Helen Perkins

Chefarzt Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman


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wirklichen Sinn.

      Als der Chefarzt der Behnisch-Klinik eine ganze Weile später in sein Büro zurückkehrte, warteten dort zwei Besucher auf ihn. Katja Baumann, Dr. Nordens Assistentin, hatte sie bereits mit Kaffee versorgt und sagte nun halblaut zu ihrem Chef: »Kripo. Es geht um den Mann, der letzte Nacht im Hauptbahnhof ausgeraubt worden ist.«

      Dr. Norden nickte, wandte sich an die Besucher und drückte beiden die Hand. »Kommen Sie in mein Büro.«

      »Kommissar Müller, das ist mein Kollege Schindler«, stellte der untersetzte Mann in Jeans und Lederjacke sich vor.

      »Setzen Sie sich«, bat Dr. Norden.

      Der Jüngere der beiden, ein sportlicher Typ mit dichtem, blondem Haar und Sommersprossen, hatte seinen Kaffee mitgebracht und suchte nun nach einer Möglichkeit, die Tasse abzustellen. Etwas verschämt schob er sie auf die äußerste Kante von Dr. Nordens Schreibtisch, der wissen wollte: »Was kann ich für Sie tun, meine Herren?«

      »Wir haben keine Anhaltspunkte, was den Überfall angeht«, gab Kommissar Müller zu. »Der Geschädigte hatte keine Papiere mehr, nichts, was auf seine Identität schließen lässt. Die Überwachungsbänder aus dem Bahnhofsgebäude bringen uns da auch nicht weiter. Können Sie uns sagen, wie sein Zustand ist, Herr Doktor? Eventuell, wann wir mit ihm reden dürfen?«

      »Er liegt auf der Intensivstation und ist noch ohne Bewusstsein. Ich kann leider keine Prognose abgeben. Es tut mir leid, aber momentan kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.«

      Die Polizisten wechselten einen betretenen Blick, dann erhob der Kommissar sich und bat: »Geben Sie uns Bescheid, wenn der Mann vernehmungsfähig ist. Auf dem Video sind die Angreifer nicht zu identifizieren. Wir sind auf seine Aussage angewiesen, er hat sie ja vermutlich genau gesehen.«

      »Es waren demnach mehrere?«

      »Ja, drei, wie es aussieht, junge Kerle. Sie sind sehr brutal vorgegangen, wir schätzen, dass sie der Drogenszene zuzurechnen sind. Je eher wir sie festnehmen können, umso besser. Solche Typen leben von Beschaffungskriminalität. Es wird vermutlich nicht lange dauern, bis sie wieder zuschlagen.«

      »Ich melde mich bei Ihnen«, versprach Dr. Norden, dann verabschiedeten die Polizisten sich.

      Katja Baumann brachte frischen Kaffee und die Post. »Schlimm, nicht wahr? Manchmal kommt es mir so vor, als ob man nirgends mehr seines Lebens sicher wäre.«

      Daniel Norden seufzte. Er warf einen Blick auf das Foto seiner Zwillinge, das neben dem seiner Frau Fee auf seinem Schreibtisch stand. Sie waren eben neunzehn geworden, wohl geratene Abiturienten mit vielerlei Plänen und Ideen im Kopf. Mit ein bisschen weniger Glück hätte alles auch ganz anders sein können. Er dankte dem Schicksal im Stillen, dass es nicht so war. »Es ist nicht schlecht, wenn man ab und zu an die harte Realität erinnert wird«, sinnierte er, während er die Post überflog. »Es gibt einfach zu viele soziale Schieflagen in unserer Gesellschaft. Ein Grund mehr, nicht nur die medizinischen Aspekte eines solchen Falles zu sehen.«

      *

      »Wo ist meine Frau?« Kai Wagner stand in der offenen Tür zur Küche, wo Elfriede Kramer gerade damit beschäftigt war, sein Frühstück zu richten. Die Haushälterin warf ihm einen kurzen Blick zu und fand ihre Vermutung bestätigt. Sie schob das Tablett mit dem Frühstück beiseite und nahm eine Packung Aspirin aus einem der Hängeschränke. Der Unternehmer war weiß wie die Wand, er hatte es am gestrigen Abend wieder einmal übertrieben.

      Seit er mit Lisa verheiratet war, hatte er sich seltener solche intensiven Absacker gegönnt. Früher war das häufig vorgekommen. Kein Wochenende, an dem Kai Wagner nicht zumindest einen Vollrausch gehabt hatte.

