ihm geschickt aus und rannte dann, so schnell sie konnte zur Treppe. Sie hörte Kai hinter sich keuchen und fluchen, und sie wusste, dass dies ihre letzte Chance war, seinem Irrsinn zu entkommen. Sie musste es nur schaffen, die Anmeldung zu erreichen. Kai hatte eine panische Angst, vor anderen bloß gestellt zu werden. Er würde ihr nichts tun, wenn es Zeugen gab. Nur noch ein kurzer Weg, nur noch wenige Schritte …
Lisa hatte den Treppenabsatz erreicht, als sich ihr rechter Fuß in dem Läufer verhedderte. Sie wollte ihn hektisch heraus ziehen, strauchelte bei dem Versuch und verlor das Gleichgewicht. Im nächsten Augenblick fiel sie, sah die Treppe rasend schnell auf sich zukommen. Mehrere harte Schläge trafen sie, als sie den Boden berührte, durch ihren Schwung weiter nach unten geschleudert wurde, bis an den Fuß der Treppe.
Dort blieb Lisa wie leblos liegen. Torben stand am oberen Treppenabsatz, bleich wie die Wand, reglos, mit unnatürlich geweiteten Augen starrte er auf seine Mutter. Kai Wagner hatte sich bereits abgewandt, und im nächsten Moment, noch bevor jemand Lisa entdecken konnte, die Pension Mecking verlassen.
*
»Erkennen Sie es wieder?« Kommissar Müller hielt Mark Hansen ein reichlich ramponiertes Smartphone unter die Nase. »Ein Kollege von der Drogenfahndung hat es heute einen Junky abgenommen. Sehen Sie die Initialen auf der Hülle? MH. Könnte Ihres sein, oder?«
Der junge Ingenieur betrachtete das flache Telefon von allen Seiten, dann schaltete er es ein und stutzte. »Es ist entsperrt, das geht doch eigentlich nur mit dem Code.«
»Es wurde geknackt, von einem Hacker. Ihre persönlichen Daten sind erhalten, aber Ihr Guthaben ist abtelefoniert worden.«
Mark suchte eine Weile in verschiedenen Dateien, bis er auf den Namen seiner Schwester stieß. Er starrte ratlos auf die daneben stehende Nummer und Adresse. Beides sagte ihm nichts.
Amelie Gruber wechselte einen fragenden Blick mit Dr. Norden, der Kommissar Müller zu dieser ersten Vernehmung begleitet hatte. Der Chefarzt der Behnisch-Klinik wollte verhindern, dass der Polizist seinem Patienten zuviel zumutete. Dr. Gruber hatte ihn auf dem Laufenden gehalten, sodass er genau über den Zustand von Mark Hansen informiert war. Dieser hatte zwar in der Zwischenzeit einen Großteil seiner Erinnerungen wieder erlangt. Aber noch immer klafften zwei größere Lücken in seinem Gedächtnis. Zum einen konnte er sich nach wie vor nicht an den Überfall erinnern. Zum anderen war und blieb der Grund seiner Münchenreise ihm auch weiterhin suspekt.
Kommissar Müller musterte den jungen Ingenieur ungeduldig.
»Ja, es gehört mir«, bestätigte der schließlich zögernd.
»Dann haben Sie wohl auch den Grund Ihrer Reise darin notiert«, schloss der Beamte. »Ein Termin, eine private Verabredung vielleicht?«
Mark schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe ein Notizbuch, darin schreibe ich alles auf, ein Filoflex.«
»Das habe ich schon lange nicht mehr gehört«, wunderte der Kommissar sich. »Ein bisschen altmodisch, oder?«
Dr. Norden hob leicht irritiert die Augenbrauen und warf ein: »Ich benutze das auch, schon seit meiner Studienzeit. Es ist kompakt und praktisch. Warum also wechseln?«
»Wie Sie meinen«, brummte der Polizist und hielt eine Plastiktüte auf. »Bitte da hinein mit dem Telefon, es muss noch zur Untersuchung ins Labor. Dann kriegen Sie es zurück.« Er zögerte kurz. »Und was den Überfall betrifft …«
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass mein Patient sich noch nicht daran erinnert«, warf Dr. Gruber ärgerlich ein. »Sie müssen warten, bis sein Gedächtnis die Lücken geschlossen hat.«
»Ja, aber wie lange? Wir brauchen eine Beschreibung der Täter, sonst können wir nicht arbeiten.«
»Na schön, wenn Sie mir einen Zaubertrick verraten, wie ich sein Gedächtnis zurückholen kann …«, murmelte Amelie Gruber, ärgerlich über so wenig Einfühlungsvermögen.
»Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn sich etwas ändert«, versprach Dr. Norden, woraufhin sich der Beamte kurz angebunden verabschiedete.
»Sie hätten ihn nicht so anfahren sollen, Frau Kollegin. Er tut ja auch nur seine Arbeit.«
»Ja, ich weiß.« Dr. Gruber hob mit einem Seufzen die Schultern. »Es nervt nur, wenn manche Leute von uns Wunder erwarten und dann beleidigt sind, weil das nicht funktioniert.«
»Sie leisten gute Arbeit«, lobte Dr. Norden sie.
»Nicht gut genug. Aber leider sind auch der Medizin Grenzen gesetzt. Manche Dinge gehen eben nur mit Geduld.«
»Ein rares Gut in unserer schnelllebigen Zeit. Halten Sie mich bitte weiter auf dem Laufenden.«
Nachdem der Chefarzt gegangen war, sagte Mark: »Sie sollten sich nicht ärgern, es läuft doch. Bald bin ich wieder gesund. Und das habe ich nur Ihnen zu verdanken.«
»Mir und meinen Medikamenten«, scherzte Amelie spröde.
»Wissen Sie …« Der junge Mann verstummte plötzlich, denn unvermittelt schien die Umgebung zurück zu treten, zu verschwimmen. Er sah etwas vor seinem geistigen Auge, womit er zunächst nichts anzufangen wusste. Es war eine prächtige Villa, umgeben von einem parkähnlichen Grundstück. Ein Mann, eine Frau und ein Kind standen davor und unterhielten sich. Als Mark genauer hinsehen wollte, um festzustellen, ob er eine der Personen kannte, war das Bild verschwunden, und er blickte in das fragende Gesicht von Dr. Gruber.
»Haben Sie sich an etwas erinnert?«, hörte er sie die Frage stellen, die ihm mittlerweile so vertraut geworden war wie ihr hübsches Gesicht mit den tiefblauen Augen.
»Ich glaube, ja. Ich habe ein Haus gesehen, Menschen, die davor standen. Einen großen Garten. Aber ich habe keine Ahnung, wer oder wo das sein könnte …« Er schlug sich mit der flachen Hand entnervt gegen die Stirn. »Warum funktioniert mein Kopf denn nicht endlich wieder so, wie er soll?«
»Nicht.«
Amelie nahm seine Hand und hielt sie fest.
Für eine Weile schauten sie einander in die Augen, versanken gleichsam im Blick des anderen. Dann zog die junge Ärztin ihre Hand zurück und senkte verlegen die Lider.
Mark lächelte ihr ein wenig zu. »Sie sind sehr geduldig. Ich fürchte, diese Eigenschaft geht mir ab.«
Da erwiderte sie sein Lächeln weich und versicherte ihm: »Sie werden es lernen, Mark Hansen. Sie sind doch ein heller Kopf.«
*
»Ist sie stabil?« Dr. Erik Berger trat an den Geräteturm neben der Behandlungsliege, um die Werte der Notfallpatientin zu checken, die vor gut einer Stunde in die Behnisch-Klinik eingeliefert worden war. Angeblich war sie eine Treppe herunter gefallen. Das war eine schon klassisch zu nennende Umschreibung für einen Sturz im Rauschzustand, eine Prügelei oder Misshandlung. Für Dr. Berger nur noch zu toppen durch ›Bin gegen eine Tür gelaufen‹, die Nummer Eins auf seiner persönlichen Zynismusliste. Doch bei Lisa Wagner schien alles seine Richtigkeit zu haben. Sie war gestürzt, hatte sich eine schwere Gehirnerschütterung zugezogen und zwei Rippen gebrochen. Knochenfragmente hatten das periphere Lungengewebe verletzt. Sie musste dringend operiert werden, doch ihr Zustand war einfach nicht stabil geworden, so sehr der Notfallmediziner sich auch um sie bemüht hatte. Nun endlich stabilisierte sie sich, wenn auch auf niedrigem Niveau.
»Geben Sie oben grünes Licht, Schwester Anna. Wer hat Dienst?«
»Frau Dr. Rohde, aber denken Sie nicht …«
Dr. Bergers eisblaue Augen lösten sich von den Werten und musterten die Pflegerin knapp. »Was?«
»Ach, nichts.« Sie seufzte. »Da war ein Kind bei ihr.«
»Und? Was geht mich das an? Kümmern Sie sich darum, dass die Patientin auf die Chirurgie kommt.« Damit wandte er sich ab und fegte ins nebenliegende Behandlungszimmer, wo ein weiterer Patient auf ihn wartete.
Schwester Anna wies einen Kollegen an, die Verletzte zur Chirurgie zu bringen, dann trat sie an die Anmeldung und fragte Schwester