Helen Perkins

Chefarzt Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman


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vom Fenster ab, trat neben den Küchentisch, an dem der Junge eben seine Müslischüssel gelehrt hatte, wuschelte ihm die blonden Locken und sagte mit erzwungener Fröhlichkeit: »Schön, dann zieh deine Jacke an, wir müssen allmählich los.«

      Elfriede Kramer betrat die Küche, die beiden Frauen tauschten einen einvernehmlichen Blick. Die rundliche Mittfünfzigerin besaß ein mütterlich mitfühlendes Herz. Sie hatte mit Kai Wagners beiden ersten Frauen gelitten, doch für Lisa empfand sie beinahe wie für ihre eigene Tochter. Und der kleine Bub war ihr ganz fest ans Herz gewachsen.

      Die Haushälterin stellte das Frühstücksgeschirr aus dem Esszimmer ab, wo Kai Wagner stets allein aß, dann strich sie Lisa mit einem aufmunternden Lächeln über den Arm.

      »Das wird schon. Denken Sie daran, Ihren Bruder anzurufen. Er müsste längst wieder in Ulm sein.« Sie schaute die junge Frau ernst an. »Sie dürfen keine Zeit mehr verlieren, Lisa.«

      »Ja, ich weiß«, murmelte diese mit brüchiger Stimme.

      Torben wartete bereits gestiefelt und gespornt in der weitläufigen Diele. Lisa zog ihren Mantel über und folgte dem Buben, der es nun eilig hatte. Torben ging gern in die Schule, er hatte viele Freunde und lernte leicht. Alles hätte so schön sein können, wenn … Ja, wenn sie sich nicht in Kai Wagner verliebt hätte und seine Frau geworden wäre.

      Lisa nahm ihren Sohn an die Hand, sie verließen das Haus, spazierten durch die ruhige Allee. Die hohen Bäume waren noch kahl, die breiten Stämme feucht vom Nacht­regen. Doch die Knospen schwollen jeden Tag ein wenig mehr, und erste Meisen hüpften zwitschernd in den Ästen herum.

      »Mama, guck mal, da vorne sind Nils und Lucy! Darf ich mit denen gehen? Sie sind in meiner Klasse, weißt du?«

      »Ja, ich weiß, lauf nur«, sagte sie lächelnd.

      Torben strahlte sie mit seiner Zahnlücke an, die sie immer wieder daran erinnerte, dass er bald die letzten Milchzähne verloren hatte. Ein weiterer Schritt ins Leben, weg von der Zeit an Mamas Rockzipfel, voller Neugierde auf das, was hinter dem Horizont der frühen Kindheit wartete und lockte.

      »Bis heute Mittag, Mama!« Weg war, wuselte auf seinen noch kurzen Beinen zu den beiden anderen ABC-Schützen, die lachend und knuffend Richtung Schultor stiefelten. Unbeschwerte Kindheit. Was für ein Hohn. Bitterkeit stieg in Lisa auf. Sie war nun dafür verantwortlich, dass er wieder so wurde und blieb. Torben hatte die Ohrfeige klaglos weggesteckt, er war ein robustes Kind, das nicht so leicht erschrak. Doch das, was am Vortag geschehen war, durfte sich nicht wiederholen. Nie mehr.

      Die junge Frau hatte die Grundschule erreicht, es klingelte eben zur ersten Stunde. Lisa blieb vor dem großen, geöffneten Tor stehen, schaute zu, wie die Kinder schreiend und lachend ins Gebäude strömten. Das Trampeln ungezählter Füße, das leiser wurde und schließlich verstummte. Dann senkte sich Stille über den Platz. Im nahen Park sang ein Buchfink sein Frühlingslied.

      Mit einem leisen Seufzen kehrte Lisa nach Hause zurück.

      Elfriede Kramer war damit beschäftigt, das Mittagessen vorzubereiten. Lisa setzte sich an den großen Küchentisch und begann, Kartoffeln zu schälen. »Das sollen Sie doch nicht tun«, mahnte die Haushälterin nachsichtig. »Rufen Sie lieber Ihren Bruder an.«

      »Ich weiß nicht, ob das richtig ist.«

      »Aber, Lisa, Sie brauchen Hilfe. Mehr, als ich Ihnen bieten kann. Sie brauchen jemanden, dem Sie ganz vertrauen können.«

      »Ja, ich weiß.« Sie schloss die Augen, denn sie spürte nun Tränen in sich aufsteigen. Aber sie wollte nicht weinen, nicht mehr. Sie hatte viel zu viele Tränen vergossen. »Ich habe nur Angst, dass ich Mark auch in Gefahr bringe. Kai mag meinen Bruder nicht, das wissen Sie. Und wenn er mir nun hilft …«

      »Was wollen Sie sonst tun?« Elfriede Kramer blieb sachlich, auch wenn sie wusste, dass es die junge Frau große Überwindung kosten würde, ihren geliebten Bruder in diese unglückliche Geschichte hineinzuziehen. Aber es musste sein. Lisa musste überzeugt werden. Nur dann konnte dieses Drama noch einen halbwegs guten Ausgang nehmen.

