Ein Gefühl, das er ebenso hasste wie Kai Wagner, der nur Leid und Unglück in das Leben seiner Schwester gebracht hatte. In einem Anflug von naiver Sehnsucht wünschte er sich in eine bessere Vergangenheit, in eine Zeit, als er ein Schulbub gewesen war und die kleine Schwester vor den großen Rüpeln bewahrt, sie getröstet hatte, wenn sie sich die Knie aufgeschürft hatte, als er einfach für sie da gewesen war. Ganz selbstverständlich. Niemals hätte er sich vorstellen können, dass sich daran je etwas ändern könnte. Aber die Zeit änderte so vieles, das Meiste nicht zum Guten. Wie sehr hatte er Lisa nach Rolfs frühem Tod ein neues Glück gegönnt. Doch es war gründlich schief gegangen. Und nun blieb ihm nichts, als ihr dabei zu helfen, die Scherben zusammenzufegen und einmal mehr die Reset-Taste zu drücken. Wenn es denn möglich war.
»Ich komme morgen nach München und hole euch ab«, sagte er schließlich entschlossen. »Das kann keinen Tag so weitergehen, Lisa. Ihr müsst weg von dort.«
»Ja, ich weiß. Aber so schnell geht es nicht. Ich muss das erst vorbereiten, einen sicheren Platz suchen, an dem wir uns treffen können. Heimlich ein paar Sachen packen. Und einen geeigneten Moment abwarten.«
»Also wann?«, hakte er geduldig nach.
»Sagen wir, übermorgen. Du kannst morgen schon nach München kommen, wenn du willst. Ich rufe dich an und sage dir, in welcher Pension wir uns treffen. Dort kannst du dich dann einmieten, damit alles reibungslos abläuft.«
»Das klingt wie eine Flucht aus Alcatraz.«
»Es ist nichts anderes.« Lisa seufzte schwer. »Ich habe schon so oft versucht wegzugehen. Kai hat mich immer zurückgeholt. Und danach wurde es dann schlimmer und schlimmer. Diesmal darf nichts schiefgehen, hörst du? Ich möchte mir nicht mal vorstellen, was danach kommen würde.«
»Keine Sorge, es wird alles klappen, verlass dich auf mich.«
»Ja, das tue ich doch schon immer. Eigentlich ist es mir nicht recht, dass ich dich in diese Sache hineinziehen muss. Aber ich sehe einfach keine andere Möglichkeit.«
»Darüber müssen wir nicht reden. Ich helfe dir gern. Und ich werde erst wieder ruhig schlafen können, wenn du in Sicherheit bist. Ich nehme morgen den Spätzug, dann hast du noch genügend Zeit, mich wegen der Pension anzurufen, okay?«
Lisa lächelte ein wenig, schloss kurz die Augen und murmelte: »Okay. Ich bin trotz allem froh, dass du herkommst.«
»Übermorgen um diese Zeit werden wir in meiner Wohnung Kaffee trinken und über unseren konspirativen Plan lachen.«
»Das glaube ich nicht. Ich weiß gar nicht mehr, wie das geht.«
»Du wirst es wieder lernen. Dann bis übermorgen, Lisa.«
»Ja, bis übermorgen.«
Mark lauschte noch einen Augenblick ihren letzten Worten nach, dann legte er das Telefon beiseite. Er blickte bekümmert vor sich hin, war nun bemüht, seine Gedanken ebenso zu ordnen wie eben noch seine Akten. Lisa und Torben konnten in seinem Gästezimmer wohnen, zumindest fürs Erste. Seine Wohnung war geräumig, es gab genügend Platz für sie alle. Er überlegte, ob er einen guten Scheidungsanwalt kannte, durchforstete sein Filoflex nach Adressen und wurde schließlich fündig. Der gute alte Simon Berger, ein Studienfreund von ihm. Er hatte Lisa sehr gemocht, war sogar ein wenig in sie verliebt gewesen. Er würde den Fall übernehmen, sie mit einer dicken Abfindung von dem Monster befreien und ihr vielleicht auch wieder neuen Lebensmut geben. Soviel Mark wusste, war er noch nicht verheiratet.
Der Ingenieur lächelte schmal. Schon seine Mutter hatte ihm immer vorgeworfen, ein Johnny Kontrolleti zu sein. Er plante zu sehr in die Zukunft und verlor sich manchmal in Details. Bei seinen Projekten war das nicht unbedingt ein Nachteil, im wahren Leben aber manchmal doch.
Wie auch immer, am nächsten Tag ging die Reise nach München. Mark musste noch einiges vorbereiten, schließlich sollte seine Rettungsaktion ohne Pannen über die Bühne gehen.
»Es wird schon werden«, sagte er, wie um sich selbst ein wenig aufzumuntern. Was sollte auch schief gehen? Noch ehe Kai Wagner ahnte, was los war, würden sie bereits im Zug nach Ulm sitzen.
Mark Hansen ahnte nicht, dass alles ganz anders kommen sollte.
