Jahren, wäre es ihm eine Lust gewesen, es seinem Vater heimzuzahlen, einmal nur einen von dessen glatt polierten Gehstöcken aus Erle oder Rosenholz auf seinem massigen Rücken zu zertrümmern. Doch der Alte war fort. Und die Sammlung seiner Stöcke hatte Kai im offnen Kamin seines Elternhauses zu Asche verbrannt.
Der Unternehmer kehrte an seinen Schreibtisch zurück, um noch einige Telefonate zu führen. Dabei betrachtete er das Foto von Lisa und Torben, das in einem schweren Silberrahmen aus der Zeit des Jugendstils steckte. Lisa, die süße Lisa. Ihr Blick hatte etwas in seinem Herzen berührt. Das war niemals zuvor geschehen. Er wusste nun, dass es Schmerz gewesen war, Verlust und Trauer. Sie hatte ihren ersten Mann sehr früh und plötzlich verloren. Die Tränen hatten einen Schatten auf ihrer Seele hinterlassen, einen Schmerz in ihren Augen, dem er sich spontan verwandt gefühlt hatte. Er hatte sie heiraten müssen, es war ihm einfach ein Bedürfnis gewesen.
Als die hübsche kleine Sekretärin und ihr pflegeleichter Sohn in sein Haus gekommen waren, da hatte er tief im Herzen in beinahe naiver Inbrunst darauf gewartet, dass sich etwas ändern würde. Dass er endlich in der Lage sein würde, zu fühlen, zu empfinden, so wie alle anderen. Dass Lisas zarte, schmale Hände den Eispanzer schmelzen würden, der sein Herz umgab.
Aber das heimlich ersehnte Wunder war nicht geschehen. Kai hatte erkennen müssen, dass hinter dem Eispanzer nichts war, nur weiteres Eis, Kälte und Gefühllosigkeit. Sein Herz war lange gestorben, tot und gefühllos lag es wie ein Stein in seiner Brust. Diese Erkenntnis hatte wieder seinen alten Freund geweckt; den Jähzorn.
Vor Jahren, kurz nach seiner ersten Scheidung, hatte er sich in Therapie begeben, um diesen unkontrollierbaren, weißglühenden Kerl endlich aus seinem Kopf zu verbannen. Er hatte über Monate in seiner Kindheit gewühlt, mit beiden Armen tief in Herzblut und Innereien, ohne aber etwas zu erreichen. Der Therapeut war der Meinung gewesen, dass er zu schnell aufgab, doch Kai hatte schließlich keinen Sinn mehr in dieser ergebnislosen Selbstzerfleischung gesehen. Er hatte sich damit abgefunden, dass der andere er war, dass er zu ihm gehörte. Geboren aus dem Schmerz der frühen Kindheit, war er mit seinem Denken und Fühlen untrennbar verwachsen. Es gab keinen Ausweg, keine Heilung. Schnitt man die Geschwulst weg, blieb nichts übrig. Das war die nackte Wahrheit.
Und als auch Lisa versagt hatte, ihn enttäuscht, zu schnell zurückgezuckt war, nachdem sie einen kleinen Blick hinter die Fassade geworfen hatte, da musste er dem alten Freund die Zügel lassen, um wieder klar denken zu können.
Die Angst in Lisas Augen, der Schmerz, die Verzweiflung, sie waren anders als alles zuvor. Sie verschafften ihm keine Befriedigung, kein Gefühl der Macht und Überlegenheit. Sie schmerzten ihn in zunehmendem Maße. Je härter er zuschlug, desto tiefer verletzte er sich selbst. Es gab keinen Ausweg. Er liebte Lisa, aber er würde diese Liebe niemals leben können.
»Wie’s drinnen aussieht …«
Wenig später verließ Kai Wagner seine Firma, um nach Hause zu fahren. Er stoppte seinen dunkelblauen Jaguar Roadster vor einer kleinen Bar am Stachus, um schnell noch zwei Whisky zu kippen. Der Alkohol entspannte ihn ein wenig, brachte das Mühlrad in seinem Kopf zwar nicht zum Stehen, verlangsamte seine Umdrehungen aber zumindest.
Als er dann darauf wartete, dass das übermannshohe Tor aus kunstvoll geschmiedetem Eisen vor seiner Auffahrt lautlos aufschwang, spürte er bereits wieder, wie sein weißglühender Freund sich regte. Ärger stieg in ihm auf. Er biss die Zähne zusammen, gab etwas zu heftig Gas, was der schwere Motor mit einem unangenehm hohen Kreischen kommentierte. Plötzlich sah er seinen Vater in der Auffahrt stehen, im grünen Loden, beide Arme in die Hüften gestemmt, und den Mund zu einem hähmischen, bösen Grinsen verzogen.
Kai gab Gas und musste dann vor den Garagen eine Vollbremsung hinlegen. Er atmete tief durch, doch sein Herz schlug viel zu schnell und der Zorn, der ihn erfüllte, wurde zu einem spitzen, schmerzhaften Kratzen, so als ziehe jemand in seinem Hals eine Nadel hin und her. Er knallte die Autotür zu, dass es sich anhörte wie ein Schuss. Dann stampfte er mit geballten Fäusten ins Haus. Und in diesem Moment hätte man ihn tatsächlich mit seinem Vater verwechseln können.
