Wir luden sie ein, um sich selbst ein Bild von unserem Land zu machen. Diese völlig haltlosen Klischees und Vorurteile waren schlechte Ausgangspunkte für die Entwicklung einer wirksamen Politik, was Amerikas Auslandsbeziehungen betraf. Im Namen meiner Regierung stelle ich nun auch ihrer Nachfolgerin Mrs. Clinton frei, uns zu besuchen. Lassen Sie uns nun genauer auf das Wort ›Tyrann‹ eingehen. Was ist ein Tyrann? Ein Mensch, der Macht über einen Staat erlangt hat. Ein Herrscher, der die Interessen einer kleinen Gruppe über jene der Mehrheit stellt. Was dies betrifft, hat Präsident Lukaschenko die Interessen des weißrussischen Volkes über jene der übrigen Nationen der Welt gestellt. Jetzt möchte ich auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ›Tyrann‹ zurückkommen. Im griechischen Altertum waren Tyrannen diejenigen, die es mithilfe der Armen an die Spitze schafften, nachdem sie ihnen Land gegeben und sie aus Knechtschaft oder Sklaverei befreit hatten. Der Ausdruck bezog sich schlicht auf jemanden, der die amtierenden Regenten durch die Unterstützung des Volkes stürzen konnte. Präsident Lukaschenko genießt diese Unterstützung. Staatssekretärin Rice drückte sich unbesonnen aus. Könnte es sein, dass sie selbst nicht ganz verstand, was sie sagte?« Swerow verschränkte seine Arme. Er war sehr zufrieden mit seiner Antwort, vor allem dem Wortspiel.
White blieb ungerührt. »Darf ich wieder? Die Abstimmung von 2007, aus welcher der Präsident als Sieger hervorging, wurde aufgrund mutmaßlicher Manipulation kritisiert.«
Swerow schüttelte empört den Kopf. »Wahlbeobachter waren zugegen und versichern das Gegenteil.«
Er fuhr damit fort, den politischen Weg seiner Regierung zu beschreiben, und verlieh ihrer Hoffnung auf eine ausgedehntere Kooperation mit Europa Ausdruck.
White nickte. Er ließ sich nicht für dumm verkaufen. Die Berichterstattung über die Demonstrationen in Minsk nach der Wahl – gewaltsam aufgelöst durch schwerbewaffnete Beamte der Bereitschaftspolizei – war ihm geläufig.
»Warum beschrieb die Organisation zum Schutz der Pressefreiheit und Menschenrechte von Journalisten Weißrussland dann als eines der zehn ›schlimmsten Länder‹ zur Ausübung dieses Berufs?«
»Auch das beruht auf Unwahrheiten. Halten wir uns die Fakten vor Augen. Seit 1994 hat der Präsident den gesetzlichen Mindestlohn verdoppelt und die Inflation durch staatliche Preiskontrolle eingedämmt. Kann das so schlecht sein?«
»Aber Pressefreiheit, ist die denn nicht wichtig?«
»Freiheit jeglicher Art ist wichtig. Ich sehe es als meine Pflicht an, sie zu bewahren. Der Staatssicherheitsdienst existiert zu ebendiesem Zweck.«
White ließ nicht locker. »Aber warum gibt es dann keine unabhängige Presse oder andere solcher Medieneinrichtungen in Weißrussland?«
Swerow versuchte, sich seinen Verdruss nicht anmerken zu lassen, dass der Journalist das Interview in eine andere Richtung als abgesprochen lenken wollte. Vielleicht hatte er ihn zu vorschnell von jenen Aktivisten ausgenommen, die darauf aus waren, seine Regierung und ihre Leistungen zu diffamieren. Er zwang sich zur Ruhe und beantwortete die Frage: »Wir heißen jedes Medium in Weißrussland willkommen, Sie legen Zeugnis davon ab. Unser Buchverlagswesen dient als weiteres Beispiel dafür. Es floriert, und wir exportieren zahlreiche russischsprachige Bücher in andere GUS-Staaten.«
White schaute kurz auf seine Notizen. Auch diese Reaktion – Ausflüchte – hatte er erwartet. Kein Wort war über die vielen unabhängigen Zeitungen gefallen, die den Betrieb gezwungenermaßen wegen »bürokratischer Unstimmigkeiten«, darunter die Unfähigkeit, regelmäßige Veröffentlichungstermine wahrzunehmen, einstellen mussten. Er bemühte eine andere Herangehensweise. »Stimmt es nicht, dass das Problem in Weißrussland …«
»Problem!« Swerow verlor allmählich seine Contenance.