      »Ich weiß nicht …« Sie atmete tief durch und nickte. »Ja, Sie haben vermutlich recht. Es gibt keinen anderen Weg. Ich werde wieder nach Ulm ziehen und die Scheidung einreichen.«

      »Eine weise Entscheidung. Sie brauchen dabei aber Hilfe«, erinnerte die Haushälterin sie noch einmal eindringlich. »Jemanden, der Sie schützt, wenn Ihr Mann herausfindet, wo Sie sind. Jemanden, der Ihnen nach der Trennung beisteht.«

      Lisa erhob sich mit einem Seufzen. »Ich rufe Mark an.«

      Elfriede Kramer nickte und schaute ihr bekümmert hinterher. Es würde schwer werden, sie fort zu lassen. Das Haus würde dann wieder leer und trostlos sein. Doch es gab keinen anderen Weg.

      *

      Mark Hansen saß an seinem Schreibtisch in seiner geräumigen Wohnung mit Blick auf das Ulmer Münster und war damit beschäftigt, seine Unterlagen zu ordnen. Er war am Vortag aus Nairobi zurückgekehrt und litt noch unter dem Jetlag. Er konnte nicht schlafen, musste erst mal mit der Klimaumstellung zurecht kommen. Das beste Rezept war für ihn in einer solchen Situation, seinen Schreibtisch aufzuräumen. Er war zwei Monate in Kenia gewesen und hatte nun eine Woche Urlaub. Die brauchte er nach einem solchen Projekt erfahrungsgemäß, um wieder fit zu werden und seinen Bürojob auszufüllen, bis sein Boss mit einem neuen Projekt aufkreuzte. Er hielt große Stücke auf Mark, der ganz in seinem Beruf aufging und schon viel geleistet hatte.

      Projekte in Afrika, Asien und Europa wechselten sich für die Hochtief Schuhmann ab. Mark hatte quasi auf allen Kontinenten seine baulichen Spuren hinterlassen. Er war auf Dämme, Brücken und maritime Bauwerke spezialisiert und liebte seine Tätigkeit.

      Sein Privatleben litt unter seinem beruflichen Engagement. Er betrachtete Lisa und Torben als seine Familie. Eine eigene zu gründen, das wollte er schon, aber dafür hatten ihm bislang schlicht Zeit und Gelegenheit gefehlt. Er war nicht der Typ, der gern in Bars ging oder zu gesellschaftlichen Anlässen. Dating-Plattformen wie Tinder waren ihm fremd und peinlich. Wenn er nach einem langen Auslandsaufenthalt heimkam, rief er Lisa an. Ihre Stimme zu hören, ihr Lachen, das bedeutete für ihn Heimat.

      Als das Telefon sich nun meldete, lächelte der junge Mann mit dem gut geschnittenen Gesicht und den erstaunlich blauen Augen.

      »Lisa, ich habe gerade an dich gedacht. Wie geht’s euch?«

      Eine kurze Pause entstand, die bereits nicht Gutes verhieß. Dann die Stimme seiner Schwester, sehr bemüht, ruhig und gefasst zu klingen. Doch er hörte die unterdrückten Tränen darin und machte sich sofort Sorgen. »Nicht gut. Es hat sich nichts geändert seit unserem letzten Gespräch, Mark. Es ist … eher noch schlimmer geworden. Viel schlimmer.« Sie verstummte, als ihre Stimme kippte.

      Der junge Mann schwieg einen Moment, dann bat er behutsam: »Erzähl mir, was passiert ist. Erzähl mir alles, bitte.«

      Lisa brauchte eine Weile, um das zu tun. Immer wieder musste sie Pausen einlegen, weil die Tränen sich nicht länger zurückhalten ließen, weil die Verzweiflung sie so massiv überwältigte, dass ihr einfach die Worte fehlten, sie ihr Leid nicht mehr ausdrücken konnte. Mark kannte das bereits.

      Der junge Mann litt mit seiner Schwester. Und er spürte Zorn und Empörung, wenn er an seinen Schwager dachte. Diesen eingebildeten Schnösel, der ihn wie einen Bittsteller behandelt hatte, der sich ihm gegenüber stets hochnäsig und gönnerhaft gab. Wie hätte es ihm wohl gefallen zu wissen, dass Lisas Bruder über ihn Bescheid wusste, sein kleines, dreckiges Geheimnis kannte? Seine Schwäche, seine Minderwertigkeitsgefühle, die er mit Schreien und Schlagen zu kompensieren suchte? Gerne hätte Mark ihm all das einmal ins Gesicht gesagt. Doch es ging hier nicht um seinen gekränkten Stolz oder eine persönliche Abneigung, sondern nur um Lisa, darum, ihr Leben endlich wieder in Ordnung zu bringen.

      Schließlich hatte sie ihre Schilderung beendet und war erschöpft verstummt. Mark lauschte in den Hörer, auf das flache, gequälten Atmen seiner Schwester, aus dem nur Angst und kalte Verzweiflung sprachen. Seine Hand krampfte sich um das Telefon, er fühlte sich hilflos, wie stets, wenn