      Elfriede Kramer füllte ein Glas mit Wasser und stellte es auf den Küchentisch. Daneben legte sie die Tabletten. »Sie sollten wieder ins Bett gehen«, riet sie ihm mit ruhiger Stimme. »Sie sehen aus wie der Tod.«

      »Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Ich bin nicht blind, ich weiß, was los ist. Lisa hat ihre Sachen und den Jungen mitgenommen. Wo ist sie?«

      »Ich weiß es nicht, sie hat es mir nicht gesagt.«

      »Das glauben Sie doch selbst nicht.« Er warf drei Tabletten ein und spülte sie mit dem Glas Wasser herunter. »Bei dem ewigen Getue zwischen Ihnen soll Lisa Sie nicht eingeweiht haben?«

      »Ich weiß nur, dass sie sehr unglücklich gewesen ist und weg wollte.« Die Haushälterin schnaubte verächtlich. »Was nicht schwer zu verstehen ist, nicht wahr? Welche Frau läuft schon gerne mit einem Veilchen herum? Nicht sehr schmeichelnd.«

      »Lassen Sie das dumme Gerede. Sie wissen genau, dass Lisa es verdient hatte. Es war ihre eigene Schuld. Sie hätte mich nicht provozieren sollen.«

      »Sie hatte keine Chance, es nicht zu tun.«

      Kai bekam schmale Augen. Er rieb sich über das bartstopplige Kinn und bellte: »Schluss mit dem Unsinn! Ich will auf der Stelle wissen, wo meine Frau ist. Machen Sie den Mund auf, oder aber Sie werden es bereuen, Kramerin! Sie wissen ganz genau, dass ich in der Beziehung keinen Spaß verstehe!«

      »Ich auch nicht.« Als der Unternehmer einen Schritt auf sie zu machte, schloss sich ihre Rechte um den Griff der schweren Pfanne aus Gusseisen, die sie vorsorglich parat gelegt hatte. »Ich warne Sie, das könnte schmerzhaft werden …«

      Kai Wagner starrte sie einen Moment lang mit einer Mischung aus Verblüffung und Wut an, die aber allmählich verrauchte. Schließlich ließ er sich schwer auf einen der Küchenstühle fallen, fuhr sich durchs Haar und brummte: »Ich liebe Lisa, ich will sie nicht verlieren.«

      »Damit kommen Sie bei mir auch nicht weiter. Ich weiß nicht, wohin sie wollte. Ich weiß nur eins: Ganz egal, wo sie jetzt ist, es geht ihr besser als bei Ihnen.«

      »Verdammt!« Er schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte, dass es knallte.

      »Nehmen Sie sich mal zusammen, Herr Wagner, sonst sind Sie mich auch los«, mahnte sie streng, stellte die Pfanne fort und trat neben den Tisch. »Wie sehr Sie Ihrem Vater ähneln, es ist manchmal wirklich zum Erschrecken.«

      Er blickte zu ihr auf, etwas wie Reue spiegelte sich in seinen Augen. Und – Elfriede meinte, sich zu täuschen – Scham.

      »Ich habe ihn gehasst. Ich bin froh, dass er tot ist.«

      »Das meinen Sie ja nicht im Ernst.«

      »Was soll ich jetzt tun? Ich kann ohne Lisa nicht leben.«

      »Das hätten Sie sich früher überlegen müssen«, ließ sie ihn lapidar wissen, drehte sich um und nahm das Tablett mit dem Frühstück. »Jetzt ist es zu spät.«

      Während Elfriede Kramer den Tisch im Esszimmer für eine Person deckte und dabei sehr hoffte, dass es noch lange so bleiben würde, telefonierte Kai Wagner mit einem Bekannten. Sein Name war Thilo Groß, er betrieb eine große Detektei in München. Es war nicht das erste Mal, dass Kai sich an ihn wandte, der Detektiv wusste gleich Bescheid.

      »Wie ist ihr Name und der des Jungen?«, fragte er knapp.

      »Lisa. Ihr Sohn ist sieben und heißt Torben.« Er beschrieb die beiden bis ins Detail, während Thilo Groß sich Notizen machte.

      »Wann sind sie verschwunden?«

      »Gestern Abend, die genaue Uhrzeit kann ich dir nicht sagen, ich war nicht zu Hause.«

      »Kein Anhaltspunkt, wohin oder zu wem sie wollte? Hat sie Freunde, gute Bekannte, Verwandte in der Stadt?«

      »Nur einen Bruder, der lebt in Ulm.«

      »Gut, ich mache mich gleich dran und melde mich, sobald ich sie gefunden habe.«

      »Danke, Thilo. Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.« Kai Wagner beendete das Gespräch ein wenig erleichtert, auch wenn die Unsicherheit noch immer sein Denken bestimmte. Was, wenn Lisa ihre Flucht diesmal besser geplant hatte als bei den letzten Versuchen, was, wenn sie entkam?

      Nein, das durfte nicht geschehen! Das würde er nie erlauben! Thilo würde