»Würden Sie mich ausreden lassen? Das ›Problem‹ besteht nicht in offizieller Zensur, die Ihre Staatsverfassung explizit untersagt, sondern in den vielen gesetzlichen Mitteln zur Beschneidung der Meinungsfreiheit und Tilgung von innerem Widerstand, habe ich recht?«
Swerow fixierte den Journalisten, was dem Kameramann nicht entging. »Welche sollen das sein?«
»Verbote, Weißrussland international ›an den Pranger zu stellen‹ und ›den Präsidenten zu beleidigen‹. Dies gilt als kriminell und wird mit zwei beziehungsweise fünf Jahren Freiheitsentzug geahndet.«
»Ja, das ist richtig«, bestätigte der KGB-Leiter. »Diese Gesetze schützen das Ansehen und den guten Ruf unseres Landes.«
White wollte wieder einlenken. »Aber …«
Swerow würgte ihn ab. »Jetzt lassen Sie mich ausreden. Ich möchte die britische Gesetzgebung zitieren, Ihre eigene und den Artikel über ›Anstiftung zum Rassenhass‹. Er verbietet ›vorsätzliches Aufstacheln zum Hass gegen Angehörige einer Rasse durch Verbreitung von rassistischem Gedankengut im Volk oder öffentliche Hetzreden, rassistische Webseiten sowie aufwieglerische Gerüchte über Einzelpersonen oder Gruppen bestimmter Ethnien, um Rassendiskriminierung zu schüren‹.«
Er machte eine Pause, in der er sich etwas darauf einbildete, die Zeilen Wort für Wort verinnerlicht zu haben. »Ebendies verhindern auch unsere Gesetze. Gezielte Verbreitung von Hass auf Weißrussland und sein Oberhaupt.«
»Aber diese Gesetze werden sehr frei ausgelegt. Nehmen wir zum Beispiel den Fall von Mikolai Markewitsch, dem Chefredakteur der Zeitung ›Den‹. Er wurde 2002 zu anderthalb Jahren Zwangsarbeit verurteilt, weil er Anstoß an Präsident Lukaschenko genommen hatte …«
Swerow beugte sich im Sitzen nach vorne. »Unsere Gesetzgebung gibt vor, dass ich mich aus Gründen der nationalen Sicherheit nicht zu einzelnen Fällen äußern darf.«
»Aber sie möchten doch bestimmt hören, was Mr. Markewitsch selbst über die Angelegenheit zu sagen hatte, oder?«
»Ich denke nicht, dass Ihre Zuschauer die Lästerei eines verurteilten Straftäters hören wollen.«
Der Geheimdienstleiter war drauf und dran, das Interview abzubrechen, fürchtete sich aber davor, was der Präsident davon halten würde. Er hatte einen guten Start hingelegt und einige überzeugende Punkte hervorgebracht, doch nun galt es, dafür zu sorgen, dass es in gleicher Weise weiterging. White würde ihn weder klein noch schwach dastehen lassen.
Der Brite schürzte seine Lippen, bevor er fortfuhr: »Die EU hat ihre Türen für Sie geschlossen. Erkennen Sie nicht, dass Sie der einsame Wolf in Europa sind?«
»Weißrussland macht sich seit 1998 aktiv im Rahmen der Bewegung der blockfreien Staaten stark, die rund einhundertsechzehn Mitglieder zählt. Das ist die Mehrheit der Staaten der Welt. Somit stehen wir nicht allein auf weiter Flur. Das Land verfügt über eine funktionierende Wirtschaft. Wir exportieren über fünfundfünfzig Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes und achtzig Prozent unserer Industrieerzeugnisse. Es gibt nicht viele Länder mit so hohen Ausfuhranteilen auf der Welt. Darum glaube ich ungeachtet meines Wunsches, Weißrussland könne enger mit den EU-Mitgliedern zusammenarbeiten, dass wir keinen großen Vorteil daraus ziehen würden, wenn wir beiträten, sondern vielmehr die Gemeinschaft selbst.«
»Das meinen Sie doch nicht etwa ernst.« White war verblüfft. Diese Antwort bedeutete praktisch, dass Weißrussland der EU den Rücken kehrte.
»Es geht uns gut. Wir pflegen alte Freundschaften, etwa mit Russland oder der Ukraine, neue zu anderen NAM-Staaten und solchen, die wir durchaus gerne besser kennenlernen würden, ob in der Europäischen Union oder den USA. Allerdings sind wir im Augenblick völlig zufrieden und ganz gewiss nicht ›allein‹. Wie sagt man bei Ihnen? Wir haben genug ›Pfeile im Köcher‹.«
»Und der Lebensstandard in Weißrussland, ist er nicht niedriger als im Westen?«
»Woran machen Sie das fest, an der Zahl der aus den USA importierten Güter?« Swerow schüttelte seinen Kopf erneut und lächelte weltklug, wie er glaubte. »Ziehen wir den Bericht der Kinderrechtler Save The Children in Betracht, der einhundertsiebenundsechzig Länder berücksichtigte. Weißrussland bietet demzufolge unter allen früheren Sowjetstaaten den höchsten Lebensstandard für Frauen und Kinder, der noch dazu höher ist als jener der