Dr. Daniel Norden hat dem Kollegen Berger Urlaub verordnet, trotzdem taucht Erik Berger ständig in der Notaufnahme auf und nervt seine Vertretung, Dr. Christina Rohde. Da erteilt Daniel Norden ihm vorübergehend Hausverbot, womit Erik überhaupt nicht zurecht kommt. Ihm fällt zu Hause die Decke auf den Kopf … Um sich ein wenig zu zerstreuen, sucht er eines Abends ganz gegen seine Gewohnheiten einen Club auf. Da hat das Schicksal ihm einen bösen Streich gespielt, denn was ihm hier widerfährt, war weiß Gott nicht vorauszusehen. Erik gerät in Lebensgefahr und erfährt in dieser Situation etwas, was er nie erwartet hätte: dass jemand sein Leben für ihn riskiert!»Ja, das ist so okay. Der Kunde war zufrieden. Aber bei dem neuen Projekt musst du noch nacharbeiten, Silvia. Tut mir leid, das ist so noch längst nicht vorzeigbar.«
»Okay, Chef, wie du meinst. Schiebe ich eben mal wieder ein paar Überstunden«, sagte die junge Angestellte.
»Braves Mädchen.« Kai Wagner lächelte ihr charmant zu und kehrte dann in sein eigenes Büro zurück. Der große, sportliche Unternehmer mit dem dichten, dunklen Haar und den rehbraunen Augen blickte eine Weile aus der verspiegelten Stirnseite des Raums auf die abendliche Münchner City. Sein Büro wie die ganze PR-Agentur war hypermodern gestylt, sollte die Kundschaft gleich beim ersten Besuch beeindrucken und für ihn einnehmen. Er pflegte ein freundschaftliches Verhältnis zu all seinen Mitarbeitern, legte große Wert auf ein entspanntes, lockeres Betriebsklima. Der sympathische Strahlemann, den man einfach gern haben musste, das war sein sorgsam aufgebautes Image. Wie es dahinter aussah, ging keinen was an.
Ein kleines, hartes Lächeln legte sich um seine schmalen Lippen, als er an diesen Spruch dachte, den sein Vater bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit vom Stapel gelassen hatte.
»Wie’s drinnen aussieht, geht keinen was an, Jungchen.« Der begüterte Geschäftsmann mit den eisblauen Augen hatte eine Vorliebe für solche Lebensweisheiten gehabt. Besonders als krönende Belehrung nach einer unvorbereitet heftigen Ohrfeige oder einem gemeinen Schlag mit einem seiner unzähligen Spazierstöcke, die fast alle ein harter Knauf als Silber geziert hatte. Fein ziserliert, in ihrer wuchtigen Wirkung auf den blassen, ängstlichen Knaben aber nicht zu unterschätzen.
Hubert Wagner war ein passionierter Jäger gewesen, ein Weiberheld, wie er das gerne selbstgefällig ausgedrückt hatte. Und das Hascherl mit dem schönen Erbe, Kais Mutter, hatte nie den Mund aufgetan und die veilchenblauen Augen vor jedem Schlag verschlossen, ob dieser nun auf den Sohn oder sie selbst niedergegangen war.
Kai hatte viele Jahre die unverhältnismäßig brutalen Züchtigungen des Vaters ertragen, nicht schweigend wie die Mutter, meist weinend und dem Hohn und Spott des Alten zudem ausgesetzt. Dann war er vierzehn geworden, hoch aufgeschossen, hatte nach dem Stimmbruch angefangen, Sport zu machen. Irgendwann hatte der Alte es nicht mehr gewagt, die Hand gegen ihn zu heben. Mit seinem Bierbauch und dem vom Bluthochdruck geröteten Gesicht war er schließlich in den Fünfzigern einer koronaren Verstopfung zum Opfer gefallen, standesgemäß auf seinem Lieblingshochsitz in seinem Revier, in der Rechten noch die geladene Flinte, in der Linken den versilberten Flachmann.
Kai hatte bittere Tränen an seinem Grab geweint, und nur er hatte gewusst, dass er den Jahren nachweinte, in denen er diesen Schinder hatte ertragen müssen. Warum nur hatte seine Pumpe nicht viel früher den Geist aufgegeben?
Die Mutter war wenige Jahre später in einem Sanatorium bei Meran verstorben, dement und bar aller bösen Erinnerungen.
Dann endlich war Kai frei gewesen. Begütert, beruflich erfolgreich, blendend aussehend. Die Münchner Schickeria hatte ihm zu Füßen gelegen, die Frauen waren hinter ihm her wie der Teufel hinter der armen Seele. Er hatte viele erobert, er hatte zweimal geheiratet. Doch er hatte nichts empfunden, keine Freude, keine Liebe, keine Lust. Nur den Wunsch, etwas von den Hieben und Schmerzen weiterzugeben, die der kleine, blasse Knabe im Jagdzimmer der elterlichen Villa empfangen hatte.
»Wie’s drinnen