*
Mark Hansen nahm den Intercity, der am nächsten Abend kurz nach zehn in Ulm abfuhr. Er hatte vor zwei Stunden noch einmal mit seiner Schwester telefoniert und wusste nun, dass sie sich in einer kleinen Pension am Stachus treffen würden. Pension Mecking. Er hatte den Namen und die Adresse in sein Filoflex geschrieben, um sie ja nicht zu vergessen. Während der Zug durch den Frühlingsabend rauschte, dachte Mark an ein anderes Telefonat, das er noch am Vorabend mit seinem Studienfreund Simon Berger geführt hatte. Simon war erfreut gewesen, von ihm zu hören, sie hatten sich eine ganze Weile nett unterhalten, bis Mark auf den eigentlichen Grund seines Anrufs zu sprechen kam. Er kannte Simon gut genug, um ganz ehrlich zu ihm zu sein, und der hatte sich sehr betroffen gezeigt.
»Klar übernehme ich den Fall«, war seine spontane Reaktion gewesen. »Aber ich dachte, deine Schwester wäre mit diesem KFZ-Fritzen verheiratet, wie war doch gleich sein Name …«
»Rolf Schubert. Nein, der ist vor ein paar Jahren mit dem Motorrad tödlich verunglückt. Lisa ist nach München gezogen, um neu anzufangen. Sie hat zuerst als Sekretärin für Wagner gearbeitet und sich dann in ihn verliebt. Er ist so ein Frauentyp, weißt du, kann jeder den Kopf verdrehen. Es dauert, bis sie hinter seine Fassade sehen können. Und dann ist es meist schon zu spät, um unbeschadet da heraus zu kommen. Für ihn war es bereits die dritte Ehe. Lisa wusste nichts davon, auch nicht, dass er seine beiden ersten Frauen krankenhausreif geprügelt hat, bevor sie die Scheidung einreichten.«
»So ein Schwein. Ich kenne solche Fälle, leider kommt das gar nicht mal selten vor. Und ich kann dir versichern, dass es einem keine wirkliche Befriedigung verschafft, diesen ›Herren‹ ihr Geld abzunehmen. Eine Abfindung ist in einem solchen Fall nichts weiter als ein Trostpflaster.«
»Das klingt, als würdest du sie gerne zusammenschlagen.«
Simon hatte zwar gelacht, doch ein wenig Befangenheit hatte darin durchaus mitgeschwungen. Mark konnte ihn verstehen. Und er fand es gut, dass der Freund sich emotional nicht abkapselte, sondern Mitleid mit seinen Klientinnen zeigte. Das machte ihn vermutlich zu einem guten Anwalt und zu einem sympathischen Menschen. Was Lisas Scheidung betraf, erschien dem jungen Ingenieur also alles in trockenen Tüchern. Simon würde den Fall übernehmen, und schon bald war Kai Wagner für Lisa nur noch eine schlechte Erinnerung …
Die Fahrt nach München verlief entspannt. Kurz nach elf Uhr abends kam der junge Ingenieur am Münchner Hauptbahnhof an. Immer wenn er hierher reiste, erinnerte ihn das an seine Studienzeit. Es waren angenehme Erinnerungen. Mark kaufte sich an einem Kiosk noch eine Zeitung und strebte dann zum Ausgang. Er wollte ein Taxi zur Pension Mecking nehmen, wo er bereits vorbestellt hatte. Schließlich durfte er nichts dem Zufall überlassen, das war nun wichtiger denn je.
Ganz in Gedanken versunken passierte er die langen Wände mit den Schließfächern und sah bereits den Ausgang vor sich, als er unvermittelt Schritte direkt hinter sich hörte. Da erst wurde ihm bewusst, dass um diese Zeit hier nicht mehr viel Betrieb herrschte. Obwohl alles hell erleuchtet war, man sich sicher fühlte, war der große Komplex doch fast menschenleer. Die wenigen Mitreisenden, die mit ihm zusammen ausgestiegen waren, hatten sich rasch verlaufen. Mark stoppte und drehte sich irritiert herum. Unvermittelt sah er sich einer Gestalt gegenüber, die sehr nah vor ihm stand. Er sah ein schmutziges, dunkelgraues Hoody, dessen Kapuze tief in die Stirn gezogen worden war. Ausgeleierte Jogginghosen und auffällige Sneaker, orange und gelb abgesetzt mit einer dicken, weißen Sohle. Er roch ein seltsames Gemisch aus Alkohol, altem Schweiß und noch etwas, das er nicht näher bestimmen konnte. Der Kerl blies ihm seine Fahne ins Gesicht, öffnete den Mund, in dem einige Zähne fehlten, und bellte: »Geld her, Alter!« Dann machte er noch einen Schritt auf Mark zu, der sah, dass der andere etwas in der Hand hielt, das er aber nicht genau erkennen konnte. Es war länglich, hatte die Farbe von Eisen und eine stumpfe Spitze. Der Angreifer hielt es Mark unters Kinn und wiederholte seine Forderung.
Der junge Ingenieur ließ sich nicht so leicht einschüchtern. Er war kein ängstlicher Mensch und konnte sich verteidigen. »Verschwinde!«, war alles, was er erwiderte, dann wandte er sich zum Gehen. Doch der Angreifer war nicht allein gekommen.
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