte das sanfte Gemüt eines Lammes und schaffte es sogar, in den billigen Plastikkästen an Heikes Balkon schmackhaftes Gemüse zu ziehen. Was er mit seinen großen Händen anpackte, schien zu neuen Leben zu erwachen, wie kaputt oder traurig es vorher auch gewesen sein mochte.
»Süße, ich muss heute Überstunden machen, zwei Kollegen sind krank«, ließ er sie wissen. »Sei mir nicht böse.«
»Ist schon okay.«
»Echt?«, wunderte er sich. »Wir wollten doch heute Abend zusammen ins Kino. Schon vergessen?«
»Ist nicht so wichtig. Ich hab einen schwierigen Fall.« Sie erzählte ihm knapp, worum es ging. Jo überlegte kurz, dann riet er ihr: »Erzähl ihm doch was von Waldo. Das wird ihn bestimmt ablenken. Und dann kriegst du vielleicht Zugang zu ihm.«
Heike grinste. Waldo! Natürlich. Seit sie sich kannten, spannen sie in jeder freien Minute die Geschichte von der gefleckten Ratte weiter, die sich allein durchschlagen musste, weil sie anders war als die anderen. Heike hatte schon öfter daran gedacht, ein Kinderbuch daraus zu machen. Hätte sie nur etwas mehr Zeit dafür … Aber in der jetzigen Situation war Waldo eine richtig gute Idee.
»Du bist ein Schatz, ich hab dich lieb«, sagte sie und legte das Handy weg. Torben hatte bis jetzt keine Reaktion gezeigt. Also setzte Heike sich nun zu ihm auf die Couch und begann, ihm die ›Waldo-Saga‹ zu erzählen. Auch wenn der Junge nicht direkt reagierte,